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Vorsichtig lockerte Nandalee den Pfeil und zog ihn durch den klaffenden Spalt, den ihre Klinge ins Fleisch geschnitten hatte. Der Drache atmete scharf aus, als der Pfeil aus der Wunde glitt. Fleischfasern hingen an den Widerhaken.

Ich bin geneigt, auch dir einen Teil des Schmerzes zuteilwerden zu lassen, den du mir geschenkt hast.

»Ich denke, Gonvalon wird solchen Großmut nicht zu schätzen wissen.« Nandalee zupfte die Fleischfasern von der Pfeilspitze und wischte das Blut mit einem Lappen fort. »Vergiss nicht, was ich dir über meine Herde gesagt habe. Wenn du die fliegenden Pferde jagst, kehre ich zurück. Und dann werde ich dich töten.«

Der Rotrücken bleckte seine Zähne. Sehe ich aus, als wäre ich leicht umzubringen?

Nandalee lächelte ihn herausfordernd an. »Sehe ich aus, als wäre ich klug genug, um mich dadurch von irgendetwas abhalten zu lassen?«

Nein, klug bist du in der Tat nicht. Ich sehe deine Zukunft, Nandalee. Du bist rastlos und launisch – eines Tages wirst du all jene verraten, die dich lieben.

»Wenn ich also schon gefährlich für die bin, die ich liebe, kannst du dir dann vorstellen, was jene erwartet, die ich hasse?«, entgegnete sie kalt und hielt den Blick des Rotrücken so lange, bis dieser seine Schwingen ausbreitete und sich mit mächtigem Flügelschlag vom Steppenboden erhob.

»Was hat er zuletzt gesagt?«, fragte Gonvalon, der den Drachen nicht aus den Augen ließ, als fürchte er, der Jäger könne es sich noch einmal überlegen und zurückkehren.

»Nur Lügen.«

Nandalee wusste, dass einigen der roten Drachen seherische Fähigkeiten nachgesagt wurden. Hatte er die Warheit gesagt? Die Elfe konnte sich nicht vorstellen, dass sie Gonvalon je verraten würde.

Er war der eine, bei dem sie Frieden fand. Es würde niemals einen anderen geben.

Die Nacht der Sieger

Talawain betrachtete die Schlafende und sah dann in seinen bronzenen Handspiegel. Er hatte ihr Gesicht gut getroffen. Zufrieden legte er den Schminkpinsel zurück auf den kleinen Tisch neben seinem Lager und verschloss die Tiegel, in denen er all seine kostbaren Farben verwahrte, die auch Kazumi gerne verschwenderisch benutzte. Das Kajal in seinem Alabasterschälchen, das er selbst aus dem Ruß von verbranntem Butterschmalz gefertigt hatte und mit silbernen Stäbchen um die Augenränder auftrug. Oder das aus geriebenem Malachit gefertigte Pulver, mit dem er manchmal einen zarten, grünen Schatten auf seine Augenlider legte. Dazu Henna, das sparsam benutzt einen Hauch von Rot auf die Wangen zauberte. Mit einem Lächeln schloss er den kleinen Tiegel aus blütenweißer Keramik, den Kazumi ihm geschenkt hatte. Er stammte aus ihrer Heimatstadt und enthielt eine Salbe aus Honig, Wachs, Ziegelstaub und Rubinpulver. Auf die Lippen aufgetragen, verlieh er diesen ein leuchtendes Rot, in dem sich funkelnd Lichtreflexe brachen. Nie zuvor hatte er eine solche Lippensalbe besessen. Nicht einmal in Albenmark. Talawain warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel und nickte sich selbst zu. Es war geglückt – er sah Kazumi ähnlich genug, befand er.

Der Elf hatte sein Gesicht ein wenig verändert, es runder erscheinen lassen, und seinem Haar hatte er eine schwarzseidene Farbe gegeben. Ein wenig Magie und viel Schminke hatten ihn in eine der berühmten Konkubinen vom Seidenfluss verwandelt.

Kazumi hatte ihn in den letzten beiden Wochen mehrfach mit der Gunst ihrer Anwesenheit beehrt. Oft genug, dass niemand sich wundern würde, sie sein Zelt verlassen zu sehen. Sie war von zierlicher Gestalt. Ein wenig kleiner als er, aber das würde wohl kaum jemand bemerken. Wie sie so dalag im warmen Licht der Öllampe, war das Mädchen vom Seidenfluss eine Schönheit. Ganz anders als Ashira, die pockennarbige Masseurin, der seine Gunst zum Verhängnis geworden war. »Ich werde gut auf dich achtgeben«, flüsterte er und strich ihr sanft das Haar aus dem Gesicht. Kazumi lächelte im Schlaf. Sie würde lange schlafen. Er hatte Mohn in ihren Wein gegeben. Sie musste hierbleiben, denn sie war sein Alibi – auch wenn sie davon nichts wusste.

