»Sieh dir die Hügel an, mein Freund. Sie wurden von Menschenhand erschaffen. Auch wir haben die Macht, die Welt zu formen, in der wir leben. Ich gestehe, es bedarf der Kraft vieler Menschen, um den Taten der Götter nahe zu kommen, aber sie sind nicht unerreichbar. Wir werden den Himmel mit Pfeilen füllen. Und glaube mir, es wird der eine darunter sein, der die Schwachstelle in Aarons Rüstung findet und den Tyrannen tötet.«
Gemeinsam wandten sie sich den herannahenden Streitwagen zu. Einer eilte den übrigen um viele Längen voraus. Das Abendlicht spiegelte sich auf der goldenen Standarte mit der geflügelten Sonne.
Eleasar hatte sich nicht geirrt. Aaron war an der Spitze seines Heeres, und er schien nur Augen zu haben für die Staubwolke der vermeintlichen Flüchtlinge, die er im Norden sah. Vielleicht war er ja wirklich sterblich? Bessos winkte den Bogenschützen, und sie legten Pfeile auf die Sehnen.
Und der Himmel verfinsterte Sich
Aaron fluchte leise. Sein schwerer Löwenhelm drückte, und durch die Augenschlitze konnte er nur einen kleinen Ausschnitt der Welt sehen. Aber es genügte, um zu wissen, dass er Bessos heute nicht mehr einholen würde. Auch wenn die Staubwolke im Norden zum Greifen nahe schien, in einer halben Stunde würde die Sonne untergehen, und dann könnten sie nicht mehr weitermarschieren.
Seine Bogenschützen und Speerträger waren um mindestens drei Meilen zurückgefallen. Sie konnten mit den Streitwagen nicht mithalten. Und selbst seine Wagenkämpfer hatten Schwierigkeiten, dem Tempo zu folgen, das er vorgab. Die beiden Rappen seines Gespanns waren die besten Pferde aus dem königlichen Stall. Sie waren unvergleichlich, doch auch sie waren inzwischen erschöpft. Schaumflocken klebten an ihren Flanken. Das schweißnasse, schwarze Fell war mit Staub bedeckt, die roten Federn, die in ihre Mähnen geflochten waren, vom Wind zerzaust, und die goldenen Amulette und Glöckchen im Geschirr hatten ihren Glanz verloren.
Ein Stück voraus, vielleicht dreihundert Schritt entfernt, umfasste ein Halbrund von Hügeln die Karawanenstraße. Das wäre ein guter Platz für ein Nachtlager. Er würde dort auf seine Männer warten – es war sinnlos, die Verfolgung in der Dunkelheit fortzusetzen. Bald würde der alte Handelsweg sich an Abgründen vorbei hinauf zu steilen Pässen winden. Diesen Weg sollte man nur bei Tageslicht nehmen.
Aarons Hand tastete zum Schwert an seiner Seite. Seit der Schlacht hatte er die Waffe nicht mehr gezogen. Er fühlte sich der Klinge auf seltsame Art verbunden. Oft verlangte ihn danach, die Waffe zu berühren. Seine Finger schlossen sich fest um den lederumwickelten Griff. Das Schwert wollte gezogen werden. Wollte das blutrote Abendlicht über den Bergen sehen, den Wind spüren. Aaron lachte. Es war das Geisterschwert! Eine ganz besondere Waffe, in der diese unheimliche, grüne Lichtgestalt gefangen saß, die ihm vor so langer Zeit in dem verfluchten Tal unweit der Mine Um el-Amad heimgesucht hatte. Aber es war ganz gewiss nichts Lebendiges an dieser Waffe, das sich nach Licht und Wind sehnte. Aus einer Laune heraus zog er blank. Geisterhaft grünes Licht umspielte die Klinge. Die Waffe lag gut in der Hand. Er riss sie hoch über den Kopf, als er den ersten der Hügel passierte, und als habe er damit ein Zeichen gegeben, traten Hunderte von Kriegern auf die Hügelrücken rings umher, hoben ihre Bögen, und der Himmel verfinsterte sich. Die Luft war erfüllt vom Sirren der Pfeile.
Sein Schwert beschrieb einen funkelnden Bogen, als das Dunkel des Himmels auf ihn herabstürzte. Metall kreischte auf Metall. Holz splitterte. Er wurde dutzendfach getroffen und rückwärts aus dem Streitwagen geschleudert. Die Rappen stiegen und brachen von Pfeilen durchbohrt zusammen. Steine prallten tönend von seinem Helm ab, und überall ragten schwarze Pfeilschäfte dicht wie Gras aus dem staubigen Boden. Runde Kiesel rollten davon. Schleudersteine. Artax fühlte sich, als sei eine Herde Pferde über ihn hinweggestürmt. Jede Faser seines Leibes schmerzte. Er blickte an sich herab. Grelle Lichtpunkte tanzten ihm vor den Augen. Sein Mund war erfüllt von einem metallischen Geschmack, denn er hatte sich beim Sturz auf die Zunge gebissen. Von den zahlreichen Treffern, die sein Helm abbekommen hatte, dröhnten ihm die Ohren.
