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Artax stand nicht der Sinn danach zu philosophieren. Er war müde und enttäuscht. Er wollte ein paar Stunden Ruhe. Doch eins galt es noch zu erledigen.

»Ich habe eine weitere Aufgabe für dich. Du suchst mir Mikayla, den Wagenlenker von Hauptmann Volodi. Wenn er seine Sachen packt und mit den Zinnernen ziehen will, dann lass ihn in Frieden. Tut er das nicht, soll er sich zur Mittagsstunde in meinem Zelt einfinden.«

Er schuldet mir noch einen Abschied

Artax hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als ihn laute Stimmen vor dem Zelt weckten.

»… aber es war sein Wille, dass ich mich hier einfinde.«

»Davon weiß ich nichts«, entgegnete ein Bass. »Nur eine Handvoll Vertrauter haben freien Zugang zum Unsterblichen. Du wirst dir irgendwo einen schattigen Platz suchen und warten, bis man dich ruft.«

»Aber ich bin doch gerufen worden, du Dickschädel!«

»Davon weiß ich nichts, und deshalb wirst du warten wie jeder andere auch, Goldlöckchen.«

Artax erhob sich und griff nach dem Krug auf seinem Arbeitstisch. Das Wasser darin war warm und abgestanden. Er nahm einige Schlucke und schüttete den Rest in eine flache Schale. Mit beiden Händen benetzte er sein Gesicht und seinen Bart mit dem lauwarmen Nass. Es erfrischte ihn kaum.

»Wachmann! Schick mir den Drusnier herein.« Seine Stimme klang rau. Er freute sich darauf, diese verdammte staubtrockene Hochebene endlich verlassen zu können. Kurz dachte er an Shaya. An die wenigen kostbaren Stunden, die sie gemeinsam auf dem Rücken des Wolkensammlers verbracht hatten. Er schloss die Augen und sah ihr lachendes Gesicht. Sah, wie sie für ihn jenen seltsamen Hüpftanz aufgeführt hatte … Und dann hörte er die Stimme Muwattas: Ich habe deine Prinzessin bestiegen. Und mein halbes Königreich hat zugesehen.

Artax ballte in verzweifelter Wut die Hände zu Fäusten. Er war der mächtigste Mann der Welt, aber die, die ihm alles bedeutete, hatte er für immer verloren.

»Herr?«

Artax blickte auf. Vor ihm stand ein schlanker, junger Krieger. Anders als Volodi und Kolja wirkte Mikayla eher drahtig als kräftig. Er trug einen himmelblauen Wickelrock, der von einem protzigen, goldbeschlagenen Gürtel gehalten wurde, in dem zwei Dolche steckten. Ein breiter Gurt lief quer über seine nackte Brust. Über seiner rechten Schulter ragte der Griff eines Schwertes auf, halb verdeckt von seinem schulterlangen, weißblonden Haar. Das bartgesäumte Gesicht des Drusniers war schmal. Es wirkte offen und ehrlich.

»Du gehst nicht mit Kolja?«, fragte Artax.

»Ich bin Volodis Mann. Sein Wagenlenker … Kolja schulde ich keine Gefolgschaft. Genau genommen gehöre ich nicht einmal zu den Zinnernen. Ich bin erst vor einigen Monden zu ihnen gestoßen. Zu den alten Kämpen gehöre ich nicht.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Ich habe erst in einer einzigen Schlacht für Euch gekämpft, Herrscher aller Schwarzköpfe.«

»Ich sehe keinen Nachteil darin, dass du nicht zu den Piraten gehörst, die meine Zinnflotten versenkt haben«, entgegnete Artax kurz angebunden. »Ich habe eine Aufgabe für dich, Mikayla. Finde Volodi, und bring ihn zu mir. Er schuldet mir noch einen Abschied.«

Der Wagenlenker runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

»Traust du dir zu, ihn zu finden?«

»Ich werde mein Bestes geben, Herrscher aller Schwarzköpfe.« Obwohl der Drusnier demütig sein Haupt senkte, hatte er etwas Überhebliches an sich, und Artax hatte plötzlich Zweifel, ob Mikayla seinen Freund Volodi ausliefern würde, wenn er ihn fand. »Den Hauptmann erwartet keine Strafe. Ich schicke dich aus, weil ich in Sorge um ihn bin. Einfach wortlos zu gehen, ist nicht Volodis Art. Es ist …«

Die Plane am Eingang wurde zurückgerissen. »Herr!« Ashot stürmte herein. Blut lief über sein Gesicht. »Herr, wir sind verraten worden!«

Verrat

»Bessos konnte fliehen. Die Männer, die ihn bewachen sollten, sind zu ihm übergelaufen. Auch der Hüter der Reichssiegel, etliche andere Würdenträger und der Satrap von Nari sind zu ihm übergewechselt. Sie haben den Reichsschatz gestohlen und befinden sich auf dem Weg zu den Luwiern. Ich war beim trockenen Fluss, als ich sie kommen sah. Ich habe versucht, sie aufzuhalten.« Ashot senkte den Kopf. »Es war ein kleines Heer.«

Artax schloss kurz die Augen.

