Der schwarze Pegasus legte die Flügel an und ließ sich wie ein Stein fallen, doch nicht schnell genug. Eine Flammenzunge leckte über seine Flanke, und er wieherte vor Schmerz. Erst dicht über dem Wasser breitete er seine Flügel aus und fing seinen halsbrecherischen Sturz ab. Nandalee konnte seine Gelenke knacken hören. Die Hufe des Hengstes berührten das Wasser, als er mit schweren Flügelschlägen versuchte, wieder an Höhe zu gewinnen.
Der Drache über ihm war nun in der günstigeren Position. Die Elfe sah, wie er auf weit ausgebreiteten Schwingen einen Bogen flog, um dem Pegasus den Weg abzuschneiden.
»So wird es nicht enden«, murmelte Nandalee und hob den Bogen. Der langsame Gleitflug des Drachen machte es ihr leichter. Sie zielte auf das Gelenk, dort, wo die linke Schwinge des Ungeheuers in den Rücken überging. Sie atmete aus und ließ den Pfeil von der Sehne schwirren, ohne ihr Ziel aus den Augen zu lassen.
»Nein«, schrie Gonvalon, sprang auf und griff nach ihrem Bogen. Einen Herzschlag zu spät – der Pfeil fand sein Ziel. Ein Geräusch wie das Schnauben eines riesigen Blasebalgs erklang, als der Drache überrascht einatmete. Seine linke Schwinge knickte ein, aber er fing sich sofort wieder. Der Pfeil war mehr als zur Hälfte ins Fleisch des Drachen gedrungen.
Der Rappe blickte zu Nandalee. Er wippte mit dem Kopf, als wolle er sie grüßen. Dann flog er mit kräftigem Flügelschlag davon. Seine Herde war längst geflohen. Nur die Kadaver der getöteten Tiere blieben zurück.
»Du hast auf einen Drachen geschossen«, zischte Gonvalon. »Bist du noch bei Verstand? Wir werden ihn umbringen müssen, damit er es nicht weitererzählt. Wir sind tot, wenn die Himmelsschlangen davon erfahren.«
Der Rotrücken landete am Ufer des Wasserlochs. Er war keine dreißig Schritt von ihnen entfernt. Große, gelbe Augen musterten sie aus geschlitzten Pupillen. Seine Beute schien er gänzlich vergessen zu haben.
Nandalee sah aus den Augenwinkeln, wie Gonvalon nach dem Schwert griff. Er würde es tun. Er würde für sie, ohne zu zögern, gegen den Drachen kämpfen. So wie er sich dem Immerwinterwurm gestellt hatte.
»Du überlegst, ob wir Beute sind.« Nandalee sprach laut und sehr langsam. Sie stellte sich vor, wie jedes ihrer Worte in die Gedanken des Drachen fand. Sie wusste nicht, wie intelligent Rotrücken waren und ob sie wie die Himmelsschlangen ihre Stimme im Kopf von Elfen ertönen lassen konnten. Sie hoffte einfach, dass er verstand, und während sie sprach, zog sie ohne Hast einen zweiten Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne.
»Ich habe einmal einen Trollprinzen getötet, weil er mir eine Jagd verdorben hat. Er war zehnmal so weit entfernt wie du. Mein Pfeil traf ihn mitten ins Auge und durchbohrte sein Hirn. Er war tot, bevor er begriffen hatte, was ihm geschah. Du hast größere Augen als er … Es wäre nicht klug, mich fressen zu wollen.«
Der Schweif des Drachen glitt unruhig hin und her und zerwühlte das schlammige Ufer.
»Wir beide sind Jäger, du und ich. Aber ich töte nur, um Nahrung zu bekommen oder um mich zu verteidigen.«
Der Drache reckte seinen Kopf auf dem schlangenhaften Hals vor. Sie roch seinen Atem. Das riesige Maul war nur noch sechs Schritt entfernt. Dunkle Blutspritzer schimmerten im letzten Abendlicht rund um seine Schnauze. Jeder einzelne seiner schneeweißen Zähne war so lang wie ihr Unterarm. Überlegte er, sie mit einem Flammenstoß zu töten?
»Geh zurück«, sagte Gonvalon leise. »Er hat sich zu weit vorgewagt. Er ist in Reichweite meines Schwertes. Ich werde ihm die Kehle durchschneiden.«
Nandalee bezweifelte nicht, dass er es schaffen konnte. Aber es war etwas anderes, einen großen Drachen zu verwunden und seinen Stolz zu verletzen oder aber ihn zu töten. Wenn Gonvalon das tat, dann wären sie beide verloren. Alle Drachen Albenmarks würden sie hetzen, und sie dürften nicht länger darauf hoffen, beim Dunklen Schutz und Unterschlupf zu finden.
