Nodon konnte spüren, dass da noch etwas war. »Weißt du mehr über diese Wächter?«
Nandalee schüttelte den Kopf. »Nein, nicht über die Wächter. Aber wir sind nicht die Ersten, die dort hinuntergehen. Im ersten Jahrhundert, nachdem die Weiße Halle begründet wurde, lange bevor die Menschen die Goldene Stadt gründeten, haben die Himmelsschlangen schon einmal Drachenelfen als Späher in den Krater geschickt. Niemand kehrte zurück, und es waren nicht Nangog und ihre Geschöpfe, die ihr Schicksal besiegelten.«
Nodon erinnerte sich dunkel an eine Geschichte, die er in seinen ersten Jahren in der Weißen Halle gehört hatte. Sie war Teil der Legenden und wurde irgendwann allen Novizen erzählt. Darin ging es um die Sieben, die einst ihre Schule begründet hatten: die ersten Drachenelfen. Helden, deren Geschichte über Jahrhunderte unvergessen geblieben war. Es hieß, nachdem die ersten ihrer Schülerinnen und Schüler selbst zu Meistern geworden waren, hätten sich die Sieben in die Einsamkeit zurückgezogen, damit ihr Schatten nicht auf der Weißen Halle lastete, denn sie waren unvergleichlich in ihren Fähigkeiten. Als Beweis dafür, dass sie selbst heute noch im Verborgenen lebten, hatte gegolten, dass ihre Waffen niemals in die Halle zurückgekehrt waren, so wie es sonst stets auf wundersame Weise geschah, wenn ein Drachenelf starb.
Zum ersten Mal fragte sich Nodon, ob all dies Lügen waren und die verwunschenen Klingen nicht in Wirklichkeit neben ausgeblichenen Gebeinen in jenem Krater lagen, in den sie nun hinabsteigen sollten.
Das Haus des Datames
Kolja betrachtete das rot lackierte Tor mit den breiten, goldenen Beschlägen. Er beugte sich vor und leckte an dem Metall. Da war Kupfergeschmack – also war es nur polierte Bronze. Das passte zu dem Aufschneider von Hofmeister! Machte immer Aufhebens, aber wenn man hinter die Fassade sah …
Dass Datames ein Hurenmörder war, hatte Kolja wirklich überrascht. Das hätte er dem goldhaarigen Hofmeister gar nicht zugetraut. Manche sagten, Datames sei ein Eunuch gewesen. Es gab viel Geschwätz am Hof von Akšu. So weibisch, wie er ausgesehen hatte, war es wohl möglich. Vielleicht hatte er alle Frauen gehasst, weil er kein ganzer Mann mehr war? Das war nun alles egal. Sicher war, dass Datames niemals mehr hierher zurückkehren würde. Sein Palast in der goldenen Stadt hatte keinen Besitzer mehr. Darum musste man sich kümmern.
Kolja schmunzelte, drehte sich um und blickte zu seinen Männern hinab, die auf den Stufen vor dem Tor versammelt standen. Sie trugen polierte Bronzekürasse und Helme mit prächtigen Rossschweifen. Sie sahen gut aus. Ganz wie Palastwachen. Dann hob er seine Prothese und ließ das gehärtete Leder gegen das Tor krachen. »Im Namen des Unsterblichen Aaron, des Beherrschers aller Schwarzköpfe, des Wanderers zwischen den Welten, des Königs der Könige! Öffnet dieses Tor!«
Der Drusnier hörte eilige Schritte, dann öffnete ein kahlrasierter Haussklave das Tor einen Spaltbreit. »Bitte verzeiht, aber mein Herr ist nicht hier …«
»Das wissen wir«, polterte Kolja los und trat gegen den Torflügel, sodass dieser sich vollends öffnete, und der Sklave sich nur mit einem unbeholfenen Sprung nach hinten retten konnte. »Dein Herr wird nie mehr zurückkommen. Er hat dem Hof Akšus Schande bereitet, und der Unsterbliche selbst hat einen Preis auf seine Ergreifung ausgesetzt. Nun sag mir, verbirgt sich dein Herr hier?«
»Nein«, stammelte der Sklave. »Bitte, Herr, Ihr müsst mir glauben, ich …«
»Du erteilst mir Befehle, du Wurm? Ich muss dir glauben? Einen Scheißdreck muss ich! Jeder weiß, dass Sklaven lügen, wenn sie nur das Maul aufmachen. Du wirst jetzt alle Sklaven dieses Hauses hier versammeln. Und zwar ein bisschen hurtig!« Kolja deutete auf eine weite Nische, gleich hinter der Tür, die mit farbenfrohen Teppichen ausgelegt war und auf deren gemauerter Bank entlang der Wand zahllose Seidenkissen lagen. »Ich warte hier mit meinen Männern und zähle langsam bis hundert. Wenn ich hundert erreicht habe, erwarte ich, alle Sklaven des Hauses vor mir zu sehen. Und dann werde ich sie befragen. Und wenn ich angelogen werde, werde ich keine Gnade kennen.«
»Aber, Herr, dies ist ein großes Haus. Es ist unmöglich …«
»Eins«, sagte Kolja ruhig. Der Kahlköpfige sah ihn entsetzt an. »Zwei.«
Nun rannte der Sklave so schnell los, dass er eine seiner Sandalen verlor.
