Plötzlich durchlief ein Kribbeln ihre Hände, die sie auf den Boden gedrückt hielt, dort, wo sich die sieben Albenpfade kreuzten und einen großen Stern bildeten. Etwas veränderte sich im magischen Netz. Das Kribbeln lief ihre Arme hinauf. Sie konnte spüren, dass an vielen Orten gleichzeitig Tore geöffnet wurden. So etwas hatte sie noch nie erlebt.
Jetzt schien auch Lyvianne etwas zu bemerken, obwohl ihre Meisterin ein Stück vom Albenstern entfernt stand. »Was geschieht da?«
»Von überallher kommen Zauberweber. Sie drängen auf die Albenpfade.«
»Greifen die Devanthar erneut an?«, fragte Nodon alarmiert. Der rotgewandete Elf hatte die Hand auf den Schwertgriff gelegt, als erwarte er, dass sich der Albenstern vor ihnen öffnen würde, um Heerscharen von Angreifern auszuspeien. Bidayn vermied es, ihn anzusehen. Er hatte Augen, die ganz und gar schwarz waren. Seine Blicke ließen sie erschaudern.
»Es geschieht in Albenmark«, sagte sie leise, ganz auf das magische Netz konzentriert.
»Das ist das Zeichen für unseren Aufbruch. Öffne das Tor!«, befahl Nandalee.
Bidayn sprach ein Wort der Macht, und unter ihren Händen entwuchsen dem trockenen Savannenboden zwei Schlangen aus gleißend blauem Licht. Sie neigten sich einander zu, und als sich ihre Köpfe berührten, verschmolzen sie zu einem Bogen, der undurchdringliche Finsternis umschloss. Zu ihren Füßen aber zeigte sich ein schmaler, goldener Pfad, der in die Unendlichkeit zu führen schien. Der Weg, auf dem sie in eine andere Welt gelangen würden.
»Folgt mir!« Nandalee ging als Erste. Ohne zu zögern, trat sie auf die magische Brücke, die das Dunkel zwischen den Welten durchmaß. Bidayn bewunderte sie für ihren Mut. Sie selbst ging als Letzte.
Es war nur ein kurzer Weg, der sie schon nach wenigen Herzschlägen inmitten eines nächtlichen Waldes führte. Nach der trockenen Morgenfrische der Savanne war es an diesem Ort beklemmend heiß. Dunstschwaden zogen zwischen den Bäumen und dem weglosen Grün, das sie umgab. Hier fand sich keine Markierung neben dem Albenstern. Allein ein himmelhoher Baum ragte auf. Ein Baum mit einem Stamm, so mächtig wie ein Turm, der alle anderen ringsherum überragte. Speere aus silbernem Licht stachen durch das dichte Laubdach.
»Hier entlang!« Nandalee schien sich ganz sicher zu sein, wo sie waren, obwohl sie sich inmitten eines pfadlosen Dschungels befanden und auch keine Gestirne als Wegweiser zu erkennen waren. Und dennoch, als kenne sie den Weg, zeigte sie an dem mächtigen Baumriesen vorbei.
Bidayn kannte sie lange genug, um zu wissen, dass Nandalee sie eher in die falsche Richtung führen würde, als einzugestehen, dass sie nicht wusste, wo sie sich befanden. Oder wusste sie es? Was hatten die Drachen ihr aufgetragen? Welches Geheimnis war so dunkel, dass es außer ihr niemand erfahren durfte?
Schweigend schritten sie durch den Wald, begleitet nur von den Geräuschen des Dschungels: das leise Knacken der Äste, wenn sich kleines Getier seinen Weg durch das Unterholz bahnte; das stete Plätschern von Wasser, das auch dann nicht verstummte, wenn die immer wieder einsetzenden Schauer abebbten. Zu lang war der Weg der Regentropfen, die über Hunderte Blätter gleitend in die Tiefe tropften. Dazu kam das leise Summen von Mücken, nur manchmal unterbrochen von einem seltsam auf- und abschwellenden Schrei, wie Bidayn ihn noch nie vernommen hatte. Ein brünstiger Affe vielleicht? Torkelnde Schatten glitten zwischen den Baumstämmen dahin. Jagende Fledermäuse. Sie hätten ruhig näher um sie kreisen können, dachte Bidayn. Vielleicht würde das die Mücken vertreiben.
