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Als er die Hügelkuppe erreichte, sah er, dass sich das ganze gegnerische Heer in Auflösung befand. Die Krieger liefen wild durcheinander. Kein Hauptmann versuchte mehr, Ordnung in das Chaos zu bringen. In den länger werdenden Schatten eilte etwas abseits eine kleine Gruppe von Kriegern einen steilen Pfad hinauf, der von der Karawanenstraße abzweigte. War dort Bessos? Einer der Flüchtlinge trug einen weißhaarigen Mann auf dem Rücken.

Artax blickte nach Westen. Die Sonne war fast ganz hinter den Bergen verschwunden. Nur zwei Fingerbreit der feurig roten Kugel lugten noch über die tiefschwarzen Bergkämme. Nicht einmal eine halbe Stunde und es würde völlige Finsternis herrschen.

Fluchend lief Artax in Richtung des steilen Saumpfads, vorbei an einer umgestürzten Sänfte, durchdrungen von dem irrationalen Wunsch, diese Flucht zu beenden. Obwohl ihm in seinem Innersten klar war, dass er diese Männer zwar hatte zu Tode erschrecken können, sie aber allein niemals würde aufhalten können. Nur wenn er Bessos zu fassen bekam, war es vorbei.

Einige der feindlichen Streitwagen hatten sich bei der überstürzten Flucht ineinander verkeilt. Erbärmlich wiehernde Pferde mit gebrochenen Läufen hingen im Geschirr umgestürzter Wagen. Artax sah einen Krieger, der kriechend vor ihm zu fliehen versuchte. Der linke Fuß des Mannes war grotesk verdreht, die Zehen zeigten dorthin, wo die Ferse hätte sein sollen. Artax setzte dem Verwundeten den Fuß auf die Brust und drückte den Mann zu Boden. Er hob das Schwert, um seinem Opfer die Kehle zu durchtrennen, taub für das Flehen des Kriegers. Die Klinge fuhr hinab und verharrte nur einen Zoll vor der Kehle des Mannes. Es waren die schreckensweiten, braunen Augen des Söldners, die ihn wieder zur Besinnung brachten. Was ging mit ihm vor, dass er fast einen Wehrlosen getötet hätte!

Artax starrte auf das Geisterschwert in seinen Händen und spürte sofort, wie sein Zorn wieder wuchs. Der Krieger am Boden trug einen Köcher auf dem Rücken. Vor einigen Augenblicken erst hatte er mit seinem Bogen auf ihn angelegt. Warum sollte er einen Kämpfer verschonen, der versucht hatte, ihn zu töten?

Artax atmete tief ein und stieß sein Schwert in die Scheide zurück. Die Schlacht war vorüber und damit auch das Töten! Plötzlich fühlte er sich so schwach, dass er sich auf das Rad eines umgestürzten Streitwagens aufstützen musste. Seine Beine schienen ihn nicht mehr tragen zu wollen, und der Schmerz unzähliger Prellungen riss ihn mit sich fort. Seine verwunschene Rüstung aus verleimtem Leinen und zähem Leder hatte zwar verhindert, dass auch nur eine einzige Pfeilspitze seine Haut geritzt hatte, doch hatte sie die Kraft des Aufschlags der Geschosse nur zum Teil aufgefangen.

Artax ließ den Verletzten hinter sich. Kaum war er ein paar Schritte gegangen, überfiel ihn stechender Schmerz. Er keuchte und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Seine Rechte fand ganz von allein wieder zum Schwertknauf. Die Waffe zu berühren linderte das Gefühl des Schmerzes. Zugleich ergriffen ihn wieder Wut und Kampfeslust. Es schien, als sei sein Schwert darauf aus, vom Blut seiner Feinde zu kosten. Er lachte freudlos auf. Offensichtlich war er schwerer am Kopf getroffen worden, als er angenommen hatte! Er war ja nicht mehr ganz bei Trost. Ein Schwert, das Blut trinken wollte! Er dachte daran, was der Ebermann ihm einst erzählt hatte. Dass eine hasserfüllte Seele aus einer anderen Welt in dieser Klinge hauste, seit er den Wurm aus grünem Licht erschlagen hatte und sich in das blaugraue Wellenmuster der Waffe ein vielfach verzweigter grüner Blitz gebrannt hatte, von dem ein unheimliches Leuchten ausging.

Artax erinnerte sich, wie er den Schwertarm hochgerissen hatte, um etliche der Pfeile von Bessos’ Armee zu zersplittern. War es ein Reflex gewesen, oder hatte die Waffe ihm geholfen, ihn vor den Geschossen zu bewahren, die vielleicht durch die Sehschlitze seines Helms gedrungen wären? Beschützte das Schwert ihn etwa?

Unendlich müde blickte der Unsterbliche zu dem steilen Pfad, auf dem er die kleine Gruppe von Flüchtlingen gesehen hatte. Nun zeigte sich dort niemand mehr. Artax schloss die Augen. Er wollte nur noch ruhen.

»Herr?«

Artax schlug die Augen auf und brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, wo er war. Ashot stand vor ihm. Es war dunkel geworden. Ein Stück entfernt brannte ein aus den Trümmern eines Streitwagens entfachtes Lagerfeuer, um das sich einige seiner Krieger versammelt hatten. Sie alle blickten in seine Richtung.

