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Der Unsterbliche dachte an Volodi und an den Spitznamen, den seine Krieger dem Drusnier gegeben hatten. Er vermisste die unverzagte Art seines Hauptmanns. Er hätte sich von solchen Geschichten ganz gewiss nicht einschüchtern lassen.

»Ich hatte einmal einen Kämpfer, der für mich über den Adlern schritt. Ich werde versuchen, es ihm gleichzutun. Morgen stürmen wir den Steinhorst. Bessos muss besiegt werden. Wenn ich ihn nicht bezwingen kann, dann wird sein Beispiel andere ermutigen, ebenfalls zu rebellieren.« Er wandte sich an Ashot. »Du suchst mir fünfzig Männer, die mich oder den riesigen Haufen Gold, den sie bekommen werden, so sehr lieben, dass sie mir selbst in den Gelben Turm folgen würden. Es wird so viel Gold sein, dass sie in ihrem Leben nie mehr einer ehrlichen Arbeit nachgehen müssen, wenn sie keine Spieler oder Narren sind. Morgen bringen wir es zu Ende!«

Ormu sah mit finsterer Miene auf ihn hinab. »Nur Narren werden Euch bei einem Angriff auf den Steinhorst folgen«, sagte er leise. »Ich werde mitkommen, um einst meinen Enkeln erzählen zu können, wie die Geister des Windes den Unsterblichen Aaron ins Verderben stürzten.«

Wo Menschen welken

Merob hatte ein schlechtes Gewissen. Sie kam zu spät. Viel zu spät … Sie hatte sich den ganzen vorangegangenen Tag unpässlich gefühlt. Ihr Herz hatte geschmerzt, die Beine waren schwer wie Blei gewesen. Sie war zu schwach gewesen, sich von ihrem Lager zu erheben, ja selbst zu schwach, um zu essen. Artiknos hatte sie dünne Suppe trinken lassen und ihr eine Schweineblase, gefüllt mit warmem Wasser, unter die Decke geschoben. Das hatte geholfen. Heute fühlte sie sich ein wenig besser. Doch Merob wusste, dass ihre Tage gezählt waren. Sie hatte zu lange tief im Fels verborgen gelebt. Menschen waren geschaffen für das Licht. Mussten sie sich fern des Lichtes verstecken, so erging es ihnen wie den Pflanzen – sie verwelkten vor der Zeit.

Merob betrachtete die grob behauenen Wände des Tunnels, durch den Artiknos sie trug. Der Flötenspieler war dagegen gewesen, dass sie ihr Lager verließ. Doch diese Angelegenheit duldete keinen Aufschub mehr. Sie musste den Spitzel von seinen Fesseln befreien. Statt der einen geplanten Nacht hatte er ganze zwei an den geheimen Kristall der Großen Mutter gefesselt verbracht. Nicht dass er noch einen Unterschied spüren würde. Er war längst dem Wahn anheimgefallen, so wie die anderen Ungläubigen, die eine Nacht bei dem Kristall und den Grünen Geistern verbringen mussten. Die Angst löschte ihren Verstand – und wenn sie schließlich geholt wurden, waren sie sabbernde Idioten geworden, für die Werden und Vergehen keinerlei Bedeutung mehr hatten, da sie kein Empfinden für den Fluss der Zeit mehr besaßen. Doch würde der Priester inzwischen schrecklichen Durst leiden. Ihn unnötig zu quälen widersprach ihrem Glauben, in dem jedes Leben heilig war, selbst das ihrer Feinde.

Plötzlich verharrte Artiknos. Jetzt hörte auch sie es. Spitzhacken! »Wo sind wir?«

»Etwa unterhalb des Fischmarktes der Insulaner«, entgegnete er, wobei sie ihm deutlich anhörte, dass er sich nicht ganz sicher war.

Die Insulaner. So nannten alle die seltsamen Bewohner der Schwimmenden Inseln, die das kleinste Viertel in der Goldenen Stadt unterhielten. Bislang hatten sie kaum in die Tiefe gegraben. »Wissen wir, was sie bauen?«

Artiknos schüttelte den Kopf. »Keiner beachtet sie. Kaum jemand weiß, was sie treiben.«

»Finde es heraus!«, befahl Merob entschieden. Jeder Keller, jeder Tunnel und jede Zisterne, die in den Fels des Steilhangs getrieben wurde, war eine Gefahr für sie.

