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Ein drittes Mal erscholl der klagende Ton aus dem Schlangenmaul. Ein Priester mit einem Umhang, dessen Federkragen hoch über den Kopf des Würdenträgers aufragte und in seiner Farbenpracht mit dem Regenbogen über dem Weltenmund wetteiferte, kam feierlich die beleuchteten Treppenstufen hinaufgeschritten. Sein Gesicht war mit schwarz-blauer Farbe tätowiert und wurde von stilisierten Schlangen geschmückt, die sich über seine Wangen hoch zur Stirn schlängelten. Zwischen Kinn und Unterlippe ragte ein blauer Stein aus seinem Fleisch.

Abgesehen vom Federmantel war der Priester nackt, und sein drahtiger Körper war mit breiten, schwarzen Streifen bemalt. Volodi hatte den Mann noch nie zuvor gesehen, aber er kannte das Messer, das er in Händen hielt. Es steckte in einer bunt bemalten Scheide und besaß einen mit Goldbeschlägen geschmückten, dunklen Knauf. Genau wie die Waffe, die er den Zapote vor so langer Zeit gestohlen hatte!

Hinter dem Priester trat ein Tempeldiener in rotem Lendenschurz ins Tageslicht. Der Mann war kahl geschoren und trug mit feierlicher Miene einen weißen Krug, auf den eine purpurne, sich windendende Schlange mit einem goldglänzenden Kopf gemalt war. Weitere Tempeldiener folgten mit Räucherpfannen, von denen in blaugrauen Schwaden Rauch mit einem süßlichen Aroma aufstieg.

»Atme nicht zu tief«, flüsterte Eirik ihm zu. »Dieser Rauch macht einen ganz benommen.«

Die Priester mit den Räucherpfannen teilten sich auf und nahmen hinter den Auserwählten Aufstellung, während der Hohepriester und der Mann mit dem weißen Krug im Schlund der steinernen Schlange stehen blieben.

Einige Augenblicke herrschte absolute Stille. Der feine Nieselregen hatte aufgehört, und goldenes Licht brach in breiten, scharf umrissenen Bahnen durch die Wolken. Da trat der Mann mit dem Krug vor und ging geradewegs auf den Auserwählten zu, der am linken Ende ihres Halbkreises stand. Mit einem leisen Befehl forderte er den Drusnier auf, in den Korb zu greifen.

Volodi konnte sehen, mit welchem Unbehagen sein Landsmann seine Hand durch die weite Öffnung des Kruges streckte. Als er sie zurückzog, war sie zur Faust geballt. Der Drusnier zögerte einen Moment, sie zu öffnen. Dann streckte er die Faust in Richtung des Hohepriesters im Federmantel. Langsam öffnete er die Hand und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Er hatte einen weißen Stein gezogen.

»Mach es wie er«, raunte Eirik. »Nur mit etwas weniger Gestöhne. Wie ich schon sagte, die Zapote lieben es, wenn wir uns mannhaft geben. Sie behandeln uns dann mit Respekt. Das rettet uns nicht das Leben, aber es macht unsere Zeit hier angenehmer.«

Mit wachsendem Schrecken beobachtete Volodi, wie der Krug immer weiter in seine Richtung wanderte und ein weißer Stein nach dem anderen gezogen wurde. Er hatte einen Fehler gemacht. Er hätte sich an den Anfang der Reihe stellen sollen. Ein Griff in den Krug, und alles war entschieden. Rechts von ihm standen nur noch drei Auserwählte. Fünf weiße Steine waren bereits gezogen.

Eirik kam an die Reihe. Auch er zog einen weißen Stein und trotz seines Geredes über Mannhaftigkeit, stieß er einen leisen Seufzer der Erleichterung aus.

Nun war es an Volodi zu ziehen. Seine Hand zitterte, als er sie durch die Öffnung des Krugs steckte. Er tastete über die vier verbliebenen Steine. Welcher von ihnen würde ihm den Tod bringen?

Er sah den Priester an, der den Krug hielt. Der Kerl verzog keine Miene. Seine Augen waren dunkel und hart. Volodis Hand schloss sich um einen der Steine. Kurz überlegte er, doch einen anderen zu wählen. Sein Griff lockerte sich. Nein! Die erste Wahl war meist die beste. Entschlossen zog er die Hand aus dem Krug und streckte dem Hohepriester die geballte Faust entgegen.

Ganz langsam öffnete Volodi die Hand. Er starrte auf den Stein, der dort lag, und sein Herz setzte aus zu schlagen.

Das geschenkte Leben

Der Stein war weiß! Er war gerettet … für dieses Mal. Er würde Quetzalli noch ein paar Nächte lang im Arm halten.