Mit einem Seufzer kämpfte sie sich weiter voran. Der schlammige Boden schien sie bei jedem Schritt halten zu wollen. Es war ein quälender Marsch. Bald schon war ihr schäbiges Wollkleid von Regen und Schweiß durchweicht und scheuerte auf ihrer Haut.
Es war von Menschen gewoben, wie fast alles, was Bidayn und die anderen am Leib trugen. Ihre Waffen hatten sie in aufgerollten Kleiderbündeln verborgen. Jeder von ihnen besaß einen Beutel mit kleinen Goldklümpchen. Sie würden sich als Glücksritter ausgeben, die nach Gold, Elfenbein und Edelsteinen suchten.
Als ihr Weg sie unter einem gestürzten Baumriesen hindurchführte, der von einem Gewirr gesplitterten Astwerks und abgeknickter, kleinerer Stämme getragen wurde, erblickten sie zum ersten Mal ein Stück Himmel über sich. Der gestürzte Riese hatte eine Bresche in die dichte Mauer des Dschungels geschlagen. Sie waren nicht im Dschungel von Zapote, wie Bidayn vermutet hatte. Der Weg, den die Himmelsschlangen bestimmt hatten, hatte sie nach Nangog geführt, und über ihnen standen die blassen Zwillingsmonde der verfluchten Welt, auf der Bidayn ihre Narben empfangen hatte.
In stummer Verzweiflung ballte die Elfe ihre Fäuste. Diese Welt war den Albenkindern verboten! Hier erwartete sie nur der Tod!
Nandalee sah ebenfalls kurz zum Himmel und änderte dann die Marschrichtung. Bidayn war inzwischen froh um jeden der schrecklichen Ausdauerläufe, den sie in der Weißen Halle hatte absolvieren müssen. Ihre Beine waren stark, sie schritt ebenso ausdauernd und unermüdlich durch den Schlick des Dschungels wie ihre Gefährten.
Einmal wurde sie auf einen Schatten im Geäst aufmerksam. Ein Tier, das aussah wie ein halb verhungerter Bär. Es hing kopfunter an einem dicken Ast, spähte zu ihnen hinab und hangelte sich behutsam vorwärts. Auf den ersten Blick wirkte die Kreatur harmlos, bis ein verirrter Lichtstrahl seine Pfoten erkennen ließ, die mit messerlangen Krallen bestückt waren. Nichts auf dieser Welt war ungefährlich. Sie hätte es besser wissen müssen!
Bald hatte Bidayn jegliches Zeitgefühl verloren. Der Marsch schien Stunden zu dauern. Dann, endlich, erreichten sie einen träge dahinströmenden Fluss. Sie folgten seinem Ufer, bis Nodon plötzlich den Arm hob und zur Böschung deutete. Alle verharrten, während der Hüter des Jadegartens niederkniete und etwas aus dem Schlick hob. Er hielt ihnen einen Totenschädel hin. »Dort liegt mehr als ein Dutzend Leichen«, flüsterte er. »Aber ich kann nicht erkennen, woran diese Menschenkinder gestorben sind.«
Lyvianne trat zu ihm, betrachtete die Toten. »Es scheint, als hätten sie hier ihr Nachtlager aufgeschlagen. Da vorne ist ein Aschekreis. Und …« Sie stockte und kniete ebenfalls nieder. »Was ist das?« Sie zog halb verrottetes Leder zur Seite und strich über etwas, das Bidayn nicht genau erkennen konnte.
»Lass es liegen«, befahl Nandalee scharf.
Doch Lyvianne hob ihren Fund hoch. »Das ist der größte Smaragd, den ich je gesehen habe.«
Bidayn schluckte. Ihre Meisterin hielt einen Kristall in Händen, der jenen ähnelte, die sie bei ihrer Reise in der verborgenen Höhle gesehen hatten.
»Nun wissen sie, dass wir hier sind«, sagte Nandalee mit tonloser Stimme. »Aber vielleicht ist das nicht das Schlechteste.«
»Von wem sprichst du?«, fragte Lyvianne mit fast schon provozierender Ruhe.
Bidayn setzte an, ihr zu antworten, als Nandalee einfach nur den Arm ausstreckte und über das Wasser wies. Im Dunst, der über den trüben Fluss glitt, erschien ein grünes Leuchten. Es schien Teil des Nebels zu sein, doch floss es nicht mit ihm, sondern bewegte sich gegen den Wind.
Zischend fuhr Nodons Schwert aus der Scheide. »Dort oben im Dickicht der Uferböschung ist es auch.«