»Lass die Waffe stecken«, rief Nandalee. »Sie wird uns nicht helfen.«
Bidayn zitterten die Knie. Es war ihr peinlich, aber sie schaffte es nicht, es zu unterdrücken. Sie fürchtete die Geister. Allzu gut erinnerte sie sich, was sie mit Nandalee getan hatten.
Nandalee flüsterte Gonvalon etwas zu. Er schüttelte heftig den Kopf, doch sie ignorierte es, drückte seine Hand und trat ans Ufer.
»Kinder Nangogs, ich rufe euch!« Die Laute des Dschungels, die sie die ganze Nacht über begleitet hatten, verstummten.
Weitere Lichter zeigten sich im Nebel über dem Fluss. Sie tanzten umeinander und kamen dabei langsam näher.
Bidayn wich zur Böschung zurück, bis Nodon sie beim Arm packte. »Dort oben sind sie auch. Ich kann sie spüren. Sie kreisen uns ein.«
Und während sie, Nodon, Lyvianne und Gonvalon erstarrten, kniete Nandalee nieder. Sie streckte ihre Arme zur Seite und flehte. »Kommt zu mir, ich erwarte euch.«
Der Tanz der Lichter wurde schneller. Sie flossen auseinander zu weiten, grünen Schlieren, die sich durch den Nebel wanden. Zugleich sickerte Licht aus dem Dickicht über ihnen und kroch um ihre Füße.
Langsam legte Lyvianne den großen Kristall zurück auf den verrotteten Rucksack, zwischen die Gebeine der Toten. Nun bewegten sich auch die Ranken des Dorndickichts und griffen zu ihnen hinab. Überall im Gebüsch ringsum raschelte es.
Als sich eine armdicke Wurzel unmittelbar vor Bidayns Füßen aus dem Uferschlamm schob, sprach Lyvianne ein Wort der Macht. Sofort leckten Flammen über das Wurzelholz.
»Nicht!«, rief Nandalee. »Tu das nicht, oder wir sind alle des Todes. Du weißt nicht, gegen wen du dich auflehnst.«
»Dann sag es mir«, zischte Lyvianne. »Ich werde jedenfalls nicht länger tatenlos zusehen, wie …« Dutzende Wurzelstränge schossen aus der Uferböschung. Schlangengleich wand sich das Holz und griff zuerst nach Lyvianne, dann nach den anderen Elfen.
»Nehmt mich!«, sagte Nandalee ruhig und beugte demütig ihren Kopf. »Nehmt mich, Kinder Nangogs!«
Augenblicklich umfloss sie das grüne Leuchten. Bidayn fröstelte es, und jedes Haar ihres Körpers richtete sich auf. Sie wollte fortlaufen, doch Wurzeln wanden sich um ihre Füße. Noch war sie nicht in Fesseln geschlagen, doch gab es kein Stück Ufer mehr, auf das sie einen Fuß hätte setzen können, ohne die unheimlichen Wurzeln zu berühren. Und sie wollte nicht herausfinden, was bei einer Flucht geschehen mochte. Sie dachte an die toten Köhler und Holzfäller, die sie auf ihrer ersten Reise nach Nangog aufgefunden hatten. Jene waren im Schlaf von Bäumen gemordet worden.
Die tanzenden Lichter umkreisten Nandalee, troffen zähflüssig über ihre Finger, leckten ihre Arme hinauf, umspielten ihre Kehle. Nandalees Augen rollten nach oben, sodass nur noch das Weiße zu sehen war. Und dann kroch das Licht über ihre geöffneten Lippen, um ganz und gar von ihr Besitz zu ergreifen.
Gefangen
Eisiger Wind zerrte an der Mähne des Löwenhäuptigen. Die Arme vor der Brust gekreuzt, stand er hinter den höchsten Zinnen des Gelben Turms und sah auf die ziehenden Wolken hinab. Sein Blick wanderte über die schneebedeckten Gipfel, die in der Ferne zu blauen Schemen verblassten. Ihr Refugium lag hoch an einer grauen Bergflanke. Unerreichbar für Menschen. Ein Turm inmitten der Einsamkeit, fast schon in den Himmel gebaut.
Der Sturmwind blies blasse Schneeschleier von den Gipfeln heran. Der Löwenhäuptige spürte das Prickeln der feinen Eiskristalle, die wie winzige Dornen in seinen Rücken stachen. Die Kälte vermochte ihm nichts anzuhaben. Er dachte an die fernen Tage der Weltenschöpfung zurück. An die Tage, als sie alle noch mit einer Stimme gesprochen hatten, als Harmonie zwischen ihnen herrschte und ihrer aller Wille eins war. So viel Zeit war seitdem vergangen.
