»Nun, Bruder, bist du auch enttäuscht, dass die Regenbogenschlangen offensichtlich den Kampf mit uns fürchten?«
»Ich würde eher sagen, sie waren nicht so dumm, in unsere Falle zu tappen. Ja, ich frage mich sogar, ob nicht wir es sind, die sich ausmanövriert haben.«
Išta schnaubte verächtlich. »Wir sind hier unangreifbar.«
»Und wir sind blind für das, was in der Welt geschieht«, entgegnete der Löwenhäuptige. »Wir alle konnten in der Nacht spüren, wie das Goldene Netz vibrierte. Es müssen mehr als hundert Albensterne geöffnet worden sein. Die Kinder der Alben waren überall in dieser Nacht.«
»Fürchtest du etwa Kobolde, Elfen und Kentauren?«, spottete Išta.
»Sie sind die Pfeile. Ich fürchte den Bogenschützen, und mich beunruhigt, nicht zu wissen, auf welches Ziel er angelegt hat.« Der Löwenhäuptige wandte sich ab und trat wieder an die Zinnen. Es brachte nichts, mit Išta zu streiten. Er wusste, dass einige seiner Brüder und Schwestern auf seiner Seite waren. Doch viele folgten auch Išta.
»Was können sie schon ausrichten, Bruder? Unsere Unsterblichen werden gut bewacht.«
Dummes Geschwätz! Er erinnerte sich noch gut daran, wie eine einzelne Elfe den Unsterblichen Aaron von seinem Wolkenschiff in die Tiefe gestürzt hatte. Ein Meuchler, der bereit war, sein eigenes Leben zu opfern, konnte fast alles erreichen. Sollten drei oder vier ihrer Unsterblichen ermordet werden, dann wäre das Gleichgewicht der Mächte zerstört. Bürgerkriege würden ausbrechen, und die Menschenkinder würden den Glauben an ihre Götter verlieren.
»Keiner der silbernen Löwen ist gekommen, Bruder. Gäbe es schlechte Nachrichten, würden sie uns erreichen.«
Der Löwenhäuptige öffnete seinen Blick für die magische Welt, in der kein Schneegestöber seine Sicht trübte, und sah noch einmal hinab zu der Felsterrasse weit unter ihnen, wo sich sieben Albenpfade zu einem großen Stern kreuzten. Išta hatte recht. Die silbernen Löwen würden sie benachrichtigen, wenn einer der Unsterblichen angegriffen wurde.
»Mir behagt es nicht, hier abzuwarten, was unsere Feinde tun werden.«
»Ist Geduld nicht die erste Tugend eines Kriegers?«, spottete Išta. »Bist du vielleicht kein Krieger mehr?«
Ungewollt entstieg ein leises Grollen seiner Kehle. Er durfte sich nicht zu Gewalttätigkeiten hinreißen lassen. Worte mussten genügen. »Wir sitzen in einer belagerten Festung, Schwester. Willst du uns das als einen Sieg verkaufen? Hältst du uns für dumm?«
Sie deutete mit weit ausholender Geste zu den Zinnen. »Siehst du dort draußen einen Feind? Ich nicht.«
»Steht es uns vielleicht frei, den Gelben Turm zu verlassen und zu gehen, wohin wir wollen?«, mischte sich der Ebermann ein. »Allein ist jeder von uns verwundbar. Und wenn eines gewiss ist, dann dass die Himmelsschlangen Jagd auf uns machen werden. Und vielleicht auch die Alben.«
»Es steht uns frei, gemeinsam zu gehen, wohin wir wollen.« Auch Ištas hochmütige Miene vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, wie hohl ihre Worte waren. Schweigen lastete auf den Devanthar.
Der Löwenhäuptige dachte an den Unsterblichen Aaron. So hart hatte sein Mensch dafür gekämpft, vor sie treten zu dürfen und ihnen seine Ideen darzulegen. Was würde er wohl von ihnen halten, wenn er sie jetzt so sehen könnte. Was Aaron in diesem Augenblick wohl tat? Er musste sich verraten fühlen, wenn er sich ihm nach dem blutigen Sieg auf der Ebene von Kush nicht zeigte. Išta hatte den falschen Augenblick für ihren Schlag gegen die Elfen gewählt. Hoffentlich hatten sie am Ende nicht mehr verloren als gewonnen.
»Was drucksen wir hier herum?«, maulte Langarm, der gedrungene Schmied, den manche spöttisch auch den Affen nannten, weil ihm das Haar dicht wie Fell auf dem Leib wuchs. Doch trotz seiner ungeschlachten Gestalt und seines ungehobelten Auftretens vermochte er wahre Wunder in seiner Schmiedewerkstatt zu vollbringen und war so erfindungsreich wie kein anderer unter ihnen. All ihre Waffen waren von ihm erschaffen, ebenso ihre Rüstungen und ihr Schmuck. So duldeten sie seine Ausfälle, denn keiner wollte riskieren, bei ihm in Ungnade zu fallen.