»Wir gehen jetzt«, sagte Nandalee mit fester Stimme. »Wir werden dir deine Beute nicht streitig machen. Doch wisse, du hast von meinem Fleisch gestohlen. Die Herde der geflügelten Rösser gehört mir«, erklärte sie frech. »Und ich lasse mich nicht bestehlen. Wirst du noch eines von ihnen reißen, wirst du erfahren, was es bedeutet, gejagt zu werden. Ich komme aus Carandamon, weit im Norden, wo die Winterkälte jeden Tag zu einem erbarmungslosen Kampf ums Überleben macht. Und wie mein Land bin auch ich. Erbarmungslos. Ich werde dich erlegen, wenn du noch eines meiner Rösser tötest. Es gibt Wild genug in der Savanne. Du wirst nicht Hunger leiden müssen.«
Ein dunkles Grollen erklang tief aus der Kehle des Drachen. Seine Nüstern weiteten sich. Heißer Atem schlug Nandalee ins Gesicht. Sie hob den Bogen und zog die Sehne bis weit hinter ihr Ohr zurück.
»Selbst wenn deine Flammen mich töten, wird dich der Pfeil noch treffen. Ich brauche nur loszulassen, und mein Zauber wird ihn sein Ziel finden lassen.«
Der Drache schnaubte.
»Du glaubst mir nicht?« Nandalee lächelte ihn herausfordernd an. »Vielleicht lüge ich. Vielleicht aber auch nicht. Wenn du jetzt die falsche Entscheidung triffst, dann war es deine letzte.«
Drohungen beeindrucken mich nicht, erklang eine Stimme in ihren Gedanken. Sie schien nicht zu diesem blutgierigen Geschöpf zu passen. Sie wirkte kultiviert, weise. Ein wenig erinnerte sie Nandalee sogar an den Schwebenden Meister. Doch da waren all die toten Pegasi. Es mussten sieben oder acht sein.
»Warum dieses Massaker? Das war keine Jagd, sondern ein Gemetzel.«
Weil ich es kann.
Diesmal schwang in der Antwort eine Arroganz, wie sie dem Schwebenden Meister fern gewesen war.
Du wirst nun den Pfeil aus meinem Fleisch ziehen, meine Dame.
Nandalee starrte ihn an. Der Rotrücken war von einer so anmaßenden Überheblichkeit, dass er sie faszinierte.
Gonvalon legte ihr die Hand auf den Arm. »Tu es nicht. Du kannst ihm nicht trauen. Sieh dir seine Aura an!«
Ja, ich spreche auch in seinen Gedanken. Folge ruhig seinem Rat.
Nandalee öffnete ihr Verborgenes Auge, um erneut das magische Netzwerk zu sehen, das die Welt durchzog und alles miteinander verband. Sie sah das Rot mühsam unterdrückten Zorns in der Aura des Drachens. Es vermischte sich mit dem Gold der Macht.
»Ich helfe dir, weil es mir so gefällt«, entgegnete die Elfe ruhig. »Und weil ich weiß, dass Gonvalon dich töten wird, wenn du mir etwas zuleide tust. Ich werde den Pfeil herausschneiden müssen, da die Spitze Widerhaken hat. Das wird sehr schmerzhaft werden.«
Komm, und tu es.
»Du hast gesehen, wie er ist«, sagte Gonvalon. In seinem Blick lagen Sorge und Misstrauen. Er diente schon so lange den Drachen. Unterschätzte sie deren Heimtücke? »Geh nicht!«
Nandalee ignorierte die Warnung. Sie nahm den Pfeil von der Sehne und schob ihn in den Köcher zurück. Dann legte sie den Bogen zu Boden und näherte sich dem Rotrücken.
Noch immer peitschte der Schweif des Drachen durch den Uferschlamm. Seine Pupillen hatten sich geweitet, und ihr schimmerndes Schwarz verdrängte fast gänzlich das Gelb der Iris. Nandalee hörte das leise Zischen von Gonvalons Schwert, als es aus der geölten Lederscheide fuhr.
Du bist die Elfe, an der der Dunkle einen Narren gefressen hat. Die Elfe, in deren Gedanken kein Drache lesen kann. Ich habe dich von Ferne beim Kampf um die Tiefe Stadt gesehen.
Nandalee blickte auf die halbverbrannten Kadaver am Wasserloch. »Ich nehme an, du hast das Gemetzel dort genossen.«
Es war zu schnell vorüber. Und Zwerge sind nicht sehr wohlschmeckend. Zu zäh. Zu viele Haare. Es ist unangenehm, wenn einem Fellfetzen zwischen den Zähnen hängen. Elfenfleisch hingegen … Er presste seinen schlangenhaften Leib an den Boden und drehte sich leicht auf die Seite, sodass sie den Pfeil, der dicht neben dem Flügelansatz in seinen Leib gedrungen war, besser erreichen konnte.
Nandalee zog ihr langes Jagdmesser. Sie hatte das Gelenk um weniger als einen Fingerbreit verfehlt. Der Pfeil steckte tief im Muskelfleisch. Sie musste all ihre Kraft aufbieten, um die zähe Schuppenhaut weiter aufzuschneiden. Fast schwarzes Blut troff aus der Wunde. Der Drache zuckte, gab aber keinen Laut von sich. Sein Hals war nach hinten gebogen, der Kopf ruhte auf seinem Rücken. Er beobachtete sie aufmerksam.