Bamiyan war fassungslos. »Es ist eine Frage der Ehre, Gatha zu rächen. Wir dürfen den Mörder nicht einfach so davonkommen lassen.«
Ormu wiegte nachdenklich den Kopf. »Rache ist eine Frage der Ehre? War es deine Aufgabe, Gatha zu beschützen? Seid ihr blutsverwandt gewesen?« Er runzelte die Stirn. »Davon wusste ich gar nichts.«
»Du weißt, dass wir nicht verwandt sind.« Ormu war ein Mitglied des Steinrates. Er schuldete ihm Respekt. Deshalb duldete er dieses Spiel. Jeden anderen hätte er für solche Frechheiten zum Duell gefordert.
Überhaupt verstand er diesen Jäger nicht. War er zu einfältig oder zu schlau? Als Mitglied des Steinrates wohl eher Letzteres. Bamiyan maß ihn mit missbilligendem Blick. Ormu war fast einen Kopf größer als er und hager wie ein dürrer Ast. Er schien nur aus Knochen, Haut und Sehnen zu bestehen. Eine Laune der Natur hatte ihm einen roten Bart geschenkt, obwohl sein Haupthaar schwarz und mit ersten weißen Strähnen durchsetzt war. Er trug abgewetzte Lederkleidung und einen stinkenden Umhang aus Ziegenfell. Neben ihm auf dem Boden lag der größte Bogen, den je ein Mann in Garagum besessen hatte. Man musste ein Riese wie Ormu sein, um ihn spannen zu können. Er war als Jäger eine Legende und der jüngste Mann, der je in den Steinrat aufgenommen worden war.
Bamiyan ließ seinen Blick zum Griff des Messers schweifen, das aus Ormus Gürtel ragte. Er war aus einem der Knochen des Heiligen Zarud gefertigt. Es gab nur neun Messer wie dieses. Sie waren die Ehrenzeichen der Mitglieder des Steinrates. Wenn einer der Würdenträger seinen Tod nahen fühlte, wählte er einen Nachfolger. Es gab keinen anderen Weg, in den ehrwürdigen Rat zu gelangen, der über den Frieden der Bergstämme Garagums wachte. Auch im Gürtel des toten Schamanen steckte so ein Dolch. Barnaba hatte ihn nicht gestohlen. Dabei hatte er sicherlich um die Bedeutung der Waffe gewusst.
Ormu hatte seinen Blick nach dem Messer bemerkt und lächelte. »Ich wette, ich weiß, was du denkst, Junge.«
»Und?«
»Schade, dass er nicht das Messer genommen hat, dann müssten wir ihn suchen.«
»Nahe dran«, gestand Bamiyan.
»Ich kannte deinen Bruder. Ich habe ihm als Fährtenleser nie das Wasser reichen können. Er war ein sehr besonderer Mann. Ich habe ein paarmal mit ihm gemeinsam gejagt. Und manchmal waren wir auch Rivalen.«
»Er hat nie von dir erzählt«, sagte Bamiyan. Es überraschte ihn, dass Ormu seinen Bruder gekannt hatte.
»Masud war nie ein Schwätzer und Aufschneider. Ganz anders als Gatha … Unser guter Schamane hat nie etwas für sich behalten.«
»Wie kannst du meinen Bruder zum Anlass nehmen, schlecht von Gatha zu reden!«, rief Bamiyan und schlug auf das schützende Horn. Sicher war der Geist des Schamanen ganz nahe. Ermordete fanden nicht in ihr Grab, und ihre Geister zu reizen war töricht!
»Warum sollte ich jetzt, wo er tot ist, anders über ihn denken als zu seinen Lebzeiten. Er war ein Mann mit einer besonderen Gabe, aber kein besonderer Mann.« Ormu zog seinen kostbaren Dolch aus dem Gürtel und steckte ihn neben den des Toten.
»Was tust du da?«
»Ich werde Gatha in unser Lager bringen, damit unsere Leute ihn zu Hazrat auf die Tafel des Himmels bringen können. Der Vogelrufer soll ihn den Adlern schenken. Das ist das Einzige, was wir Gatha schulden. Wirst du mir dabei helfen?«
Bamiyan nickte. Natürlich war es ihre erste Pflicht, sich um eine angemessene Bestattung für den Toten zu kümmern. Er würde den anderen Jägern sagen, was geschehen war. Er hatte einen Verdacht, wohin Barnaba geflohen war: zur Goldenen Stadt auf Nangog. Glaubte er den Geschichten, die er über diesen Ort gehört hatte, dann lebten dort mehr Menschen, als sich auf dem Schlachtfeld hier versammelt hatten. Barnaba dort wiederzufinden, wäre eine Herausforderung. Aber ein Heiliger Mann würde auffallen! Es war gewiss nicht so unmöglich, wie Ormu ihn glauben lassen wollte.
