Verwundert beobachtete Nodon, wie Nandalee geradewegs auf den hölzernen Turm zuging und ihr Haupt gegen den Stamm lehnte, wie man sich vielleicht erschöpft an die Schulter eines guten Freundes lehnen mochte. In dieser Geste lag etwas zutiefst Verstörendes. Er hatte das Gefühl, dass sich Nandalee mit dem Baum verständigte. Nervös ließ er den Blick über die Sumpflandschaft schweifen, um zu sehen, ob sich wieder die Grünen Geister zeigten. Doch er entdeckte nichts Verdächtiges. Nichts, was greifbar war, und doch warnte ihn sein Instinkt, dass sie geradewegs in eine Falle liefen.
In diesem Augenblick schrie Bidayn auf. Nodon fuhr herum und duckte sich dabei intuitiv. Ein armdicker, fleischiger Fangarm verfehlte ihn nur knapp. Diese Dinger waren plötzlich überall um sie herum. Zuckten und wanden sich und suchten nach Beute. Sie schossen aus dem Nebel herab, von dort, wo die Äste des Baums sein mussten.
Einer der Fangarme hatte sich Bidayn um die Brust gelegt und zog die junge Zauberweberin zum Himmel hinauf. Nodon duckte sich erneut und hob sein Schwert, bereit, den nächsten Tentakel, der ihm nahe kam, abzutrennen.
»Lass die Waffe sinken!«, sagte Nandalee kühl. Sie hatte ihren Bogen gehoben. Auf der Sehne lag ein Pfeil, der auf sein Herz zielte.
Er hatte es geahnt, sie hatte sie verraten!
Das Grab über den Wolken
Nodon erwog, es darauf ankommen zu lassen. Er war sich fast sicher, dass er den Pfeil ablenken könnte. Er war unvergleichlich mit der Klinge. Nicht Gonvalon, der sich so lange in der Weißen Halle aufgespielt hatte, war der wahre Schwertmeister.
»Die Große Mutter hat uns einen Verbündeten geschickt«, sagte Nandalee beschwörend. »Diese Tentakel sind keine Gefahr. Sie werden uns aus diesem verfluchten Dschungel hoch über die Wolken heben. Wir werden in der Höhe reisen. Die Mühsal hat ein Ende.«
Noch während sie sprach, schlang sich einer der fleischigen Fangarme um Nandalees Taille. Sie ließ es ohne Widerstand geschehen. Auch Lyvianne und Gonvalon wurden in Fesseln aus Fleisch geschlagen. Beide wehrten sich nicht, als sie hinauf in den Dunst gezogen wurden. Nodon sah ihnen nach. Während seine Gefährten verschwanden, erschienen über ihm andere Fangarme. Sie waren dünner, liefen in Haken aus und in Hornplatten, die entfernt an kantige Klingen erinnerten.
»Er spürt deine Feindseligkeit.« Nandalee klang jetzt verzweifelt. »Willst du diese Mission gefährden?«
Der Elf schob sein Schwert in die Scheide. Weder Lyvianne noch Gonvalon hätten sich einfach so fangen lassen. Sie wussten etwas über die Kreatur dort oben im Nebel. Es ärgerte ihn, dass er über so vieles nicht unterrichtet worden war. Nangog war den Albenkindern verboten! Woher kam das Wissen seiner Gefährten?
Nodon verschränkte mit übertriebener Geste die Hände hinter seinem Kopf und duldete, dass sich auch um seine Taille ein Tentakel schlang. Gleichzeitig mit Nandalee wurde er emporgehoben. Eine Bewegung, so schnell, dass ihm übel wurde. Binnen eines Herzschlags waren sie in den Dunstschleiern. Er sah Schatten mächtiger Äste an sich vorüberhuschen, und schon schossen sie dem Himmel entgegen.
Der Dunst wurde lichter. Undeutlich erkannte Nodon Fangarme, die sich um den Stamm und die dicksten Äste des Baumriesen klammerten. Dann tauchte über ihm ein Rumpf auf, als ankere ein Schiff im Himmel. Er glitt an dunklen, bemoosten Planken vorüber durch einen Schacht, der von Dutzenden von Ladeluken gesäumt wurde. Einmal erhaschte er einen kurzen Blick in ein Frachtdeck, wo Amphoren auf hölzernen Gerüsten vertäut lagen.
Schlagartig endete die Aufwärtsbewegung. Der Fangarm schwenkte ein Stück zur Seite, und Nodon wurde sanft auf einem rot gestrichenen Deck abgestellt.
