Berauscht von dem Gefühl, für Großes auserwählt zu sein, wandte sich Nandalee gemeinsam mit den anderen Elfen dem Tor zu, das sich auf geheimnisvolle Weise an einer Wand der weiten Versammlungshalle aufgetan hatte, als die Stimme Nachtatems sie innehalten ließ.
Ihr verweilt noch ein wenig bei uns, Dame Nandalee!
Sie sah den anderen nach. Keiner von ihnen blickte zu ihr zurück. Selbst Gonvalon nicht.
Dies ist die Einsamkeit der Anführer, meine Dame. Nandalee spürte die Melancholie Nachtatems, und sie konnte nur ahnen, wie viel Ungesagtes hinter diesen Worten lag.
Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir Euch erwählten, Dame Nandalee. Nun war es wieder der Goldene, der zu ihr sprach. Wir haben Eurer aller Zukünfte ergründet. Sie sind mannigfaltig. Voller Ruhm und bei manchen auch voller Abgründe. Für jeden von Euch haben wir an dem Ort, an den wir Euch schicken werden, mindestens eine Möglichkeit zu sterben gesehen. Für jeden … außer für Euch. Vielleicht haben wir die möglichen Zukünfte nicht tief genug ergründet, doch kamen wir überein, dass nur Ihr jenes Kleinod tragen sollt, um das sich alles drehen wird. Tretet erneut in die Mitte der Höhle, verehrte Dame!
Nachtatem sprach ein Wort der Macht, wie nur eine Drachenzunge es zu formen vermag, und als Nandalee vorwärtsging, spürte sie den Boden unter ihren Füßen vibrieren. Das Geräusch von Stein, der über Stein schleift, füllte die weite Höhle, doch war nichts zu sehen, was diesen Lärm hervorrufen mochte.
Die Elfe ahnte, dass sie auf die Probe gestellt wurde, doch wusste sie nicht, auf welche Weise. Die Blicke der Himmelsschlangen lasteten auf ihr. Kurz vor dem Mittelpunkt der Halle blieb sie unvermittelt stehen. Dieses Spiel würde sie nicht mitmachen!
Augenblicklich trat eine absolute Stille ein.
Sie ahnte, dass die Drachen ihre Gedanken tauschten. Es lag eine Spannung in der Luft wie an einem heißen Spätsommernachmittag, kurz bevor ein Gewitter losbrach.
Bravo, Dame Nandalee. Eure Intuition wird nur noch von Eurem Hang zur Rebellion übertroffen. Streckt einmal vorsichtig Euren Fuß vor! Die Stimme des Goldenen traf sie wie ein Peitschenhieb. Mochten seine Worte formal auch freundlich sein, die Gefühle, die sie begleiteten, waren es nicht.
Sie sah zu Nachtatem und glaubte, Zustimmung in seinen Augen zu lesen. Ganz behutsam tastete sie sich mit dem linken Fuß vor und fuhr augenblicklich erschrocken zurück. Dort, wo ihre Augen ihr festen Boden vorgaukelten, war ein Abgrund.
Ganz recht, Dame Nandalee, dort klafft ein fast bodenloser Spalt, aus dem sich eine Säule erhebt, die ein kostbares Kleinod trägt. Und dieses Kleinod sollt Ihr für uns verwahren. Ihr müsst nur den Arm ausstrecken und es an Euch nehmen.
Sie vertraute dem Goldenen nicht. Nandalee ließ den Bogen von ihrer Schulter gleiten und schwang ihn vor sich über den unsichtbaren Abgrund. Erst ein ganzes Stück links von ihr schlug das Eibenholz auf Stein. Hätte sie sich einfach vorgebeugt, sie hätte das Gleichgewicht verloren und wäre in den Abgrund gestürzt.
Das genügt, Brüder! Sie mag jung sein und unerfahren, doch ist sie nicht naiv! Sie wird die anderen führen können und ihre Zweifel und ihren Widerstand überwinden. Ich vertraue ihr.
Enttäuscht nahm Nandalee zur Kenntnis, dass es nicht Nachtatem war, der gesprochen hatte. Der Redner unter den Drachen gab sich ihr nicht zu erkennen, obwohl die Elfe sich sicher war, dass seine Brüder ganz genau wussten, wer gesprochen hatte.
Der Blendzauber verflog von einem Augenblick zum anderen. Deutlich sah sie nun den Abgrund und die daraus aufragende Säule. Ohne abzuwarten, ob sie noch ein weiteres Mal aufgefordert wurde, trat sie ein wenig zur Seite und griff nach dem Amulett, das auf dem marmornen Kapitell lag. Es war aus grau-schwarzem Metall und hing von einem schlichten, dunklen Lederriemen, der abgewetzt und lange getragen aussah. »Blei«, sagte sie halblaut. Eine dünne Tafel, die um etwas gefaltet war. Vielleicht ein kleiner Stein. Buchstaben und seltsame Symbole waren in das Blei geritzt. Nur schwer zu erkennen, denn das Metall war sehr dunkel und die Ritzzeichen vom langen Tragen des Amuletts fast abgerieben. Sie kniff die Augen zusammen. Sie kannte diese Schriftzeichen. In langen Stunden hatte sie sich in der Weißen Halle mit diesem Alphabet abgemüht. Sie waren Luwisch, und nun wusste sie, was in das Blei gegraben stand: der Name der Devanthar, die von den Luwiern angebetet wurde, Išta!
