»Ebenfalls erstickt«, sagte Lyvianne und schritt weiter. Die Aureole, die sie begleitete, entriss weitere Leichen der Finsternis, bis sie vor einer seltsamen Kiste stehen blieb, die im hintersten Winkel des Frachtraums hinter Bündeln aus grobem Segeltuch verborgen stand. Eine verloschene Laterne krönte die Kiste, umgeben von grünen Steinen und einigen Splittern aus grünem Glas und Kristall.
»Ein Kultplatz?«, flüsterte Gonvalon, als fürchte er, seine Stimme könne über den Lichterkranz hinaus in die Finsternis reichen.
Lyvianne zögerte zu antworten, und Nodon trat neben sie, um die seltsame Sammlung von Steinen zu betrachten. Die Idee, Götter anzubeten, war ihm, wie allen Elfen, fremd. Kobolde taten so etwas und vielleicht auch Zwerge. Sie hingegen kannten die Götterdrachen. Er selbst war ein Diener Nachtatems und seinem Gebieter unzählige Male begegnet. Niemals würde er auf die Idee kommen, einen Schrein mit Lichtern und schwarzen Steinen zu errichten, um der Himmelsschlange zu huldigen. Sein Dienst an dem Erstgeschlüpften war seine Art, ihn anzubeten. Wer solche Altäre errichtete, der war seinen Göttern noch nie begegnet, dachte er abschätzig. Wer von ihnen durchdrungen war, benötigte solchen Tand nicht.
»Sie haben hier wohl Schutz gesucht«, mutmaßte Gonvalon.
»Dann scheinen sie ihrem grünen Gott nicht viel bedeutet zu haben«, entgegnete Lyvianne herablassend. »Oder sie beteten zu Hirngespinsten. Es sieht so aus, als hätten sie es in aller Heimlichkeit getan. Wahrscheinlich, um dem Spott ihrer Kameraden zu entgehen.«
»Ihre Kameraden liegen tot im Heiligtum unter der Eiche.« Nandalees Stimme durchschnitt die Dunkelheit. »Alle hier an Bord sind tot. Die Große Göttin hat sie unserer Bequemlichkeit geopfert. Sie ist es, die an diesem Altar angebetet wurde. Und sie ist alles andere als ein Hirngespinst, Lyvianne. Sie ist das gefesselte Herz dieser Welt, und wir werden es befreien, damit es wieder voller Kraft schlagen kann. Das ist unsere Mission.«
»Wir dienen einer Göttin, die ohne zu zögern ihre Anhänger unserer Bequemlichkeit opfert?«, fragte Gonvalon aufgebracht. »So eine Kreatur sollte in Fesseln geschlagen bleiben, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichtet.«
»Mir scheint, dir hat sich der Sinn unseres Seins noch nicht ganz erschlossen, Gonvalon. Wir sind die Krallen der Himmelsschlangen. Unheil anzurichten ist unser Daseinszweck. Erinnere dich an den Überfall auf die Tiefe Stadt.« Lyvianne lächelte den Schwertmeister kühl an. »Ganz gleich, was für romantische Gedanken dir im Kopf herumspuken, du kannst deiner Bestimmung nicht entkommen. Und die besteht darin, Blut zu vergießen. Auch unschuldiges Blut. Mir scheint, der Fluch, der auf allen Drachenelfen liegt, hat dich wieder eingeholt. Dem Goldenen davonzulaufen hat nicht geholfen.«
Gonvalon schob sein Schwert in die Scheide zurück. »Ich werde mich an diesem Unrecht nicht beteiligen!«
Nodon behielt seine Waffe in der Hand. »Was nutzt es, den Befehl zu verweigern? Ich werde dem Wort der Himmelsschlangen gehorchen. Die anderen auch, so wie ich das sehe. Du veränderst also gar nichts, es sei denn, du stellst dich uns in den Weg.« Er musterte den Schwertmeister abwartend. Gonvalon glaubte an die Ordnung der Welt, das gab ihm den inneren Halt – wahrscheinlich wegen seines zügellosen Lebens. In seinen Augen war er nur noch ein Schatten des Mannes, der er einmal war.
»Fürchtest du mich so sehr, dass du das Schwert in der Hand behältst, obwohl wir nur reden?« Gonvalon schenkte ihm ein verächtliches Lächeln. »Womit willst du mir entgegentreten, sollten wir wirklich einmal gegeneinander kämpfen?«
Nandalee trat in den Lichtkranz, der Lyvianne umgab, und für einen Augenblick glaubte Nodon, einen grünen Schimmer in ihren Augen leuchten zu sehen. Sie wirkte machtvoll und selbstbewusst. Wie Lyvianne, obwohl die beiden Frauen sich in allen anderen Aspekten unterschieden wie Tag und Nacht: War Nandalee die oft unbeherrschte Kriegerin, die ihr Herz auf der Zunge trug, so war Lyvianne die geheimnisumwobene Zauberweberin, und wenn sie redete, dann stets mit Bedacht.