Kolja wandte sich an Eurylochos. »Unmöglich. Eines der Lieblingsworte von Sklaven.« Mit einem Seufzer ließ sich der Hüne auf der Bank nieder. Die Wand gegenüber schmückte ein Relief, das Gabenbringer zeigte, die vor dem Unsterblichen Aaron niederknieten. Ein bisschen anbiedernd, dachte Kolja. Aber das passte ja zum Hofmeister. Er war immer ein wenig zu schrill gewesen.
Kolja blickte auf den Verband an der Hand von Eurylochos. Ein frischer Blutfleck verunzierte das weiße Leinen. Hatte der Steuermann begriffen, welche Gnade ihm zuteilgeworden war? Eigentlich hätte er ihm die Kehle durchschneiden sollen. Immerhin hatte der Mistkerl versucht, ihn zu ermorden.
»Was tun wir hier?«, fragte Eurylochos, der sich unter Koljas Blicken offensichtlich unbehaglich fühlte. Er trat ein paar Schritte vor und blickte in den Innenhof, in dem in schmalen, aufsteigenden Terrassen ein Meer aus Blumen gepflanzt war, die weite Sonnensegel vor der gnadenlosen Sonne des Nachmittags schützten. Vor einer halben Stunde noch hatte es geregnet. Jetzt aber stand keine Wolke mehr am Himmel, und es war entsetzlich schwül. Selbst der kleine Springbrunnen, der nahe dem Eingang munter vor sich hinplätscherte, verschaffte keine Linderung.
»Wie macht man sich seine Huren gefügig, Eurylochos?«
»Indem man sie gut behandelt?«, sagte der Steuermann vorsichtig.
»Das ist nur eine Seite der Münze. Geschenke und andere Zuwendungen sind nützlich. Aber ab und zu muss man die Rute gebrauchen, wenn sie aufmüpfig werden. Dies hier wird mein Geschenk an die Seidene werden.«
Eurylochos glotzte ihn an. »Aber das Haus gehört doch Datames …«
»Der tatsächlich in Ungnade gefallen ist und fliehen musste.« Kolja grinste breit. »Das Haus gehört also niemandem mehr. Und ich bin mir ganz sicher, der Unsterbliche hat in nächster Zeit andere Sorgen, als die Besitzungen seines verlorenen Hofmeisters zu beschlagnahmen. Also tun wir das für ihn. Sind wir nicht seine Palastwache?«
»Aber die Zinnernen haben doch den Dienst bei ihm beendet«, flüsterte Eurylochos und blickte dabei argwöhnisch zum Blumenhof.
»Glaubst du, irgendein dämlicher Sklave kann unterscheiden, was für eine Sorte Palastwache wir sind? Wir tragen die weißen Umhänge der Himmlischen. Und unter den Helmen kann man unsere Gesichter nicht erkennen.«
»Nur dass du keinen Helm trägst, Kolja, und – bei allem Respekt – eine recht unverwechselbare Erscheinung bist.«
Kolja merkte, dass das Gerede des Steuermanns die anderen Männer zu verunsichern begann. »Was soll schon geschehen? Im schlimmsten Fall haben wir das Haus beschlagnahmt, bevor es Plünderern in die Hände fallen konnte. Ihr seid doch sonst nicht um Ausreden verlegen.« Er lachte und erhob sich, um zum Blumenhof zu schlendern, auf dem sich inzwischen immer mehr Sklaven versammelten.
»Dreiundneunzig!«, rief er zur überdachten Galerie des obersten Geschosses hinauf. »Du solltest dich beeilen, Kahlkopf.« Das Haus des Datames war vielleicht nicht der prächtigste Palast in der Goldenen Stadt, aber er war exquisit gestaltet. Er lag direkt am Rand einer steilen Terrasse, und Kolja hatte gehört, dass es auf der Rückseite ein überdachtes Becken gab, von dem aus man über die Stadt blicken konnte. »Was meinst du, Eurylochos, werden der Seidenen die Blumen hier gefallen?«
»Blumen, an denen ein ganzer Palast hängt? Welche Hure hätte je ein solches Geschenk bekommen!«
»Nicht wahr? Sie wird mir zu Füßen liegen, und dann werden wir über ihre Kunden plaudern und über ein paar neue Geschäftsideen.« Kolja konnte es förmlich vor sich sehen, wie er sein Ohr an die Wand hielt, wenn liebestolle Satrapen Palastgeheimnisse ausplauderten.