Die Devanthar waren auf der höchsten Plattform des Gelben Turms versammelt, doch jeder blickte in eine andere Richtung, hing seinen eigenen Gedanken nach. Von ihrer Gemeinsamkeit war wenig geblieben – nur die Einsicht in die Notwendigkeit, sich gemeinsam jenem Feind zu stellen, den sie gestern unnötig herausgefordert hatten. Jetzt bedauerte es der Löwenhäuptige, sich nicht entschiedener gegen den Angriff auf die Blaue Halle ausgesprochen zu haben. Zumindest, als sie gemerkt hatten, dass unten in den Gewölben eine der Regenbogenschlangen weilte. Sie waren gekommen, um jene Elfen zu vernichten, die als Spitzel nach Daia kamen. Ein durch und durch gerechtfertigtes Ansinnen. Doch indem sie einen der großen Drachen töteten, hatte der Streit eine neue Dimension angenommen. Was sie getan hatten, mochte die Alben aus ihrer seltsamen Lethargie reißen.
Er begriff die Beweggründe der Schöpfer Albenmarks nicht. Sie schienen kein Interesse mehr an ihrem Werk zu haben. Sie hatten geduldet, dass die Devanthar den alten Pakt gebrochen hatten und Nangog besiedelten. Aber würden sie auch die Ermordung eines ihrer Statthalter hinnehmen? Was würde geschehen, wenn ihre unbedachte Tat die schlafenden Götter Albenmarks aufschreckte? Sicher dachten viele seiner Brüder und Schwestern im Augenblick ganz ähnlich.
Der Löwenhäuptige trat an die Brüstung des Turms und blickte auf das Schneegestöber tief unter sich. Irgendwo dort unten am Berghang, mehr als eine Meile entfernt, befand sich der große Albenstern, von dem ein schmaler Saumpfad hinauf zu ihrer einsamen Bergfestung führte. Wer keine Flügel hatte, konnte nur durch den Albenstern zu dem unzugänglichen Tal gelangen, das sie sich als Residenz erschaffen hatten. Sie würden jeden Angreifer lange im Voraus kommen sehen. Hier war es unmöglich, sie zu überraschen, und so blieb ihnen Zeit, sich zu sammeln und die innere Ruhe zu finden, die nötig war, um ihre Kräfte zu vereinen.
Ein Devanthar allein mochte für eine Himmelsschlange leichte Beute sein, aber verbanden sie sich zu einer Einheit, vervielfachten sich ihre Kräfte. Das war die Macht, die aus einem Gedanken eine ganze Welt erschaffen hatte!
Der Löwenhäuptige spürte, wie sich seine Schwester Anatu in ihrem knöchernen Gefängnis regte. Heute schwieg die Verstoßene, deren Wehklagen vom Wind manchmal bis hin zu den Ausläufern der Schwarzen Wüste getragen wurde. Auch sie spürte, dass etwas vorgefallen war. Vielleicht sollten sie ihr verzeihen. So viele Jahrhunderte dauerte nun schon ihre Gefangenschaft.
Der Löwenhäuptige wandte sich von der Brüstung ab und sah zu seiner Schwester Išta hinüber. Sie spürte seinen Blick und wandte sich um. Ihrer Unbesonnenheit hatten sie es zu verdanken, dass sie nun alle Gefangene des Gelben Turms geworden waren, denn nirgendwo anders wären sie so sicher wie hier. Nach dem Tod des Himmlischen hatte Istá sie davon überzeugt, dass die Himmelsschlangen in ihrem blinden Zorn hierherkämen, wenn sie eine Spur zurückließen, die unübersehbar war. Sie hatten sich nur gerade so viel Mühe gegeben, die Fährte ihrer Magie auf den Goldenen Pfaden zu verwischen, dass nicht allzu offensichtlich war, dass sie die großen Drachen hierherlocken wollten.
Der Löwenhäuptige fragte sich, ob Išta diese Krise mit voller Absicht heraufbeschworen hatte. Hatte sie gewusst, dass der Himmlische dort sein würde? War sein Tod vielleicht ihr eigentliches Ziel gewesen?
Ištas Verfehlung, den eigenen Unsterblichen vor den Augen Tausender Menschenkinder enthauptet zu haben, war bedeutungslos in Anbetracht der Probleme, derer sie sich nun zu stellen hatten. Vielleicht würde die Furcht vor der Rache der Alben sie enger zusammenrücken lassen und letzten Endes erwuchs aus Ištas Intrige sogar etwas Gutes. Doch das konnte ganz gewiss nicht ihre eigentliche Intention gewesen sein. Sie war niemand, der Gutes tat – es sei denn sich selbst.
Seine Schwester betrachtete ihn mit selbstgefälligem Lächeln. Sie war sich vollkommen bewusst, dass sie ihren Kopf aus der Schlinge gezogen hatte, denn für innere Fehden war nun nicht der Zeitpunkt. Und daran würde sich gewiss für lange Jahre nichts ändern. Sie hatte einen Götterkrieg heraufbeschworen, um ihre Macht zu retten! Sie sollte es sein, die auf immer in das Gefängnis aus Drachenbein gesperrt wurde.