Er zupfte das kostbare Wickelkleid zurecht, das er von ihr geliehen hatte. Der Saum war um ein weniges zu kurz. Aber bei einer Konkubine würde das kein Aufsehen erregen. Talawain nahm ihren langen, schwarzen Umhang von der Kleidertruhe und verließ das Zelt. Die Siegesorgie im Lager hatte die ganze Nacht gedauert. Überall lagen Betrunkene. Manche hielten noch die Weiber im Arm, mit denen sie sich amüsiert hatten. Er sah, wie ein junges Mädchen mit zerrissenem Kleid einem fetten Kerl, der zum Erbarmen schnarchte, die Börse vom Gürtel schnitt. Die ertappte Diebin sah angstvoll zu ihm auf und hob ihr Messer.

Talawain schüttelte sanft den Kopf. Sollte sie die Geste deuten, wie sie wollte. Er ging weiter, ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen. Manchmal widerten ihn die Menschen an. Draußen auf dem Schlachtfeld mussten noch Hunderte Verwundete liegen, wenn nicht Tausende. Statt sie zu bergen, feierten sie und soffen und hurten sich um den Verstand. Sicher, der Schrecken der Schlacht steckte ihnen noch in den Gliedern. Aber war das eine Entschuldigung, jene sterben zu lassen, die vielleicht gerettet werden könnten? Der Unsterbliche hätte in dieser Nacht nicht das Lager verlassen dürfen! Auf ihn hätten sie gehört. So nobel es war, einen der Toten stellvertretend für alle anderen in sein Dorf zurückzubringen, es hätte nicht in dieser Nacht geschehen sollen.

»He, Schöne. Wie wär’s mit uns beiden?« Aus einem Zelt, dessen Seitenwände hochgeklappt waren, winkte ihm ein bärtiger Zecher zu. Er trug ein langes, himmelblaues Gewand mit goldenen Stickereien. Da es keiner der Satrapen war – die kannte Talawain alle –, musste er zu den Hauptleuten gehören, die von den Bauernkriegern gewählt worden waren. Wahrscheinlich ein verdienter Mann. Die ihn umgebenden Zechkumpane waren Talawain ebenfalls unbekannt, doch dann sah er Mataan, den Satrapen von Taruad, einen der engsten Vertrauten des Unsterblichen Aaron. Obwohl er noch aufrecht saß, sah der Fischerfürst zum Erbarmen aus. Sein wettergegerbtes Gesicht wirkte ausgezehrt, die Augen waren rot entzündet. Er trank offensichtlich nicht, um zu feiern. Er wollte das Grauen der Schlacht in Wein ertränken.

»Komm schon, Mädchen. Ich zeige dir, wie man richtig feiert!«

Talawain wich scheu zurück. Seine Verkleidung war ihm augenscheinlich gut gelungen. Vielleicht etwas zu gut.

Nun stand der Kerl mit dem Bart mühsam auf. Im Sitzen hatte er größer gewirkt. Vielleicht spielte er sich deshalb so auf. Ein kleiner Mann, der Aufsehen suchte.

»Zier dich nicht so! Du bist auch nur eine Schlampe wie all die anderen Huren im Lager. Komm, ich habe heute mein Blut vergossen, jetzt will ich Spaß!«

»Auch für mich sind die Tage des Blutes gekommen«, entgegnete Talawain mit gesenktem Blick. «Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Euch deshalb nicht zu Willen sein kann, edler Recke.«

»Mich stört das nicht.« Der Krieger machte einen schwankenden Schritt in seine Richtung, als Mataan ihn packte. »Lass sie, Arikan, oder willst du unseren Sieg besudeln, indem du ein Weib entehrst.«

»Ich bin fast von einem dieser grauen Ungeheuer zertrampelt worden. Ich habe stundenlang im Schildwall gekämpft und mich dabei mit Blut, Scheiße und dem Hirn von erschlagenen Feinden besudelt.« Arikan stieß Mataans Hand weg und lavierte sich zwischen mehreren Kriegern hindurch, die auf Teppichen und Kissen hingestreckt lagen und dem Geschehen neugierig folgten. Einer der Männer hielt ein leicht geschürztes Mädchen in den Armen. Er feuerte ihn zuerst an, dann folgten weitere und bald brüllten alle im Zelt, er solle sich holen, was er haben wolle. Der Hauptmann streckte die Arme aus und verbeugte sich wie ein Schauspieler, der auf der Bühne dem Applaus seines Publikums dankt. »Ich glaube«, erklärte Arikan mit tief dröhnender Bassstimme, »meine Ehre hat erheblich gelitten, als ich wimmernd zwischen den stampfenden Füßen des Kopfschwänzlers umhergekrochen bin. Und ich glaube auch, dass man ein Weib, das seine Ehre schon längst verkauft hat, gar nicht mehr entehren kann.«