Der Mann neben ihm stieß einen halb erstickten Laut aus. Auf seiner offenen Hand lag der goldene Stein. Der Priester mit dem Purpurschlangenkrug trat einen Schritt zurück und winkte zwei der Räucherpfannenträger herbei.

»Ich bin noch nicht so weit«, stammelte der Auserwählte dieses Tages. »Bitte … ich …«

Volodi erinnerte sich. Der Mann neben ihm war mit ihm zusammen hierhergekommen. Er war der Erste gewesen, der durch das Weiße Tor gegangen war. Ein Jaguarmann eilte herbei, packte den Unglücklichen und hielt dessen Kopf mit eisernem Griff über eine der Räucherpfannen gebeugt. Bald erlahmte der Widerstand des Auserwählten. Sein Jammern verstummte. Sein Blick war leer geworden, und er ließ sich von den Priestern zum Schlund der steinernen Schlange führen.

Die ganze Zeit über schwiegen die Zapote. Daheim in Drusna und auch Aram wurde jedes Ritual von schön gesetzten Worten begleitet – feierlich, aufpeitschend oder einschüchternd, je nach Anlass. Dass die Zapote nicht sprachen, erschien ihm bizarr und unmenschlich. Hatten die Todgeweihten nicht verdient, dass man ihnen verkündete, von den Göttern auserwählt zu sein? Wenigstens diesen kleinen Trost, bevor es zum blutigen Opferaltar ging. Das Schweigen der Priester machte das Ritual noch unheimlicher.

Volodi hörte, wie Eirik neben ihm schwer ausatmete. »Es ist, als sei einem das Leben geschenkt worden, nicht wahr?«

Volodi schämte sich für die Erleichterung, die auch er empfand. So knapp war es gewesen. Seine Finger hatten den Stein gestreift, der den Tod brachte.

»Komm, geh zu deinem Mädchen und vögel ihr das Hirn aus dem Schädel. Heute sind wir unsterblich!«, sagte Eirik und lachte. »Genieß dieses Gefühl. Es wird nicht lange halten.«

Volodi sah den Priestern nach, die durch das Maul der Schlange verschwanden.

»Na los! Genieß das Leben. Es ist zu kurz, um über das Unabwendbare zu brüten.« Eirik zog ihn mit sich den Hügel hinauf, weg von der Opferstätte.

Volodi leistete keinen Widerstand mehr. Er wollte dieses Schlangenmaul nicht mehr sehen. Wollte sich nicht länger fragen, was dort unten geschehen würde. Er würde heute keine Antworten erhalten. Er hatte Glück gehabt.

Sobald sie den kleinen Teich erreichten, der auf dem Weg zu ihren Unterkünften lag, ließ Eirik sich mitsamt seinen Festtagsgewändern hineinplumpsen. »Ich werde mich besaufen«, verkündete er ausgelassen, »und dabei zum Regenbogen aufschauen. Ich habe mich noch nie unter einem Regenbogen betrunken. Komm ins Wasser. Es ist herrlich. Es geht nichts über warmes Wasser!«

Volodi dachte an Quetzalli, und plötzlich musste er lachen. Er hatte es geschafft, hatte dem Tod seinen Arsch ins Gesicht gestreckt. »Ich hab was Besseres vor, als zu baden«, rief er Eirik zu und begann zu laufen. Er rannte, dass ihm das Herz bis zum Halse schlug. Stürmte an Ichtaca vorbei, der vor dem Eingang ihres Hauses saß und ein Stück Fleisch weichklopfte. Auf der Treppe stolperte er fast.

An der obersten Stufe stand Quetzalli. Sie sah auf ihn hinab, und auch wenn sie nicht lächeln konnte, vermochte er in ihren Augen zu lesen, wie erleichtert sie war.

Er nahm sie in die Arme. Sie erwiderte die Umarmung. »Wohl Odi«, sagte sie ganz leise, und ihm ging das Herz auf. »Wohl Odi.«

Versetzt

Kolja blickte zum Himmel hinauf. Die Mittagsstunde war schon fast vorbei, und sie war immer noch nicht da. Er fluchte. Diese verdammte Hure wagte es, ihn zu versetzen. Die Sklaven des Hauses hatten sich schon vor einer Weile zurückgezogen, um seiner Wut zu entgehen. Am liebsten hätte er jemanden zusammengeschlagen. Endlich schwang das rote Tor zu Datames’ Stadtpalast auf, und Eurylochos trat ein. Allein.

»Wo ist sie!«, schrie Kolja ihn unbeherrscht an. »Ich will ihr einen Palast schenken, und sie erscheint nicht.«

Der Steuermann blieb fünf Schritt vor ihm stehen. »Sie ist heute Morgen aus dem Haus gegangen.«

»Du meinst, sie ist abgehauen?«

»Nein, gegangen. Sie weiß doch nichts von deinem Geschenk. Sie war schon fort, als ich ankam.«