»Ihr wart tief in Gedanken, Herr?«

»Ja …«, entgegnete er zögerlich. Dann begriff er. Er trug noch immer den Maskenhelm, der sein Antlitz hinter einer silbernen Fratze verbarg. Müde tastete er nach dem seitlichen Helmscharnier und befreite sich. Ashot hatte nicht erkennen können, ob er nur sinnend den Kopf gesenkt hatte oder aber eingenickt war.

»Die Rebellen …«

»Wir haben die meisten gestellt. Auch die entflohenen Streitwagen wurden inzwischen eingeholt und haben aufgegeben.« Ashot lächelte zufrieden. »Ihr habt ihnen Todesangst eingejagt, Herr. Sie mochten gar nicht mehr aufhören zu laufen. Mataan lagert mit dem Großteil unserer Männer ein Stück weiter nördlich. Dort sind auch die Gefangenen. Ich bin mit einer Handvoll Männer hier geblieben, um …« Plötzlich wirkte er verlegen, als scheue er davor zurück, dass Offensichtliche auszusprechen. »… um über Euch zu wachen.«

»Danke.« Artax hatte Mühe zu sprechen. Sein Mund war staubtrocken. »Ich war eingenickt.«

»Wir waren uns nicht sicher«, entgegnete Ashot ein wenig verlegen. »Ihr hättet nicht alleine vorpreschen dürfen. Wir dachten einen Moment lang …« Statt den Satz zu Ende zu führen, zuckte er nur mit den Schultern. »Aber Ihr seid ja unsterblich.« Diesmal lag ein Hauch von Kritik in seinen Worten.

Artax musste schmunzeln. Das war ganz der Ashot, wie er ihn von früher aus dem Dorf kannte. Der Zweifler, der nie ein Blatt vor den Mund nahm. »Bessos?« Jedes Wort kratzte in seiner Kehle.

»Ist entkommen«, gestand Ashot zerknirscht.

Der Unsterbliche dachte an die Männer, die er auf dem steilen Pfad gesehen hatte. Er musste wissen, wohin dieser Weg führte. Müde hinkte er zum Lagerfeuer und ließ sich nieder. Noch schmerzte jedes seiner Glieder. Er bemerkte die Blicke seiner Männer, die ihn mit fast schon abergläubischem Staunen ansahen. »Sind schlechte Bogenschützen, diese Rebellen«, murmelte er und griff nach einer Kürbisflasche neben dem Feuer. »Bin froh, dass nicht ihr auf mich geschossen habt.«

Die Worte hatten den Bann gebrochen. Die Krieger unterhielten sich wieder leise miteinander.

Artax trank in langen, gierigen Zügen das schale Wasser in der Kürbisflasche, dann schickte er Ashot los, ihm einen Ortskundigen zu holen. Es dauerte lange, bis sein Gefährte zurückkehrte. Ihm folgte ein spindeldürrer Krieger mit rotem Bart, der den größten Bogen trug, den Artax jemals gesehen hatte.

»Ormu, Herr«, stellte Ashot den Fremden vor. »Er ist ein Jäger und kennt sich hier aus.«

Artax deutete auf den Berg, der im Licht eines schmalen Sichelmonds nurmehr ein Schattenriss vor dem Sternenhimmel war. »Dort gibt es einen Pfad. Wohin führt der?«

»Zum Steinhorst.«

»Was ist das?«, fragte Artax.

»Eine kleine Fluchtburg. Uneinnehmbar. Meist ist sie verlassen, weil sie so abgelegen liegt. Keiner, der nicht auf der Flucht vor mächtigen Feinden ist, möchte dort einen Winter verbringen. Bessos wird dorthin gegangen sein, denn an diesem Ort können wir ihn nicht besiegen.«

Artax betrachtete den Jäger skeptisch. Sein Antlitz war hager, vom Wetter gegerbt. Er wirkte nicht wie ein Mann, der schnell aufgab. »Warum können wir Bessos nicht besiegen? Er hat nur noch ein paar Dutzend Männer, die ihm treu sind.«

»Der Steinhorst liegt auf einer Felsnadel. Eine Brücke führt hinüber, deren hölzerner Mittelteil eingezogen werden kann. Die Burg verfügt über Zisternen und ein großes Lagerhaus. Mit genügend Vorräten können dort hundert Männer ein Jahr ausharren, ohne Hunger leiden zu müssen. Wenn Bessos vorgesorgt hat und dort oben Proviant lagert, dann brauchen wir den Saumpfad gar nicht erst zu erklimmen. Der Steinhorst wurde schon oft belagert, aber noch nie erstürmt. Dort oben in den Felsen tanzen die Geister des Windes. Ihr eisiger Atem schneidet bis tief ins Gebein, und ihr Wispern in der Nacht lässt selbst die mutigsten Männer verzweifeln. Kein Belagerer hält es dort oben lange aus. Wenn die hölzerne Brücke einmal eingezogen ist, vermögen nur noch Adler in den Steinhorst zu gelangen.«