Er packte Gatha bei den Armen. Auf ein Zeichen Ormus hin hob er ihn an. Der Kopf des Toten kippte nach hinten, sodass er tief in die klaffende Wunde im Hals blicken konnte. Geschächtet wie ein Stück Schlachtvieh hatte Barnaba den Schamanen.
»Weißt du, ich werde die Erinnerung daran nicht los, wie Barnaba und dieses Weib auf dem Grund des Sees gelegen haben. Ihr Lächeln – sie beide hatten zu vollkommener Eintracht gefunden. Wir hatten kein Recht, sie zu stören.«
Bamiyan traute seinen Ohren nicht. Das wurde ja immer besser. Ormu war ganz offensichtlich verrückt geworden! »Dieses Daimonenweib hat mich angegriffen! Hast du vergessen, wie ich ausgesehen habe? Über und über war ich mit Wunden bedeckt, als sie ihre Eissplitter gegen mich geschleudert hat. Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht mein Augenlicht verloren habe.«
»Bist du sicher, dass es Glück war? Ich glaube, wenn sie dich hätte blenden wollen, dann hätte sie die Macht dazu besessen. Sie wollte dich nur erschrecken und vertreiben. Wollte, dass du nie mehr zurückkehrst, um ihren Frieden zu stören.«
»Du hast es nicht erlebt!«, entgegnete Bamiyan aufgebracht. »Es war schrecklich. Ich bin davongelaufen wie ein verschrecktes Kind.«
»Deswegen muss man sich nicht schämen. Mich hat einmal ein Bär in meinem Nachtlager in der Wildnis überrascht. Ich sage dir, ich bin gehüpft wie ein Hase. War eine knappe Sache. Und er hat mir einen Satz peinlicher Narben auf meinem Allerwertesten verpasst.« Ormu lächelte breit. »Solche Geschichten sind nur dann schlimm, wenn sie jemand nutzt, um dich bloßzustellen. So wie Gatha.«
Bamiyan verdrehte die Augen und fluchte innerlich. Er konnte die Arme des Schamanen jetzt nicht loslassen, um das schützende Horn zu schlagen. Leise flüsterte er einen Bannspruch gegen das Böse.
»Hah!«, stieß der rotbärtige Jäger hervor. »Du denkst also auch, er ist das Böse!«
Bamiyan stieg über die Deichsel eines zerstörten Streitwagens hinweg und blickte kurz auf die Pferde, denen Hungrige breite Streifen Fleisch von den Rippen geschnitten hatten. Eine Wolke von Fliegen stieg auf und hüllte sie mit ihrem dunklen Summen ein. »Dies hier wird bis ans Ende aller Zeiten ein verfluchter Ort sein. Zu viele Männer sind hier gestorben. Da kann man nicht vorsichtig genug sein.«
»Ja, das stimmt wohl. Man kann nicht vorsichtig genug sein.« Ein seltsamer Unterton schwang in der Stimme des Jägers. »Ich glaube, wir sind wirklich fluchbeladen. Und Gatha ist der Erste, den sein Schicksal ereilt hat.«
»Wie meinst du das?«
»Wir haben Böses getan, Junge. Und Böses wird stets mit Bösem vergolten. Wir hätten den Heiligen Mann und dieses Wasserweib in Frieden lassen sollen. Sie hatten niemandem etwas zuleide getan. Und die beiden hatten zu etwas gefunden … Ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen soll. Sie waren eins! Vereint in vollkommener Harmonie. Sie hatten gefunden, wonach ich schon ein Leben lang suche. Und wir sind hingegangen und haben alles zerstört. Schon als ich meinen Pfeil auf den Bogen legte, wusste ich, dass ich das Falsche tue. Aber ich habe mich dennoch dazu hinreißen lassen. Und ich habe die Hand des Weibes abgehackt, die ihren Liebsten selbst im Tode noch umklammert hat. Das war eine durch und durch finstere Tat. Ich werde dafür bis ans Ende meiner Tage büßen!«
Bamiyan konnte nicht ganz nachvollziehen, was Ormu meinte. Nur eins machte ihm wirklich Sorge. »Du meinst, die Daimonin hat uns verflucht? Gatha ist deshalb gestorben? Und wir anderen werden auch büßen?«, fragte er.