Rasch schritt Volodi die restlichen Stufen hinab. Er wollte nicht zu spät kommen. Das würde aussehen, als sei er ein Feigling. Unten erwartete ihn Ichtaca. Der Zapote mit dem Knochen in der Nase hielt einen Krug in den Händen. »Honigwein, Auserwählter. Er macht den Weg leichter.«
Volodi schüttelte den Kopf. »Du glaubst nicht, wie viele Männer ich habe sterben sehen, nur weil sie so dämlich waren, sich vor einer Schlacht zu betrinken.«
»Das heute ist anders, Herr«, sagte der kleine Mann bedrückt.
»Kein Grund, mit alten Angewohnheiten zu brechen.« Volodi versuchte, zuversichtlich auszusehen, aber dem Gesichtsausdruck des Zapote nach zu urteilen schien es ihm nicht besonders geglückt zu sein.
Als Volodi aus dem Haus trat, zog ein leichter Regenschauer über den prächtigen Park hinweg. Der Regen war angenehm auf der Haut und trotz des Schauers strahlte die Sonne am Himmel und ließ den Garten aussehen, als schwebe ein goldener Schleier über ihm. Über dem Rand des Weltenmunds erhob sich ein weiter Regenbogen. Es würde ein schöner Tag werden.
»Darf ich dich ein Stückweit begleiten, Auserwählter?«
Volodi zögerte kurz. Dann entschied er, dass es besser war, in Gesellschaft zu sein, als seinen Gedanken nachzuhängen. »Gerne.«
»Für einen Halbgebackenen bist du ganz ordentlich geraten«, erklärte Ichtaca umgänglich, während sie zwischen Rosenbüschen hindurchschritten.
»Halbgebacken?«
»Eine alte Geschichte in meinem Volk. Wir glauben, die Götter hätten einen besonderen Teig erschaffen, aus dem sie dann uns Menschen formten. Wir alle wurden in einem großen Ofen gebacken. Zuerst holten sie die Stammväter der Drusnier und Valesier aus dem Ofen; aber das war zu früh, sie waren noch nicht fertig gebacken, deshalb habt ihr eine so ungesund helle Hautfarbe. Danach holten sie die Luwier und die Erstgeborenen Arams aus dem Ofen. Sie waren besser, aber auch noch nicht vollkommen. Zuletzt wurden die Insulaner und wir, die Zapote, aus dem Ofen genommen. Mit uns waren die Devanthar sehr zufrieden. Wir waren vollkommen.«
»Nette Geschichte«, murmelte Volodi. »Aber was ist mit den Ischkuzaia?«
Ichtaca rollte mit den Augen. »Die Ischkuzaia. Das war der allererste Versuch. Eine völlig missratene Teigmischung.«
Volodi lachte laut auf. »Ich kenne eine Kriegerprinzessin der Ischkuzaia, die dir mit ihrer Dornaxt den Schädel einschlüge, wenn du ihr diese Geschichte erzählen würdest.«
»Eine Kriegerprinzessin?«, erwiderte der Zapote und verzog dabei das Gesicht, als hätte man ihm eben offenbart, er habe ein Methorn geleert, in das sein ärgster Feind gepisst hatte. »Ein Weib in Waffen! Ich sag doch, eine völlig missratene Mischung!«
Volodi antwortete nicht. Seine Gedanken waren bei Shaya. Er hatte von ihrem Schicksal gehört, konnte sich aber einfach nicht vorstellen, dass sie sich in ein Kloster einsperren ließ. Bestimmt würde sie ein paar Priester niederstrecken und bei der erstbesten Gelegenheit die Flucht ergreifen.
»Du bist ein seltsamer Mann, Auserwählter«, unterbrach Ichtaca sein Grübeln über die Prinzessin.
Volodi lächelte. »Das habe ich schon oft gesagt bekommen.«
»Oh, nein!«, wehrte der kleine Mann ab. »Ich hoffe, du fasst das nicht als Beleidigung auf. Ich … ich wollte mich bei dir entschuldigen. Du hattest recht. Es war die richtige Frau, die du gewählt hast. Man sollte jemanden, den man im Herzen trägt, niemals aufgeben, ganz gleich wie aussichtslos ein Kampf erscheint. Ich danke dir dafür, dass du mich daran erinnert hast.« Ichtaca blieb abrupt stehen und verneigte sich feierlich vor ihm. »Du bist ein guter Mensch. Ich … ich hoffe, dass … Es war mir eine Ehre, dich gekannt zu haben.«
»Heh, ich bin noch nicht tot.«
Ichtaca nickte und sah ihn dann traurig an. »Die Gefiederte Schlange ist gierig, Auserwählter. Sie wählt die Guten immer zuerst.«
Volodis Magen zog sich heftig zusammen, aber er zwang sich zu einem sorglosen Lächeln. »Ha! Wenn du wüsstest, wie viele Schurkereien ich in meinem Leben begangen habe, würdest du dir keine Sorgen machen.«
»Ein guter Lügner zu sein, gehört nicht zu deinen Schurkentalenten.« Ichtaca blickte zu ihm auf, und es sah aus, als ringe er mit den Tränen. »Ich werde ein gutes Mittagsmahl vorbereiten. Ist dir Hirschbraten recht?