Sie benutzte natürliche Höhlen, vergessene Grüfte und gesperrte Abwasserkanäle, um ihre Anhänger um sich zu versammeln. Mit wenigen neuen Tunneln hatten sie ein verborgenes unterirdisches Netz erschaffen, das sie für ihre heimlichen Zusammenkünfte nutzten. Merob wusste nur zu gut, dass alle Statthalter und die meisten Priester ihre Anhängerschaft zumindest mit Misstrauen, meist jedoch mit Hass betrachteten. Dabei waren sie die Einzigen, die diese Welt wirklich verstanden, die begriffen hatten, dass die Grünen Geister die Kinder der Großen Göttin waren und dass der Tag kommen würde, an dem sich Nangog aus ihrer Gefangenschaft befreien würde. Und an dem Tag sollte man besser nicht ihr Feind sein. Was dann geschehen würde, hatte der Spitzel in der Höhle am eigenen Leib erfahren. Kurz lauschte sie noch auf die Geräusche im Fels, dann bat sie Artiknos darum weiterzugehen.

Zu viele gruben in die Tiefe. Am schlimmsten trieben es die Besitzer der Lagerhäuser nahe der Goldenen Pforte. Da Bauplatz in der Nähe des magischen Portals selbst für die Reichsten unbezahlbar geworden war, vergrößerten die Handelsherren ihre Lagerhäuser einfach in die Tiefe. Ihren alten Versammlungsort hatten Merob und ihre Anhänger schon aufgeben müssen, weil einer der verborgenen Zugangstunnel bei der Erweiterung eines Lagerhauses entdeckt worden war. Sie mussten ständig auf der Hut sein. Die Alte machte sich keine Illusionen darüber, was mit ihr geschehen würde, wenn sie den Schergen der Statthalter in die Hände fiel. Sie würden den Kult um die Grünen Geister am liebsten auslöschen. Wie so viele Mächtige waren sie blind für die Zukunft und dafür, was gut für das Volk war, das sie regierten.

Merob sehnte den Tag herbei, an dem Nangog sich erhob. Den Tag, an dem sie endlich die Tunnel verlassen könnte, um noch einmal die Sonne zu sehen. Es musste bald geschehen! Sie wusste nur zu gut, wie krank sie war. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Und sie hatte immer noch nicht entschieden, wer ihre Nachfolgerin sein würde. Das war eitel und dumm. Und doch brachte sie es nicht über sich – hatte sie doch das Gefühl, dass auf einer ihrer Versammlungen ihre Nachfolgerin zu benennen gleichbedeutend damit war, einen großen Schritt in Richtung Grab zu tun.

Eigentlich sollte ihre Wahl auf Zarah fallen. Sie war beliebt in der Gemeinde, sie hatte Einfluss und bereits unzählige Male ihren Mut bewiesen, wenn sie nachts mit grüner Kreide ihr Zeichen auf die Sockel von Statuen, die Ziegelsteinwände der Lagerhäuser und manchmal gar auf die Türen von Palästen malte. Der formlose grüne Fleck, das Zeichen für die Geister Nangogs. Aber Merob gefiel Zarahs Lebenswandel nicht, so klug und mutig sie auch sein musste. Ein solches Weib sollte keine Priesterin der Großen Göttin sein!

»Was soll ich mit dem Spitzel machen?«, unterbrach Artiknos ihre Gedanken.

»Setz ihn vor dem Haus der barmherzigen Brüder ab. Vielleicht nehmen sie ihn auf. Und wenn nicht, ist es nicht unsere Sache. Er hat seine Seele an die Herrschenden verkauft und wusste, dass er sich in Gefahr begibt, wenn er uns nachschnüffelt. Ganz sicher hätte er keine Gewissensbisse gehabt, uns alle an die Henker der Statthalter auszuliefern. Wir aber sind gnädig. Wir lassen ihm sein Leben. Und wenn die dort oben«, sie blickte zu der rußgeschwärzten Decke des Tunnels über ihr, »weniger gnädig sind und einem Verrückten kein Gnadenbrot schenken, dann soll dies nicht unsere Sorge sein.«

Artiknos widersprach nicht. Er hatte schon für sie getötet, aber Merob wusste, dass er es, wie alle Jünger der Großen Göttin, hasste, Blut zu vergießen. Sie stiegen tiefer und tiefer in den Fels hinab, durchquerten ein Stück eines bestialisch stinkenden Abwasserkanals und erreichten endlich den kurzen Tunnel, der zur Kristallhöhle führte. Hier hieß Merob den Flötenspieler, sie abzusetzen. Die letzten Schritte wollte sie aus eigener Kraft tun.

Mit wackligen Knien ging sie der Höhle entgegen, nur um im Eingang wie versteinert stehen zu bleiben. Dutzende Grüne Geister glitten durch die Höhle. Sie tanzten um den Spitzel herum, der Merob mit klarem Blick entgegensah. »Du kommst spät, Erste Mutter, doch ich weiß um dein Unwohlsein und vergebe dir. Die Große Mutter hat mich unterrichtet. Sie will, dass ich von nun an ihr Priester bin, ihre Stimme in den Ohren der Menschen. Du aber bleibst die Erste Mutter, die gütige Herrin, die unseren Bund anführt. Und nun sei so gut, Mutter, und löse meine Fesseln.«