Merob blickte fassungslos auf die Geister, die in schillerndem Reigen um den Kristall und ihren Gefangenen tanzten. Nie zuvor hatte sie so viele gesehen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Hatte die Große Mutter nun an ihrer Stelle entschieden? Würde dieser Mann ihr Nachfolger werden? Warum hatte Nangog ihr sein Kommen nicht angekündigt?
Merob stützte sich an der Höhlenwand ab. Sie hatte das Gefühl, dass all ihre Kräfte sie verlassen wollten. »Befrei unseren Freund«, wies sie Artiknos an, der vom Anblick der Geister nicht weniger ergriffen schien, als sie es war. Alle Schönheit Nangogs spiegelte sich in diesem Tanz.
Der Priester wirkte nicht erschöpft. Keine Krämpfe schüttelten ihn, obwohl er so lange an den Kristall gefesselt gewesen war. Mit federndem Schritt kam er ihr entgegen. Merob kannte diese Kraft, die die Große Göttin ihren Auserwählten schenkte. Als junge Frau hatte sie manchmal nächtelang durchgetanzt, um Nangog zu ehren. Sie seufzte. Diese Zeiten waren lange vorüber.
Nun kniete der Priester neben ihr nieder und ergriff mit gewinnendem Lächeln ihre Hände. »Ich bin nicht hier, um dir etwas wegzunehmen, Merob. Ganz im Gegenteil. Wir werden die Macht der Göttin mehren. Bald schon werden außergewöhnliche Besucher in die Goldene Stadt kommen. Wir sollen ihnen helfen und ein Haus im Herzen der Stadt für sie mieten. Sicherlich könnte uns Zarah dabei behilflich sein.«
Merob sah überrascht auf. »Du weißt auch um sie?«
»Die Große Göttin teilte viele ihrer Geheimnisse mit mir«, sagte er freundlich lächelnd. »Ich weiß sogar, wer dein Sohn ist. Dass Nangog ihn von den Toten wieder auferstehen ließ und dass ihm noch Großes bestimmt ist. Bald schon wird sich diese Welt verändern. Unsere Herrin wird ihre Fesseln abstreifen, und alle, die sie verachtet und gedemütigt haben, werden ihr Jammern und Wehklagen erheben, wenn Nangogs Kinder Gestalt annehmen. Wir aber werden in Sicherheit sein, denn die Göttin vergisst keinen, der ihr gedient hat, ebenso wenig, wie sie die Frevler vergisst.« Mit diesen Worten sah er Artiknos an. »Und von dir erwarte ich, meinen Dolch zurückzuerhalten. Und zwar sehr bald. Einen Vertrauten der Großen Göttin zu bestehlen ist keine Kleinigkeit, mein Sohn.«
Alte Freunde
Kolja hatte seinen Männern verboten, in eines ihrer Bordelle in der Goldenen Stadt einzukehren. Er wollte Eurylochos, seinen Stellvertreter, mit seiner Rückkehr überraschen. Der aegilische Steuermann war ein Schlitzohr, ein Halunke, dem jede Schandtat zuzutrauen war und deshalb genau die rechte Wahl, um die Freudenhäuser zu verwalten. Dieser Aufgabe war er sicherlich gewachsen gewesen.
Koljas Blick wanderte über die hohen Häuser, die die Straße zu ihrem Hauptquartier säumten. Er befand sich in einem der besseren Viertel der Stadt. Die Dächer hier waren zwar nicht vergoldet, aber es gab keine fliegenden Händler und Bettler und die Nachttöpfe wurden nicht einfach auf das Pflaster entleert, da jedes der Häuser an die Abwassertunnel angeschlossen war, die den Hang hinab zum Fluss verliefen. Er genoss es, die Fassaden zu betrachten. Manche schmückten sich mit Fresken, die durch die schweren Regenfälle jedoch schon so gelitten hatten, dass an zahllosen Stellen der Putz abgeplatzt war und das blanke Mauerwerk offen lag. Andere hatten aufwändige Hochreliefs angebracht, die ein Vermögen gekostet haben mussten. In der Regel zeigten sie, womit der Besitzer reich geworden war: aneinandergekettete Sklaven, Bauern bei der Reisernte, Rinder. Kolja überlegte, ob sie die Front ihres Hauses mit anzüglichen Bildern von Liebesdienerinnen schmücken sollten. Er lächelte versonnen vor sich hin, als er an die fette Matrone dachte, die etwas weiter hangabwärts lebte und ein Vermögen im Gewürzhandel gemacht hatte. Sie gab sich gerne keusch und moralisch. Sie wäre entsetzt von solchen Bildern.
