Artax entdeckte einen Mann in den anrückenden Heerscharen, der alle Krieger überragte. Er trug einen Wolfskopf als Helm, dessen Fell ihm weit den Rücken hinabreichte. Zwei lang gelockte Haarsträhnen fielen von den Schläfen bis auf die Schultern. Er trug einen schlichten Bronzepanzer und schmucklose Beinschienen. In der Rechten hielt er eine mächtige Keule. Labarna! Der Unsterbliche Luwiens stand nicht in einem Streitwagen oder ritt einen Elefanten, wie Muwatta es getan hatte. Er ging zu Fuß.
»Führ unsere Männer auf die Hügel, sodass die Luwier sehen können, dass wir nicht mit ganzer Streitmacht anrücken.«
Mataan seufzte. »Wäre es nicht weiser, sich hinter den Fluss zurückzuziehen?«
Artax schüttelte sacht den Kopf. »Vielleicht wäre es weise, aber wenn wir das tun, hat Bessos seinen ersten Sieg errungen, ohne auch nur einen Schwertstreich zu führen. Weitere Satrapen werden sich seiner Revolte anschließen. Ich kann jetzt nicht mehr zurück. Auf den Hügeln sind unsere Krieger in einer guten Verteidigungsstellung. Zeige dich ihnen zuversichtlich, Mataan. Du bist ein guter Anführer.«
Der Satrap salutierte. »Wie Ihr befehlt, Unsterblicher.« Dann zog er die Zügel herum und lenkte seinen Streitwagen hinab zu den anrückenden Truppen.
Artax wartete noch einen Augenblick, dann fuhr er den Luwiern entgegen. Am Beginn der Talsenke trafen sie aufeinander. In fast gespentischer Stille, in der nur das Getrappel der Pferdehufe erklang, wichen die vorderen Streitwagen vor ihm aus. Deutlich konnte er die Angst und Anspannung in den Gesichtern der feindlichen Krieger sehen. Sie folgten jeder seiner Bewegungen mit misstrauischen Blicken.
Die marschierenden Speerträger vor ihm hielten an. Befehle wurden gerufen. Männer schwärmten zu den Flanken aus und bildeten einen Wall aus golden schimmernden Bronzeschilden, der Artax zwang seine Pferde zu zügeln. Sie begegneten ihm, als sei er allein ein ganzes Heer.
»Labarna von Luwien, tritt vor«, rief Artax, und seine Stimme trug weit über die Hügel. »Wir beide wollen nicht das Blut unserer Männer fließen sehen. Lass uns miteinander reden wie weise Herrscher. Ich weiß, du bist ein besserer Mann als Muwatta.«
Du schmeichelst ihm. Klug! Wenn du ihm Anerkennung zollst, hebt das den Respekt bei seinen Männern. Er war vor ein paar Tagen noch ein Hauptmann, wie es Dutzende gibt. Er kann jeden Zuspruch gebrauchen.
Er wurde von einer Göttin zum Unsterblichen gemacht, konterte Artax in Gedanken. Was zähle ich da?
Es war die Göttin, die zuvor Muwatta enthauptete und deren Gunst ein flüchtiges Gut zu sein scheint. Du aber bist König Geisterschwert, der Muwatta auf dem Schlachtfeld bezwang und der selbst noch nie besiegt wurde. Ich schätze, dein Ansehen unter den Luwiern ist größer als das ihres neuen Herrschers. Begegne Labarna mit Respekt, und er wird dir dankbar dafür sein, wenn er ein kluger Mann ist.
Labarna löste sich aus der Gruppe der Krieger. Er trug seine riesige Keule lässig gegen die Schulter gestützt, ein selbstbewusstes, fast arrogantes Lächeln auf dem Gesicht. Artax stellte sich vor, wie der Luwier mit einem einzigen Hieb die Köpfe seiner Streitwagenpferde zerschmetterte. Er hatte Labarna kämpfen gesehen. Er wusste, wozu dieser Hüne fähig war.
Artax zog an den Zügeln und schlang sie dann um den Haltegriff auf dem Frontschild des Streitwagens. Er warf einen Blick über die Schulter. Mataan hatte seine Männer auf die Hügel geführt. Sie würden alles sehen. Dann stieg er ab und ging Labarna das letzte Stück zu Fuß entgegen. Der Luwier überragte ihn fast um Haupteslänge. Neben dem Kerl sah er aus wie ein Kind! Er zwang sich zu einem Lächeln und dachte daran, wie Muwatta ihn zum Fest der Himmlischen Hochzeit in Isatami empfangen hatte. Der Unsterbliche war ihm auf einem Elefanten entgegengeritten, um ihn klein aussehen zu lassen. Artax’ Lächeln wurde breiter. Die Luwier liebten diese Spielchen mit der Größe. Muwatta lag nun irgendwo auf dieser Ebene in einem namenlosen Grab. Seine Elefanten hatten ihm nicht geholfen. Er sah zu Labarna auf – er würde auch diesen Riesen überleben.