Verwundert sah der Elf sich um. Dies war tatsächlich ein Himmelsschiff! Erstaunlicherweise schien es verlassen zu sein. Außer seinen Gefährten sah er kein Lebewesen an Bord. Die Masten wuchsen hier fast waagerecht aus den Schiffsflanken. Die großen, dreieckigen Segel, die zwischen den Masten und dem Rumpf aufgezogen werden konnten, waren bis auf zwei vertäut. Verwundert betrachtete Nodon einen Baum, der keine zehn Schritt entfernt aus der Mitte des Decks aufragte. Er war in Erde eingelassen. Wie welkes Laub lagen bunte, tote Vögel um ihn herum. Er sah auch zwei Affenkadaver. Nodons Blick folgte dem knorrigen Stamm. Etwa zwanzig Schritt über Deck wuchs das schleimbedeckte Astwerk in den Leib der gewaltigen Kreatur, die das Wolkenschiff trug. Mit einer Mischung aus Staunen und Ekel musterte er den gewaltigen, aufgedunsenen Körper, aus dessen Unterseite Hunderte von Fangarmen hervorwucherten. Manche hielten den Schiffsrumpf umfangen. Andere bildeten zuckende Knäuel. Jetzt sah Nodon auch Seile, die zu der Kreatur hinaufreichten und sie an das Schiff fesselten.
»Ein Wolkensammler«, bemerkte Nandalee lakonisch. »Stell sie dir wie eine Mischung aus Tintenfisch und Qualle vor, nur dass sie ein wenig größer sind und die Gase in ihrem Leib sie schweben lassen.« Ohne weitere Erklärungen ging die Elfe zielstrebig auf den Baum zu, der aus dem Rumpf emporwuchs. Sie lehnte ihren Kopf gegen den Stamm. Dabei schloss sie die Augen, und Nodon erschien es, als horche sie.
Der Schwertmeister spürte, wie sich das Schiff bewegte. Die Fangarme lösten sich vom Baumkönig, ihrem Ankerplatz, und langsam stieg das riesige Himmelsgefährt höher, wobei es Richtung Westen driftete. Nodon trat an die Reling und blickte auf das Meer grüner Wipfel hinab, in das zarte Dunstschwaden eingewoben waren. Ein Schwarm flammend roter Vögel, fast so groß wie Hühner, zog unter ihnen über die Bäume hinweg. Als Schleim direkt neben ihm auf das Deck troff, spannte er sich an und blickte bewusst nicht nach oben. Er wollte dieses ekelhafte, aufgedunsene Ding, das sie trug, nicht sehen!
»Hier liegt ein Toter!«, rief Gonvalon plötzlich. Er war zum Bug des Himmelsschiffes gegangen und stand bei einem niedrigen Decksaufbau. Nandalee reagierte nicht auf ihn, und auch Bidayn, die ein Stückweit entfernt in Gedanken versunken an der Reling stand, ignorierte den Schwertmeister. Lyvianne jedoch eilte zu ihm, und Nodon folgte ihr.
An der Rückseite des Decksaufbaus führte eine steile Treppe ins Zwielicht eines Frachtdecks. Auf dem oberen Absatz der Treppe kauerte ein Menschensohn mit dem Rücken zur Wand. Er hatte den Kopf weit in den Nacken gelehnt und sah aus, als habe sich sein ganzer Leib im Tod verkrampft. Sein Mund stand offen, und seine toten Augen starrten zu den sich windenden Tentakeln am Leib des Wolkensammlers hinauf. Er trug eine verwaschene, blaue Tunika. Seine Rechte umklammerte etwas, das an einem Lederriemen um seinen Hals hing. Vielleicht ein Amulett?
Nodon sah sich beklommen um. Es gab keine sichtbaren Wunden bei dem Toten. War er vergiftet worden? Was war auf diesem Himmelsschiff geschehen, bevor sie hier ankamen?
Lyvianne kniete sich neben den Menschensohn. Sie schnupperte über seinem offenen Mund, tastete über seine Glieder und zwang mit erstaunlicher Kraft seine verkrampfte Hand auf. Er hielt darin einen durchbohrten, fahlgrünen Stein.
»Er ist erstickt«, sagte die Zauberweberin und sah dabei in den Frachtraum hinab. Zögerlich tat sie ein paar Schritte und murmelte ein Wort der Macht. Nodon spürte einen eisigen Luftzug, dann stieg Lyvianne tiefer in das Schiff hinein. Er zog im gleichen Augenblick sein Schwert wie Gonvalon. Ihre Blicke begegneten sich, und ohne ein Wort zu sprechen, war ihre alte Feindschaft begraben. Zumindest so lange, bis sie wussten, was sie dort unten erwartete.
Das Licht schien aus den letzten Winkeln des Frachtraums zu kriechen, um sich um Lyvianne zu versammeln, die bald von einer unstet zitternden, blaugrauen Aureole umwoben war, während rings um sie alles in tiefste Finsternis versank. Innerhalb des Lichtkranzes lagen zwei weitere Tote auf dem Deck. Beides junge Männer. Auch sie waren in verwaschene, blaue Tuniken gekleidet.