Der Jäger seufzte. »Nein. So meinte ich es nicht. Nicht dieses Weib hat uns mit einem Fluch beladen. Wir selbst waren es durch unsere Taten. Wenn eine in die Enge getriebene Bärenmutter ihr Junges bis zum letzten Blutstropfen verteidigt, wunderst du dich dann? Würdest du sie böse nennen? Würdest du selbst nicht alles geben, deine Sippe zu verteidigen, wenn Plünderer in unsere Berge kämen? Wir sind in das Tal dieses Weibes gekommen. Sie hat uns vorher nicht behelligt. Sie hat uns keinen Grund gegeben, sie anzugreifen, und nur den Mann verteidigt, den sie offensichtlich liebte. Was ist daran daimonisch? Wir waren die Daimonen in diesem Tal, Bamiyan. Und es war Gatha, der uns dazu aufgestachelt hat, diese schreckliche Tat zu begehen.«
»Aber wir mussten doch den Heiligen Mann befreien …«, sagte Bamiyan gedehnt. Ormus Sicht der Dinge verwirrte ihn. Auch er musste daran denken, wie Barnaba und diese Frau Seite an Seite auf dem Grund des Sees gelegen hatten. Es war ein friedliches Bild gewesen. Selbst im Schlaf hatten sie sich bei den Händen gehalten.
»Hattest du den Eindruck, dass es Barnaba glücklich gemacht hat, dass wir ihn holten? Und jetzt sag nicht, es wäre unsere Pflicht gewesen, ihn von der Daimonin zu befreien.«
Bamiyan schwieg. Sie überquerten einen Abschnitt des Schlachtfeldes, von dem schon alle Toten fortgetragen worden waren. Nur die dunklen Flecken auf dem ausgedörrten Boden erinnerten daran, wie viel Blut hier vergossen worden war. Bald würden Staub und Wind auch diese Spuren getilgt haben. Dann würden die Tage auf der Hochebene von Kush nur noch in den Erinnerungen der Überlebenden bestehen. Plötzlich fühlte Bamiyan sich klein und unbedeutend. Solange er sich erinnern konnte, war Gatha der mächtigste Mann in den Bergen gewesen. Und nun war er nur noch ein Fraß für die Adler. Er war allein gestorben, ermordet von einem Fremden. Und vorher hatte er sie zu Mördern in seinen Diensten gemacht.
»Weißt du, Junge, Rache ist ein kleingeistiger Gedanke. Eine Idee für Männer mit einem engen Herzen«, unterbrach Ormu seine düsteren Gedanken. »Bist du so ein Mann?«
Bamiyan zögerte, dann sagte er. »Was werden die anderen von uns denken? Es wird aussehen, als wären wir Feiglinge … als hätte uns Gatha nichts bedeutet.«
»Ich finde, eine Entscheidung sollte man nur danach treffen, was richtig und was falsch ist. Manchmal ist das nicht leicht zu erkennen. Was andere über eine Entscheidung denken werden, sollte nicht das Maß der Dinge sein.« Ormu schnaufte. »Große Worte, an die ich mich selbst nicht gehalten habe. Ich bin mit in das Tal gezogen, in dem du Barnaba gefunden hast. Ich habe meinen Bogen auf die Daimonin angelegt, obwohl ich im Herzen wusste, dass es falsch war. Deshalb bin ich es auch nicht länger wert, dem Steinrat anzugehören. Deshalb gebe ich mein Messer ab. Soll ein weiserer Mann im Namen des Heiligen Zarud über die Geschicke unserer Stämme entscheiden. Ich habe seinem Namen Schande gemacht.«
Wie angewurzelt blieb Bamiyan stehen und starrte den rotbärtigen Jäger an. »Aber das gab es noch nie. Man verlässt den Steinrat nicht! Diese Ehre endet erst mit dem Tod.«
»Weißt du, wie frei man sich fühlt, wenn man die Fesseln abstreift, in die einen die Erwartungen anderer schlagen?«, fragte Ormu grinsend. »Willst du mit mir kommen und von dieser Freiheit kosten?«
»Wohin willst du denn gehen?«
»Der Unsterbliche Aaron hat mich beeindruckt. Sein Mut in der Schlacht, sein Plan, den Bauern Land zu schenken und seinem Königreich mehr Gerechtigkeit. Ich glaube, er ist ein Mann, für den zu kämpfen sich lohnt. Ganz anders als Gatha. Ich habe gehört, er will eine neue Leibwache aufstellen und sucht die besten Krieger. Glaubst du, irgendwelche Bogenschützen aus den Ebenen der Kornbauern könnten uns Jägern aus Garagum das Wasser reichen? Ich habe dich schießen sehen, Bamiyan. Du bist gut.«
Bamiyan wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Das Gemetzel auf der Hochebene hatte er verabscheuenswürdig gefunden. Sinnlos. Er hatte sich nie vorgestellt, etwas anderes zu sein als ein Jäger oder Hirte.