Ob es wohl noch Widerstand gegen ihn und seine Männer gab? Oder hatten die Schläger und Türsteher der anderern Freudenhäuser endlich eingesehen, wer stärker war? Er dachte an Leon, den Trurier, der sich zum Anführer der Luden der Goldenen Stadt aufgeschwungen hatte. Auch jener hatte gedacht, er könne ihn vernichten … Sicher gab es noch Ärger. So war die Welt. Es gab immer irgendwo Ärger.
Das Pflaster der abfallenden Straße war noch nass von einem Regenschauer. Er musste auf seine Schritte achten und sah erst wieder auf, als er die Stelle passierte, an der der Schrank gestanden hatte, in der die Zapoter den Leichnam seines Türstehers Atmos so drapiert hatten, dass er mit irrem Grinsen sein eigenes, herausgeschnittenes Herz in Händen hielt. Das war mal ein Zeichen gewesen! Die Zapote verstanden sich darauf, Schrecken zu verbreiten.
Damals hätte er nicht für möglich gehalten, dass er auch mit ihnen eines Tages Geschäfte machen würde. Dass sie sich Volodis angenommen hatten, war überaus nützlich. Es hatte ihm keine Freude gemacht, seinen Gefährten zu verraten, aber Volodi wäre einfach zu einer Gefahr für ihr Geschäft geworden. Er hätte sich ganz gewiss vom Unsterblichen Aaron erweichen lassen, länger in seiner Leibgarde zu dienen. Und Volodi war beliebt bei den Männern. Er hätte die Mehrzahl von ihnen mit sich genommen. Das ging nicht! Sie mussten sofort nach ihrer Rückkehr eine respektable Hausmacht in der Goldenen Stadt aufstellen, um ihre Verbindungen weiter ausbauen zu können.
Beim Unsterblichen zu bleiben hätte den Männern nichts gebracht. Hier auf Nangog jedoch würden sie irgendwann reich und satt in ihren Betten verrecken. Aaron hingegen hätte sie in eine Schlacht nach der anderen geführt, bis auch der Letzte umgekommen wäre. Für ihn würden sie immer nur ein paar Söldner und Piraten bleiben. Ihre Leben zählten nicht.
Für die Männer ist es besser, dass ich nun ganz allein das Kommando führe, dachte Kolja. Und dass Volodi ohne Abschied verschwunden war, nahmen ihm seine Kampfgefährten übel. Kolja hatte das Gerücht ausgestreut, sein Freund sei auf den Herrensitz seines Vaters zurückgekehrt. Wäre er einfach verschwunden gewesen, hätten die Männer womöglich noch angefangen, nach ihm zu suchen. So war es besser. Wer einmal das Weiße Tor der Tempelstadt hier in Nangog durchquert hatte, der kam nie wieder zurück. Heute Nacht würde er im Andenken an Volodi eine Amphore guten Weins leeren. Sein Kamerad war einfach nicht für diese Welt geschaffen gewesen.
Kolja stieg die ausgetretene Treppe zum Eingang des Hurenhauses hinab. Der Türsteher starrte ihn mit weiten Augen an. »Du bist zurück.«
Der Drusnier lächelte. »Gut beobachtet. Ich schätze Männer, die ihren Kopf gelegentlich zum Denken benutzen, und nun lass mich herein.«
Der verdatterte Kerl riss die Tür auf. Zufrieden registrierte Kolja, dass der Türsteher gewaschen war und in sauberen Kleidern steckte. Dieses Haus war reicheren Gästen bestimmt. Angetrunkene Schläger, die rochen, als hätten sie in ihrer eigenen Pisse übernachtet, waren hier nicht tragbar.
Zwei junge Frauen warteten hinter der Tür. Er kannte beide nicht. Eine war sehr klein und zierlich und schien vom Seidenfluss zu kommen.
»Wie können wir dich beglücken, Herr?« Die Zierliche sprach ihn ohne Zögern an, während es der anderen nicht gelang, ihren Abscheu vor ihm zu verbergen. Kolja wusste nur zu gut, wie übel er aussah, einarmig und mit seinem von Hunderten Faustkämpfen vernarbten Gesicht. Aber wer in ein Freudenhaus kam, wollte nicht schon beim Eintritt in die Wirklichkeit zurückgeholt werden. Hier sollten Träume wahr werden. Die Blondine, die sich nun langsam fasste und zu einem falschen Lächeln zwang, war nicht gut fürs Geschäft. Sie sollte in einem billigeren Haus arbeiten, wo statt mit Träumen nur mit Fleisch gehandelt wurde.
Kolja hielt auf die kleine Treppe zu, die hinauf zu seinem Zimmer führte, das er Eurylochos überlassen hatte. Die Zierliche machte eine Geste, ihn aufzuhalten, stellte sich ihm aber nicht in den Weg. »Dort oben darf nicht jeder hin …«, sagte sie mit hinreißendem Akzent.