Der Luwier machte eine Geste, als wolle er lästige Fliegen verscheuchen. »Zurück mit Euch! Es ist sterblichen Ohren nicht bestimmt zu hören, was Unsterbliche an diesem Tag zu besprechen haben.«
Die Krieger ringsum wichen respektvoll zurück. Bald war der nächste Luwier mehr als hundert Schritt entfernt.
»Ich hoffe, dir steht der Sinn nicht danach, diese trockene Ebene noch einmal mit dem Blut unserer Krieger zu tränken«, begann Labarna ohne Umschweife.
»Wo steckt Bessos?«, entgegnete Artax.
Labarna hob die Brauen. »Ich halte nicht viel von Verrätern.«
»Dann liefere ihn mir aus.«
Der Riese nahm seine Keule von der Schulter, setzte ihren wuchtigen Kopf auf den Boden und stützte beide Hände auf den Griff. »Das kann ich nicht. Er hat mein Lager bereits verlassen. Ich habe ihm Unterschlupf und Unterstützung verweigert.«
Artax musterte sein Gegenüber misstrauisch. Sagte er die Wahrheit? »Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«
Der Luwier lächelte kalt. »Weil es nicht meine Aufgabe ist, deine Sorgen aus der Welt zu schaffen. Versteh mich nicht falsch. Ich möchte in Frieden mit Aram leben. Für mich ist dieser Krieg beendet. Aber du kannst nicht erwarten, dass ich zu den Waffen greife, um dich zu unterstützen. So weit sind wir noch nicht.« Er deutete nach Norden, wo die Karawanenstraße zum Adlerpass führte. »Er ist dort entlanggezogen. Er hatte sehr viel Gold bei sich. Ein Teil meiner ausgemusterten Söldner hat sich ihm angeschlossen. Vor allem Bogenschützen und Schleuderer.«
»Ausgemusterte Söldner …« Artax gab sich keine Mühe, seinen Argwohn zu verbergen.
Labarna wich seinem Blick nicht aus. »So wie du, reduziere auch ich meine Truppen. Ich hatte ihnen den Zeitpunkt des Abzugs freigestellt. Ich schätze, sie waren darüber unterrichtet, dass Bessos mit viel Gold kommen würde. Mir scheint, deine Satrapen fügen sich nicht ganz deinem Willen. Solltest du Bessos folgen wollen, um ihn für seine Rebellion zu bestrafen, stehe ich dir nicht im Wege. Du und deine Truppen erhalten freies Geleit durch mein Lager.«
Erstaunlich, was aus diesem Krieger binnen so kurzer Zeit geworden ist. Man könnte meinen, er habe sein ganzes Leben mit Hofintrigen verbracht.
Doch Artax stand nach Aarons süffisanten Scherzen nicht der Sinn. »Ich habe noch ein anderes Anliegen. Die Prinzessin, die Muwatta zur Heiligen Hochzeit geführt hat. Überlass sie mir, und ich stehe in deiner Schuld.«
»Das kann ich nicht«, sagte Labarna. »Ich kann nicht mit unseren jahrhundertealten Traditionen brechen. Die Braut aus der Nacht der Heiligen Hochzeit gehört dem Land. Sollte sie empfangen haben, werden sie und ihr Kind in einem kleinen Palast bis ans Ende ihrer Tage versorgt sein. Sie beide verkörpern die Fruchtbarkeit des Landes. Ich kann sie nicht hergeben. Und sollte die Prinzessin nicht empfangen haben …« Er seufzte resigniert. »Der Sitte nach wird ihr Blut dann vergossen werden, damit sie den Boden des Landes nährt. Gebe ich sie dir, so ist es, als würde ich die Hoffnung auf eine gute Ernte im nächsten Jahr verschenken. Mein Volk würde das nicht verstehen. Ich würde die Priesterschaft herausfordern und auch Išta selbst, die diese Hochzeit gewollt hat.«
Alles nur Worte. Er will dir nicht helfen!
Artax sah es genauso. Jeder Augenblick, den er sich noch länger mit Labarna abgab, vergrößerte nur den Vorsprung von Bessos.
»Sind das alle Männer, die du zur Verfolgung von Bessos aufgeboten hast?« Labarna deutete zu den Hügelkämmen am trockenen Fluss. »Die Rebellen werden versuchen, dir eine Falle zu stellen, und sie sind dieser Schar drei zu eins überlegen. Du solltest dir mehr Zeit nehmen und einen größeren Heerbann aufstellen. Sonst verlierst du unnötig viele Männer.«
»Muwatta glaubte auch nicht, dass eine Bauernschar seinen Söldnern standhalten könnte«, entgegnete Artax kühl. »Wenn meine Feinde sich überlegen wähnen, steht es meist gut für meine Sache.«