»Du denkst immer noch an Rache?« Ormu klang enttäuscht. »Geh in dich. Höre auf dein Herz, und entscheide für dich ganz allein, was richtig und falsch ist. Denn ganz gleich, was andere dir einflüstern mögen, du wirst auch allein sein, wenn du mit dem, was aus deinen Entscheidungen erwächst, leben musst.«
Ein grosser Krieger
Artax zügelte seinen Streitwagen am Ufer des ausgetrockneten Flusses. Er hatte für den Übergang jene Stelle gewählt, an der in der Schlacht Muwattas Streitwagen in die offene Flanke seiner Schlachtreihe eingefallen waren. Hätten sich ihnen nicht die Jaguarmänner in den Weg gestellt, alles wäre verloren gewesen.
Von den Hügeln des anderen Ufers erklangen Hörner. Er konnte einzelne Krieger sehen, die eilig ihre Wachposten verließen, um zum Lager der Luwier zu laufen, das von den Hügeln verborgen ganz in der Nähe lag. Artax hob den Arm und wandte sich zu seinen Männern um. Mehr als hundert Streitwagen und eine bunt zusammengewürfelte Truppe aus etwa fünfhundert Kriegern folgten ihm. »Haltet von nun an fünfzig Schritt Abstand«, rief er ihnen zu. »Die Luwier sollen sehen, dass dies kein Angriff ist. Wir fordern lediglich, dass uns der Verräter Bessos ausgeliefert wird.«
Mit diesen Worten ließ er die Zügel über die federgeschmückten Mähnen seiner beiden Rappen schnalzen. Rumpelnd fuhr der Streitwagen die Böschung hinab. Artax musste nach dem Bügel an der Seite greifen, um nicht aus dem Wagen geschleudert zu werden. Der Lederboden unter seinen Füßen federte bei jedem Stoß. Er hatte darauf verzichtet, einen Wagenlenker mitzunehmen. Er wollte den Luwiern allein begegnen.
Im flachen Flussbett fielen seine Rappen in einen schnellen Trab und nahmen mit Anlauf die Böschung. Die kargen Hügel jenseits des Ufers waren verwaist. Nirgends zeigte sich ein Luwier. Doch ihre Signalhörner waren noch immer zu hören.
Labarna, der neue Unsterbliche Luwiens, war mit Sicherheit vorbereitet. Er konnte nicht so dumm sein zu glauben, dass Artax dem Verräter Bessos nicht nachstellen würde. Artax musterte die Hügelkette und suchte einen Weg, wie er seinen Streitwagen auf einen der flachen Gipfel bringen konnte. Links neben ihm war sein Feldzeichen mit der geflügelten Sonne an der Wagenwand festgebunden. Sie sollten schon von Weitem sehen, wer zu ihnen kam.
Als er die Kuppe erreichte, hatte er freien Blick auf das Heer Luwiens im Tal unter ihm. Labarna hatte seine Truppen nicht im selben Umfang abziehen lassen, wie er es getan hatte. Sie waren unvermindert stark und bewegten sich in diesem Moment in guter Ordnung auf den trockenen Fluss zu. Die einzige Überraschung für sie war offensichtlich nur gewesen, an welcher Stelle er den Fluss überquert hatte. Ansonsten waren sie vorbereitet: In diesem Moment überholten Schwärme von Streitwagen die Kolonnen marschierender Infanterie, um sich an die Spitze des Heeres zu setzen. Nur wenig Staub wogte über den Truppen auf. Sie schienen sich gerade erst in Bewegung gesetzt zu haben, ansonsten hätten die Staubwolken sie schon früher verraten.
Ein zweiter Streitwagen erreichte die Hügelkuppe und hielt neben ihm.
»Scheiße«, fluchte Mataan. »Wir müssen uns zurückziehen. Sofort! Die werden uns zermalmen.«
Selten hatte Artax den Fischerfürsten so aufgebracht gesehen. Auch wenn er den Rang eines Satrapen hatte, war Mataan ein bescheidener Mann. Er trug eine verbeulte Bronzerüstung und darunter eine schlichte, mit eingetrocknetem Blut besudelte Tunika, die ganz offensichtlich seit dem Tag der großen Schlacht noch nicht gereinigt worden war. Der Rosshaarschweif seines Helms war nach einem Treffer leicht zur Seite geneigt. Wer Mataan sah – das wettergegerbte Gesicht und die Raubvogelnase –, wusste, dass er ein abgehärteter Veteran war. Wenn so ein Krieger verzweifelt wirkte, dann stand es wahrhaft schlecht.
»Wir müssen uns zurückziehen, Unsterblicher. Sofort! Ihr werdet uns alle in den Untergang führen. Wir wurden ganz offensichtlich erwartet. Vielleicht paktiert Bessos sogar mit Labarna.«