»Dann hol sie zurück. Wohin kann sie schon gegangen sein?«
»Zum Hafen«, entgegnete Eurylochos angespannt. »Aber sie kommt wieder. Ich bin ihr nachgelaufen, aber sie war schon auf dem Fluss. Sie will irgendjemanden treffen. Ihre Diener wissen auch nicht mehr. Ich habe wirklich alles versucht, deshalb komme ich so spät. Sie wird in zwei oder drei Tagen wieder zurück sein. Was sind schon zwei Tage?«
»Oder drei«, entgegnete Kolja eisig. »Sie ist unsere Hure und läuft herum, wie es ihr gefällt. Ich stehe mir hier in einem Blumengarten die Beine in den Bauch, und sie kommt nicht, wenn ich nach ihr rufen lasse! So hat mich kein Weib mehr behandelt, seit mir der erste Bartflaum gesprossen ist. Sie macht mich zum Gespött.«
»Ganz sicher nicht, Kolja. Keiner wagt es, über dich zu spotten.«
Der Drusnier ging nicht darauf ein. Er wusste es besser. Wusste, dass man ihn hinter seinem Rücken »Fleischkopf« nannte und sich erzählte, dass man die Weiber mit verbundenen Augen zu ihm bringen musste, weil keine den Anblick seines Narbengesichts ertrug. Das waren Lügen!
»Gibt es irgendetwas, das ihr im Leben viel bedeutet? Irgendjemanden, der ihr besonders nahesteht?«
»Das ist nicht der richtige Weg, Kolja. Bedenke, sie hat mächtige Freunde. Was wird geschehen, wenn wir den Zorn eines Statthalters auf uns ziehen. Sie ist die Seidene und nicht irgendein Gossenmädchen. Bei ihr gelten andere Gesetze.«
»Andere Gesetze?« Kolja schnaubte verächtlich. »Es gibt nur ein Gesetz, und das ist immer gleich. Es ist das Gesetz des Stärkeren. Glaubst du, sie kann mir ihren Willen aufzwingen?«
»Aber das tut sie doch gar nicht!«, begehrte Eurylochos auf. »Sei doch nicht so verdammt stur. Sie hatte keine Ahnung, dass du auf sie wartest.«
»All unsere Mädchen fragen, bevor sie irgendwohin gehen. Und wenn es uns gefällt, dann erteilen wir ihnen die Erlaubnis dazu. Meistens sind wir großzügig. Und unsere Mädchen lieben uns dafür. Wir stecken ihnen enge Grenzen. Und manchmal erweitern wir sie ein klein wenig. Als Ausnahme versteht sich. Und sie lieben uns dafür und sind uns dankbar.« Koljas Stimme wurde gefährlich leise, als er fortfuhr: »Mit dieser Seidenen hast du alles falsch angestellt. Sie kennt keine Grenzen. Zu viel Freiheit macht Menschen undankbar. Sie hält sich für eine Königin, nicht wahr? Ich werde sie daran erinnern, dass sie nur eine Dirne ist. Folge mir, Eurylochos, und lerne! Habe ich dir jemals die Geschichte von dem Bauern erzählt, dem man seinen Esel gestohlen hat?«
Der Irre ohne Nase
»Der ist es?« Kolja blickte auf einen jungen Mann mit vernarbtem Gesicht. Seine Nase war eingedrückt, nur noch ein dunkles Loch. Er schielte. Er schien sich zu freuen, dass ihn jemand besuchte und lächelte arglos.
»Er ist nicht ganz bei sich«, erklärte der Alte, der sich erst nach einer größeren Spende bereit erklärt hatte, ihn zu dem Jungen vorzulassen. »Ist verschüttet worden. Soweit ich weiß … War mehr tot als lebendig, als sie ihn uns vor die Tür gelegt haben.«
Kolja sah sich abschätzend um. Die Kammer, in der er sich befand, war klein, aber sauber. Der junge Mann kauerte auf einem Strohsack. Es kam nicht oft vor, dass er einen Lebendigen traf, dessen Gesicht übler zugerichtet war als sein eigenes.
»Was weißt du über ihn?«
Der Alte strich sich über sein stoppeliges Doppelkinn. »Schwierig …«
Kolja hatte verstanden. Barmherzige Brüder nannten sich diese Geier, in Wahrheit ging es ihnen nur um Geld. Es stimmte zwar, dass sie den Auswurf der Gosse aufnahmen, aber immer nur für drei Tage. Wer es in dieser Zeit schaffte, wieder auf die Beine zu kommen, hatte Glück. Wer nicht, den setzten sie unbarmherzig wieder auf die Straße. Es sei denn, es fand sich jemand, der für ihr Wohlergehen zahlte, so wie bei diesem jungen Mann. Den barmherzigen Brüdern schien es bei diesem Handel nicht schlecht zu gehen. Bruder Sanftmut war jedenfalls wohl genährt.