»Sprechen wir doch offen aus, was Išta uns eingebrockt hat. Wir sitzen bis zum Hals in der Scheiße, weil ihr das Schwert locker saß. Und wenn wir jetzt eine falsche Bewegung machen, dann versinken wir ganz und gar in der Kloake, in die sie uns hineingeführt hat.«
»Deine überaus geschliffene Rhetorik ist uns eine willkommene Bereicherung. Wie immer erweitert es den Horizont, dir zu lauschen«, entgegnete Išta kühl. »Doch verschließe dich bitte nicht den einfachen Tatsachen, mit denen wir konfrontiert waren. Die Himmelsschlangen hatten am Hof eines jeden Unsterblichen ihre Elfenspitzel eingeschleust. Warum wohl haben sie uns ausgespäht? Sie wollten uns vernichten! Wir hatten gar keine andere Wahl, als zuzuschlagen. Zu warten hätte bedeutet, dass wir uns ihrer Gnade ausliefern. Wir mussten dieses Spitzelnetz zerschlagen und so unseren Feinden die Augen herausreißen. Und dass wir dabei eine der verfluchten Regenbogenschlangen töten konnten, betrachte ich als großen Sieg.
Gut, sie sind uns nicht in die Falle getappt und in blindem Zorn hierhergefolgt, wo wir unseren Sieg hätten vollkommen machen können. Aber weißt du, was ich glaube? Bei ihnen herrscht heillose Panik. Ihre Elfen flüchten durch das Goldene Netz und suchen nach Löchern, in denen sie sich vor uns verkriechen können.«
Langarm rollte mit den Augen. »Ich beuge mein Haupt vor deinem Talent, Scheiße schönzureden, Schwester Išta. An eine Panik unter unseren Feinden glaube ich nicht. Weißt du, was ich täte, wenn ich eine Pfeilspitze verstecken wollte? Ich würde hundert gleiche Pfeilspitzen schmieden und die eine, die nicht gefunden werden darf, darunterlegen.«
»Was interessieren uns jetzt Pfeilspitzen, Langarm?«, fragte Išta von oben herab. »Bleib lieber bei Esse und Amboss. Mir scheint, du konntest dem, worüber wir gerade gesprochen haben, nicht ganz folgen.«
»Ich wollte lediglich im Bild bleiben, das unser löwenhäuptiger Bruder geprägt hat. Auch ich glaube, dass unsere Feinde in der letzten Nacht hundert Pfeile abgeschossen haben, um uns von dem einen abzulenken, der mit einem tödlichen Gift bestrichen wurde. Ich hoffe, er hat sein Ziel noch nicht gefunden. Ich jedenfalls werde nicht mehr länger untätig hier oben herumstehen. Ich steige hinab in meine Schmiede. Wir sind im Krieg, Brüder und Schwestern, und es wird der Tag kommen, an dem wir gezwungen sein werden, diesen Turm zu verlassen. Ich werde dafür sorgen, dass wir für diesen Tag gewappnet sind.«
Die Zinnernen
Verzweifelt wandte Artax sich vom Altarstein ab. Fast die ganze Nacht hatte er auf dem Hügel hinter dem Heerlager den Löwenhäuptigen angerufen. Am Abend zuvor hatte es ein großes Dankesfest für die Götter gegeben. Zehn Stiere waren dem Löwengott geopfert worden. Der Wein war in Strömen geflossen, doch der Devanthar zeigte sich nicht.
Vielleicht erwarte ich zu viel, dachte Artax bitter. Auch wenn er sich Unsterblicher nannte und das Volk ihn für einen engen Vertrauten des Löwenhäuptigen hielt, wusste er nur zu genau, dass er all dies nicht war.
Du solltest öfter trinken, das verhilft dir zu Weisheit, spotteten die Stimmen Aarons in seinen Gedanken.
Artax versuchte, Aaron zu ignorieren und sich nicht anmerken zu lassen, wie enttäuscht er war. Der Devanthar würde kommen. Er war ein Gott. Er stand zu seinem Versprechen. Ganz sicher!
Du Narr! Genau, er ist ein Gott! Er tut, was er will.
Artax grüßte eine Gruppe Krieger, die sich ehrerbietig verneigte, als er vorüberging, und war froh, als er schließlich in sein Zelt gelangte. Er war zu Tode erschöpft. Die ganze Nacht hatte er bei dem Altar gewacht und auf Zwiesprache mit dem Devanthar gehofft.
Auf dem Tisch in seinem Zelt waren die Berge von Papyri und Tontafeln über Nacht in ungeahnte Höhen gewachsen. Flüchtig überflog er ein paar der Texte. Bittgesuche, Listen mit Gefallenen, ein Bericht über ein großes Feuer in einer Hafenstadt, die er nur dem Namen nach kannte. Er wünschte sich, Datames wäre noch hier. Sein Hofmeister hatte ihm so vieles vom Hals gehalten. Nur die wichtigsten Dokumente waren auf seinem Tisch gelandet. Datames hatte die Verantwortung übernommen zu entscheiden, was von Bedeutung war und was nicht. Die Schreiber und Lagerverwalter, die – wie er auch – nun ohne den Hofmeister auskommen mussten, wagten es nicht, solche Entscheidungen zu fällen.