Sie hatten ihr Ziel fast erreicht. Volodi blickte den Weg hinab, an dessen Ende ihn die aufgerissenen Schlangenkiefer erwarteten. »Ja, das wäre schön«, sagte er geistesabwesend. »Du gehst schon?«
»Mir machen die Jaguarmänner Angst«, gestand Ichtaca ein wenig verlegen. »Sie riechen nach Tod.«
»Wir sehen uns zum Essen«, murmelte Volodi mit belegter Stimme.
Der kleine Zapote nickte düster. »Ich werde ein Festmahl bereiten. Du darfst es auf keinen Fall verpassen, Auserwählter.« Mit diesen Worten entfernte er sich eilig, als habe er Angst, der Tod könne auch auf ihn aufmerksam werden, wenn er länger in Sichtweite der Jaguarmänner verweilte.
Volodi sah, dass sich einige der Auserwählten, die er in den letzten Tagen gesehen hatte, bereits vor dem Schlangenhaupt versammelt hatten. Die meisten standen für sich allein. Zwei machten leise Witzchen, aber ihr Lachen klang falsch. Volodi schätzte, dass mindestens drei der Neuen, mit denen er gekommen war, fehlten. Ganz sicher war er sich allerdings nicht. Mit den Neuankömmlingen wollte keiner etwas zu tun haben. Verständlich, wenn stimmte, was Ichtaca gesagt hatte, dass Frischfleisch die bevorzugte Wahl der Opferpriester war. Auch er hatte sich deshalb nicht um Freundschaften bemüht und fast seine ganze Zeit mit Quetzalli verbracht.
Überall um sie herum glitten Schatten durch die Büsche des Parks. Die Jaguarmänner ließen sie nicht aus den Augen.
Plötzlich erklang aus der Tiefe des Schlangenschlunds ein lang gezogener, dunkler Ton. Ein Laut, der durch Mark und Bein ging. Eirik trat an seine Seite, jener Auserwählte, den er vor drei Tagen schon am Schlangenschlund getroffen hatte. Er war herausgeputzt. Sein Haar gekämmt, ein Duft wie von Rosen umgab ihn. Er trug eine schneeweiße Tunika und einen kurzen roten Umhang, der von einer protzigen Goldfibel, die wie ein gekrümmter Drache aussah, gehalten wurde. In Drusna hätte ihn jeder für einen Fürsten gehalten.
»Es war klug von dir, freiwillig zu kommen«, raunte er Volodi zu und wies zu dem Weg, über den Ichtaca eben erst geflohen war. Dort erschien eine ganze Gruppe von Jaguarmännern. Je zwei von ihnen schleiften jeweils einen Gefangenen zwischen sich.
»Sie lassen uns keinen Moment aus den Augen«, sagte Eirik. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, achte mehr auf dein Äußeres. Sie schätzen es, wenn wir mit Würde dort hinuntergehen.« Er nickte in Richtung des Schlangenschlunds. »Und ist es nicht auch besser, wenn wir mit Würde vor unsere Ahnen treten? Die meisten von uns waren Krieger. Wir sollten das auch hier nicht vergessen und dem Tod mannhaft entgegentreten.«
Volodi hatte zu viele Schlachten geschlagen, um sich von Geschwätz wie »dem Tod mannhaft entgegenzutreten« beeindrucken zu lassen. Er hatte Feiglinge wie Helden sterben sehen und war Helden begegnet, die wie Kinder weinend nach ihrer Mutter riefen, als sie verreckten. Er hoffte, er würde mit Anstand gehen. Sicher war er sich nicht.
»Was haben sie mit den …« Es widerstrebte Volodi, das Wort »Feiglinge« auszusprechen. »… mit den weniger Mutigen gemacht?«
»Zusammengeschlagen. Sie dürfen nicht unser Blut vergießen, denn das gehört der Gefiederten Schlange. Auch sollen wir nicht verprügelt aussehen. Aber glaub mir, diese Mistkerle können einem verdammt wehtun, auch ohne dass es Spuren hinterlässt.«
Wieder ertönte der langgezogene, dunkle Ton aus dem Schlangenschlund. Er erinnerte Volodi an ein Kriegshorn. Dieses Horn musste gewaltig sein!
»Komm, es ist so weit.« Eirik zog ihn mit sich. Sie nahmen in weitem Halbrund vor dem Schlangenmaul Aufstellung. Die Verprügelten hatten jeweils einen Jaguarmann an ihrer Seite, der sie halbwegs aufrecht hielt.