Stumm dankte Artax den Göttern, dass er entschieden hatte, seine Prunkrüstung anzulegen, um bei den Luwiern keine Zweifel aufkommen zu lassen, dass der Unsterbliche Aaron ihr Lager aufsuchte. Er hatte kurz überlegt, nur einen einfachen Leinenpanzer anzulegen, der in der Hitze angenehmer zu tragen war als die neue Rüstung, die ihm der Löwenhäutige hatte fertigen lassen.
Er sah weitere Pfeile rings um sich einschlagen. Hören konnte er noch immer nichts, und auch sein Nacken schmerzte. Mit einem Ruck setzte Artax sich auf und griff nach seinem Schwert, das ihm beim Sturz aus der Hand geschlagen wurde. Er sah ein wenig verschwommen. Die Krieger auf den Hügeln waren nur dunkle Schemen. Ihm wurde bewusst, was für ein unglaubliches Glück er gehabt hatte, dass keiner der Pfeile die Sehschlitze seines Maskenhelms getroffen hatte.
Als das Dröhnen in seinen Ohren endlich nachließ, hörte er Hufschlag. Seine Streitwagen! Sie kamen, um ihn zu retten. Er durfte nicht zulassen, dass sich seine Männer dem mörderischen Pfeilhagel aussetzten. Sie trugen keine verwunschenen Rüstungen. Von ihnen würde keiner lebend dieser Falle entgehen. Er stand auf. All seine Glieder schmerzten, jede Bewegung war ein Akt des Willens. »Ich bin Aaron, der Unsterbliche«, rief er mit Donnerstimme. »Der Herrscher aller Schwarzköpfe, auch König Geisterschwert genannt. Wie ihr seht, konntet ihr mich nicht töten.« Er riss sein Schwert hoch, sodass es deutlich zu erkennen war: Fahles, grünes Licht tanzte um die Klinge.
»Dies Schwert dürstet nach euren Seelen. Und ich will es füttern. Wer jetzt seine Waffe senkt und zur Karawanenstraße hinabsteigt, der wird überleben. Doch jeden, der sich mir weiterhin widersetzt, werde ich dieser Klinge überantworten. Ich bin als ein gütiger Herrscher bekannt, doch vertraut mir, all mein Langmut und meine Güte sind unter euren Pfeilen gestorben.«
Artax breitete seine Arme aus. »Bleibt hinter mir zurück«, rief er, ohne sich nach seinen Männern umzublicken. Dann tat er einen schwankenden Schritt an den beiden Pferdekadavern vorbei. Wut packte ihn, als er seine edlen Rösser im Staub liegen sah. Und die Wut brannte den Schmerz aus seinen Gliedern. Bei seinen nächsten Schritten schwankte er nicht mehr.
Jetzt wichen die ersten von Bessos Kriegern erschrocken zurück. Sie ergaben sich nicht, aber sie wagten es auch nicht mehr, ihre Waffen gegen ihn zu erheben. Zornig ging er weiter auf sie zu. Er war wie ein Stein, den man in einen stillen See geworfen hatte. Zuerst wichen die Söldner in Wellen vor ihm zurück, doch dann griff Panik unter ihnen um sich. Immer mehr warfen ihre Waffen fort und liefen blindlings davon.
Artax fluchte und begann, ebenfalls zu laufen. Er war nicht mehr er selbst. Aller Schmerz war vergessen. Als er das Schwert vorstreckte, sah er, dass ein Splitter eines Pfeilschafts aus seinem Handrücken ragte. Er hatte das Gefühl, dass es die Hand eines anderen sei, die er betrachtete. Die Wunde war nicht tief, aber er sollte sie doch spüren! War es sein verwunschenes Schwert, das ihn nur noch an Blut und Rache denken ließ und dessen Zaubermacht kleinere Wunden heilte, noch bevor er sich ihrer wirklich bewusst wurde? Selbst die Stimmen der Aarons drangen nicht mehr zu ihm durch, wenn er mit dem Schwert in der Hand in die Schlacht stürmte. Jetzt brannte in ihm allein der Wunsch, die feigen Söldner büßen zu lassen! Jene Männer, die sich seinem zornigen Befehl aufzugeben und ohne Waffen zur Karawanenstraße zu kommen, nicht unterworfen hatten. Er stürmte den Hang eines Hügels hinauf und gab seinem Streitwagenschwarm mit dem Schwert Zeichen, sich aufzuteilen und über die Flügel zu gehen, um den Flüchtlingen den Weg abzuschneiden. Er würde nicht dulden, dass Bessos diese Männer an einem anderen Tag erneut um sich scharte!