Wir haben dir geraten, ihn zu töten. Von Kerlen wie Bessos hat man nichts Gutes zu erwarten. Hättest du seinen Kopf auf einen Speer vor deinem Zelt gesteckt, wäre dir dieser Verrat erspart geblieben. Als Išta den Unsterblichen Muwatta enthauptet hat, haben alle sehen können, dass wir nicht unbesiegbar sind. Nun werden sie dich auf die Probe stellen und versuchen, dein Blut zu vergießen. Die Flucht des Bessos wird ein Zeichen für alle unzufriedenen Satrapen sein, sich gegen dich zu erheben. Und durch deine verrückten Gesetze, den armen Bauern Land zu schenken, hast du dafür gesorgt, dass fast alle deine Satrapen unzufrieden sind.

Verzweifelt kämpfte er gegen den Impuls an, sich mit beiden Händen an die Schläfen zu greifen. Er wollte diese Stimmen nicht hören. Und doch wusste er tief in seinem Herzen, dass sie recht hatten. Er nickte dem drusnischen Wagenlenker zu. »Du weißt, was du zu tun hast, Mikayla. Geh!« Dann wandte er sich an Ashot. »Wie viele folgten Bessos?«

»Ich weiß es nicht … Vielleicht hundert Streitwagen und auch einiges an Fußvolk.«

»Ruf meine Leibwache, und lass meinen Streitwagen anschirren!«

Ashot schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun, Herr. Lasst mich vierteilen oder pfählen, aber ich werde Euch nicht helfen, Euch umzubringen. Ihr wollt allein in das Heerlager der Luwier? Nachdem Ihr sie gedemütigt habt? Keiner kennt den Unsterblichen Labarna. Niemand weiß zu sagen, ob er ein Mann von Ehre ist.«

Artax war überrascht, mit welcher Leidenschaft Ashot auftrat. »Ich werde meine Rüstung anlegen und meinen Streitwagen anschirren lassen. Eine Stunde gebe ich dir, ein angemessenes Gefolge zusammenzustellen. Es soll eindrucksvoll sein, aber nicht so groß, dass die Luwier glauben könnten, wir greifen wieder an. Und lass deine Wunde versorgen. Das sieht übel aus.«

»Nur eine Schramme, Herr. Kopfwunden bluten stark. Ich werde mit Euch gehen.«

Von Freiheit und Rache

Bamiyan war immer noch erschüttert. Den Tränen nahe blickte er auf den toten Schamanen. Solange er zurückdenken konnte, war Gatha der Sprecher des Steinrates gewesen. Sein Wort hatte entschieden, was Recht war. Alle Stämme in den Bergen Garagums hatten sich seinem Willen unterworfen. Er war ein harter Mann gewesen, aber auch ein Friedensstifter.

»Es muss Barnaba gewesen sein. Ich habe Spuren eines Mannes gefunden, der sich auf einen Stock stützt. Sie führen in Richtung des Schlangentores«, sagte er.

»Auch ich kann Fährten lesen«, entgegnete Ormu. Der rotbärtige Jäger schnippte einige der Maden zur Seite, die aus dem klaffenden Schnitt im Hals des Schamanen hervorquollen und betrachtete die Wunde nachdenklich. »Ich finde, du bist etwas vorschnell mit deiner Meinung. Seit der Schlacht gibt es viele Männer, die sich auf eine Krücke stützen.«

Bamiyan verstand die Zurückhaltung des Jägers nicht. »Gatha muss seinen Mörder gekannt haben. Einen Fremden hätte er niemals so nahe an sich herangelassen, dass er ihm mit einem überraschenden Schnitt die Kehle durchtrennen kann.«

Ormu nickte. »Das klingt einleuchtend.«

»Und seit wir ihn von der Daimonin befreit haben, war der Heilige Mann seltsam. Hast du seine Augen gesehen?« Bamiyan fuhr jetzt noch ein Schauer über den Rücken, wenn er an die Blicke Barnabas dachte. »Er war immer noch besessen!«

Ormu sah ihn lange an. Seine dunklen Augen waren wie Abgründe. Ihn schien der Mord an Gatha überhaupt nicht zu berühren. Vielleicht dachte er schon darüber nach, wie er sich zum Sprecher des Steinrates aufschwingen konnte.

»Nehmen wir einmal an, der Heilige Mann war der Mörder.« Er hob einen Arm des Toten an und ließ ihn wieder zu Boden sinken, was Bamiyan als ziemlich respektlos empfand. »Gatha ist nicht mehr starr. Er ist also schon länger als einen Tag tot. Die vielen Maden sprechen auch dafür. Ein Tag! Und unser Mörder ist durch das Schlangentor geflohen. In der Zeit wurden Wege nach Akšu und Nari geöffnet, zur Tempelstadt Isatami in Luwien und ins ferne Nangog, und wer weiß, wohin sonst noch. Tausende Männer sind durch dieses Tor geschritten, viele verletzt und auf einen Krückstock gestützt. Wie willst du Barnaba finden? Du könntest dein ganzes Leben mit der Suche nach ihm vergeuden, ohne ihm jemals nur nahe zu kommen. Welchen Sinn hätte das?«