Kolja schnippte dem Dicken eine Silbermünze zu. »Hilft das, dich zu erinnern?«
Der Bruder biss in die Münze und grunzte zufrieden. »Der Junge bekommt alle paar Tage Besuch von einer Dame. Sie trägt immer eine Maske. Ist eher schlicht gekleidet. Aber arm kann sie nicht sein. Lässt immer etwas hier, für ihn und für uns. Das geht schon viele Jahre so. Wir kümmern uns gut um den Jungen.«
»Wie heißt er denn?« Kolja schnippte Bruder Sanftmut eine weitere Münze zu, die dieser erneut kritisch in Augenschein nahm.
»Wir machen uns nichts aus Namen. Wie du dir sicher schon gedacht hast, haben mich meine Eltern nicht ›Sanftmut‹ genannt. Jeder Bruder in diesem Haus erhält einen neuen Namen als Geschenk von unserer Gemeinschaft. Unsere Gäste haben keine Namen.«
»Was macht ihr denn, wenn ihr über eure Gäste redet? Ihr müsst sie doch irgendwie unterscheiden?«
Bruder Sanftmut spreizte die Hände und presste dabei die Fingerkuppen aneinander. »Ja, das stimmt schon. Also, er hier … ihn nennen wir meist den Irren ohne Nase. Wir haben nur einen von der Sorte.«
Kolja überlegte einen Moment, welchen Nutzen man daraus ziehen könnte, Leute an einem Ort verwahren zu lassen, wo sie keinen Namen mehr hatten. »Habt ihr auch Gäste, die nicht wirklich krank sind?«
Der Dicke kratzte sich hinter dem linken Ohr. »Wie meinst du das? Der Junge hier ist ja auch nicht wirklich krank.«
Kolja zog eine Goldmünze hervor und balancierte sie mit einigem Geschick auf seinen vernarbten Fingerknöcheln. »Ich glaube, man könnte sagen, kranke Leute sind eine Gefahr für die Gesunden. Stimmst du mir da zu?«
Bruder Sanftmut nickte, ohne die Münze aus den Augen zu lassen.
»Es würde also nicht gegen eure Ordensregeln verstoßen, jemanden zu verwahren, der eine Gefahr für andere ist.«
Der barmherzige Bruder blickte auf und sah Kolja mit seinen himmelblauen Augen nachdenklich an. »Ich glaube, du begibst dich in Gedanken gerade auf einen Weg, der doch sehr von unseren Grundsätzen abweicht. Wir betreiben hier keinen Kerker, falls es das ist, worauf du hinauswillst.«
»Formulieren wir es einmal anders …« Kolja setzte sein furchtbares Lächeln auf und beobachtete zufrieden, dass es seine Wirkung auch dieses Mal nicht verfehlte. »Dieser Junge war fast tot, als man ihn euch gebracht hat. Ihr habt euch um ihn gekümmert, wurdet gut bezahlt, und der Junge ist dem Tod entronnen. Könntet ihr euch vorstellen, hin und wieder einen Gast für mich aufzunehmen, der sicherlich sterben müsste, wenn ihr ihn nicht in eure freundliche Obhut nehmen würdet?«
»Was war noch gleich dein Geschäft?«, fragte der alte Bruder, nun eindeutig misstrauisch.
»Darüber werden wir niemals sprechen, auch wenn ich glaube, dass du es bereits ahnst. Meinen Spitznamen darfst du wissen. Manche nennen mich ›den Schlächter‹.«
Bruder Sanftmut strich sich erneut über das Doppelkinn, und der Anflug eines verwegenen Lächelns spielte um seine wulstigen Lippen. »Es sieht eher so aus, als seist du derjenige, den man geschlachtet hat.«
Diesen Scherz hatte sich schon lange keiner mehr mit ihm erlaubt. Kolja ließ die Goldmünze zurück in seine Geldkatze fallen. »Was weißt du über den Faustkampf, Bruder Schwabbelbauch?«
Bruder Sanftmut wich einen Schritt zurück und stellte entsetzt fest, dass er so, wie er stand, nicht zu der Tür der Kammer gelangen konnte, ohne in die Reichweite von Koljas Fäusten zu kommen.
»Es gibt die Faustkämpfe, die mit blanker Hand ausgetragen werden. Ein blaues Auge, eine aufgeplatzte Lippe oder Augenbraue oder im schlimmsten Fall eine gebrochene Nase sind der Preis. Und dann gibt es die Kämpfe für härtere Burschen. Die, bei denen wirklich Blut fließt. Die Kämpfer wickeln sich ihre Hände mit Lederbändern ein, die bis zum Ellenbogen reichen. Über den Knöcheln der Faust sitzen Bronzedornen … Treffer von solchen Schlägen häuten dich.« Wieder lächelte Kolja. »Wie dir ganz richtig aufgefallen ist, habe ich viele schwere Fausthiebe eingesteckt. Es waren nicht Wendigkeit und ausgefeilte Technik, die meinen Erfolg begründeten. Es war die Tatsache, dass ich mehr aushalten konnte als fast jeder andere. Und wenn ich einen Treffer gesetzt habe, dann gab es nur wenige, die danach noch einmal auf die Beine kamen. Man könnte also zusammenfassend sagen, dass ich in fast jedem Aspekt das genaue Gegenteil von dir verkörpere, Bruder Sanftmut.«