Ihr wundert Euch über das Amulett, Dame Nandalee? Der Frühlingsbringer in seinem Schuppenkleid von der Farbe jungen Grases neigte sein Haupt und sah freundlich auf sie hinab. Sie spürte in seinen Gedanken den Nachklang der Trauer, aber auch die Gewissheit, mit dem, was sie nun taten, auf Jahrhunderte Frieden in alle drei Welten tragen zu können. Ihr werdet unter Menschenkinder gehen, Nandalee. Viele von ihnen tragen Amulette wie dieses hier. Sie ritzen Götternamen und Segenssprüche in das Blei, falten es und vergraben es oder tragen es ganz offen als Amulett. Dieser Schmuck wird unter den Menschenkindern kein Aufsehen erregen.
»Sollte uns nicht einer unserer Brüder aus der Blauen Halle begleiten?«, fragte Nandalee. »Viele von ihnen haben etliche Jahre unter Menschen verbracht. Sie kennen ihre Angewohnheiten und Gebräuche. Sie wären ein große Hilfe.«
Sie sind alle tot, Dame Nandalee. Gemeinsam mit dem Himmlischen gestorben. Und jene Meister der Blauen Halle, die in der Welt der Menschen dienen, erreichen wir nicht mehr. Es gilt, das Schlimmste zu befürchten. Ihr werdet also auf Euch allein gestellt sein, und Ihr werdet Zugang zu einem Ort suchen, den noch kein Elf zuvor betreten hat, und von dem es heißt, dass er von schrecklichen Ungeheuern bewacht wird. Es ist ein Ort, über den wir nur Legenden kennen.
Und dann schilderte der Frühlingsbringer Nandalee, wohin sie gehen sollten und was dort zu tun war. Verzweiflung überfiel die Elfe, denn dies war keine Aufgabe für Sterbliche.
Geisterwald
Bidayn blickte zweifelnd zu Nandalee auf. Ihre Freundin hatte ihr gesagt, sie würde spüren, wann der rechte Augenblick gekommen sei, den Albenstern zu öffnen, und ihr genau beschrieben, welchen der sieben Pfade sie danach beschreiten sollte. Es war ein ungewöhnlicher Weg, der lange von keinem anderen Albenpfad gekreuzt wurde und der sie in weite Ferne führen würde, fort aus ihrer Heimatwelt. Doch wohin, hatte Nandalee nicht gesagt.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Gonvalon Nandalee flüchtig mit der Hand streifte. Es war eine Geste der Liebe, um sie wissen zu lassen, dass er hinter ihr stand, ganz gleich, was auch geschehen mochte. Die beiden hatten sich verändert. Man sah ihnen ihre Verbundenheit an. Bidayn spürte einen kurzen, scharfen Schmerz. Sie würde niemals solche Liebe erfahren. Welcher Mann wollte schon eine Frau, deren ganzer Leib mit einem Rautenmuster aus Narben bedeckt war.
Sie hatte sich die Wunden zugezogen, als sich die Zaubermacht Nangogs gegen sie gewandt hatte. Seitdem hatte sie alles versucht, die Narben verblassen zu lassen. Doch kein Heilkraut, keine Tinktur und kein Zauber vermochten ihr Stigma auszulöschen. Allein dick aufgetragene Schminke half.
Bidayn seufzte und konzentrierte sich wieder auf den Albenstern. Die Himmelsschlangen hatten sie weit hinaus in die Savanne des Bainne Tyr geschickt. Sie glaubten, ihre Feinde würden leichter auf sie aufmerksam werden, wenn sie eine Reise an einem Ort begannen, der in Verbindung mit den Götterdrachen stand. Und so standen sie nun im ersten Morgenlicht inmitten des weiten Graslandes neben einer weißen Felsnadel, die von Dutzenden flacher Holzschalen umlagert wurde, in der sonst Kobolde ihren Götzen und den Geistern der Savanne Opfergaben darbrachten. Eine halbe Meile entfernt zog eine Gazellenherde vorüber, deren Leittiere wachsam in ihre Richtung spähten. Noch vor dem ersten Morgenlicht hatten sie einen Löwen brüllen hören, doch der Räuber war im hohen Gras verborgen geblieben. Die Raubkatze machte Bidayn keine Sorgen, doch troff ihr kalter Schweiß von den Achseln hinab, wenn sie daran dachte, welche Feinde sie an dem Ort erwarten würden, an den Nandalee sie führen sollte. Die Devanthar! Bidayn erinnerte sich noch gut an die Kreatur mit dem Eberkopf, der sie auf Nangog begegnet war, und daran, wie hilflos sie sich ihm gegenüber gefühlt hatte. Doch dann war Nandalee gekommen. Sie sah erneut zu ihrer Gefährtin auf. Sie hatte sich damals dem Ebermann entgegengestellt. Sie kannte keine Angst.