»Ich dulde keinen Streit.« Die junge Elfe sprach, als sei sie das Befehlen ein Leben lang gewöhnt. Dass sie genau genommen nicht einmal eine richtige Drachenelfe war, merkte man ihr nicht an.
»Wir kämpfen für die richtige Sache!«, fuhr Nandalee fort. »Das hier hat nichts mit dem Gemetzel in der Tiefen Stadt gemeinsam.«
»Wenn man von ein paar unschuldigen Toten absieht«, ergänzte Lyvianne mit süffisantem Lächeln. »Nicht dass das mein Gewissen belasten würde.«
»Sie hätten nicht hier sein dürfen!«, entgegnete Nandalee scharf. »Der alte Vertrag verbietet es den Menschen, auf Nangog zu siedeln. Jeder Tote in diesem Kampf ist den Devanthar zuzuschreiben, die sich nicht an den Vertrag gehalten haben. Nangog wird das Joch abschütteln, das ihr auferlegt wurde. Ihr dabei zu helfen ist unsere Mission. Wir müssen so schnell wie möglich an unser Ziel gelangen, bevor die Devanthar bemerken, dass wir hier sind und vielleicht erahnen, wozu wir gekommen sind. Deshalb schickte Nangog uns Winterblau. Müssten wir weiter die Sümpfe und den Dschungel durchqueren, hätte es noch Tage gedauert, bis wir die Goldene Stadt erreichen. Mit Winterblaus Hilfe sind wir vielleicht schon morgen am Ziel.«
Lyvianne hob eine einzelne Braue. »Dieses hirnlose Ding, das das Schiff trägt, hat einen Namen? Und es folgt Befehlen?«
»Alle Wolkensammler haben Namen. Unser Gefährte heißt eigentlich Winterhorizontblau über dem Meer der Silberrücken, aber er gestattet uns, ihn kurz Winterblau zu nennen.«
Nodon traute seinen Ohren nicht. Dieses Quallenbiest gestattete ihnen etwas. Für was hielt sich dieser Gallerthaufen!
»Ihr solltet die Wolkensammler nicht unterschätzen« sagte Nandalee nun ruhiger, aber immer noch bestimmt. »Sie sind äußerst feinsinnig und intelligent. Winterblau trauert um die Toten an Bord. Er ist hoch in den Himmel gestiegen, um die Menschenkinder zu ersticken. Er wusste, dass sie unserer Mission im Weg gestanden hätten. Und er folgte den Befehlen Nangogs. Die meisten der Wolkenschiffer kannte er seit mehr als zwei Jahren. Es sind dreiundfünfzig Männer gestorben, um uns Zeit zu erkaufen. Und nur nebenbei, Lyvianne, bedingt durch die gewaltigen Abmessungen ihrer Körper, besitzen Wolkensammler sieben Gehirne. Mach nicht den Fehler, sie für dumm zu halten. Selbst wenn ihr nicht den Schiffsbaum berührt, um ein Band mit Winterblau einzugehen, spürt er intuitiv, wie ihr zu ihm steht. Er selbst steht uns mit gespaltenen Gefühlen gegenüber, denn er hat nicht gerne dreiundfünfzig Morde für uns begangen. Unsere Fahrt auf diesem Grab in den Wolken ist nur kurz. Also beherrscht euch.«
»Was sollen wir in der Goldenen Stadt?«, fragte Gonvalon, und Nandalee, die froh über den Themenwechsel war, warf ihm einen dankbaren Blick zu, bevor sie antwortete: »Wir suchen einen Weg ins Innere der Welt. Die Goldene Stadt liegt am Weltenmund, einem Krater, der mehr als hundert Meilen durchmisst. Es ist der Ort, an dem die Riesin Nangog ins Innere ihrer Welt hinabgestiegen ist. Dort im ewigen Dunkel wurde sie einst von den Devanthar, den Alben und Himmelsschlangen überrascht und in Fesseln geschlagen … Wir werden diese Fesseln lösen.« Bei ihren letzten Worten wirkte Nandalee bedrückt.
»Und wie machen wir das?«, sprach Nodon an, was die Bogenschützin übergangen hatte.
»Wir müssen nur durch den Krater hinabsteigen.« Nandalee rang sich ein Lächeln ab. »Allerdings ist dies der einzige Ort auf dieser Welt, zu dem Nangog auf keine Weise eine Verbindung herstellen kann. Sie weiß nicht, was uns dort erwartet. Wenn sie Grüne Geister dorthin schickt, hören sie auf zu existieren … Es muss irgendwelche Wächter geben. Wir sollten deshalb so viel wie möglich über den Krater herausfinden, bevor wir uns hinabwagen. Wir werden nur einen Versuch haben, und wenn wir dort einen Zauber weben, werden es die Devanthar ganz gewiss bemerken.«