»Kydon, edle Dame«, er deutete eine Verbeugung an. »Ich muss gestehen, Ihr verblüfft mich. Dachte ich doch bislang, dass die Seidene mit ganz wenigen Ausnahmen nur Diener in ihrem Haushalt führt. Ihr aber sprecht nun von Sklaven.«
Bidayn verfluchte sich stumm und warf Nodon, der sich bereits erhoben hatte und sich ihnen nun langsam näherte, einen flehenden Blick zu. »Da habe ich mich wohl missverständlich ausgedrückt.« Sie versuchte es mit einem verlegenen Lachen. »Bitte entschuldigt, ich bin unerfahren darin, mit Fremden zu plaudern. Mein Gebieter schätzt es nicht, wenn ich mit anderen Männern spreche.«
Nodon hatte sie erreicht und ihre letzten Worte ohne Zweifel gehört.
»Würdet Ihr bitte von meinem Weibe ablassen«, sagte er scharf.
Kydon musterte den Elfen abschätzig. »Ihr scheint mir nicht besonders mannhaft zu sein. Und klug seid ihr ganz gewiss auch nicht. Mir ist unverständlich, wie Ihr und der andere dort drüben drei zarte Weiber den Gefahren des Flusswaldes aussetzen konntet.«
»Für einen Mann ohne Bart nehmt Ihr den Mund ganz schön voll, was Mannhaftigkeit angeht«, entgegnete Nodon eisig. »Ich weiß ja nicht, woher Ihr kommt, aber in meinem Volk gilt es als äußerst unschicklich, das Weib eines anderen Mannes anzusprechen. Sucht Ihr vielleicht ein Duell?«
»Da Ihr in Diensten der Seidenen steht, erfahrt Ihr wohl nicht zum ersten Mal, dass sich der Ruf Eurer Herrin auch auf die übrigen Mitglieder ihres Haushalts erstreckt. Insbesondere die Weiber.« Kydon sah Nodon herausfordernd an. »Ich bin kein armer Mann. Was kostet die Gunst deines Liebchens?«
Bidayn war entsetzt über die Frechheit des Steuermanns. Nodon hingegen blieb völlig ruhig. »Ich glaube, ganz gleich, wie reich Ihr auch sein mögt, die Hand nach meinem Weibe auszustrecken könnt Ihr Euch nur ein einziges Mal leisten, denn diese Dummheit kostet Euch nicht weniger als das Leben.«
Kydon wich ein Stück zurück und maß Nodon erneut mit abschätzendem Blick, als die Seidene nach ihm rief. »Glaubt nicht, dass ich Euch fürchte, Herr Aufschneider. Es sind meine Pflichten, die mich zwingen, von Eurer Seite zu weichen.«
»Auf-schnei-der …« Nodon betonte das Wort Silbe für Silbe. »Eines Tages werdet Ihr erfahren, wie außerordentlich zutreffend der Ehrenname ist, mit dem Ihr mich gerade bedacht habt.«
Bidayn schien es, dass der Steuermann, der nun eilends seinen Posten am Ruder bezog, eine Spur blasser wurde.
»Du solltest mit den Menschenkindern möglichst nicht reden«, sagte Nodon, ohne dabei vorwurfsvoll zu klingen. »Der Kerl wollte dich aushorchen, nicht wahr?«
»Und ich fürchte, er hat es geschafft. Wer ist diese Frau, die uns abgeholt hat? Welchen Ruf genießt sie? Was meinte Kydon mit seinen Anspielungen?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ist sie nur besonders reich und etwas weltfremd. Gewiss hat sie viele Neider, die sich über sie das Maul zerreißen, und Kydon ist einer von ihnen. Ich glaube, wir müssen uns deshalb keine Sorgen machen. Wenn er nur ein klein wenig Verstand hat, wird er dich künftig in Ruhe lassen.«
Ob Nodon selber glaubte, was er sagte? Menschenkinder und Verstand? Das schloss sich aus.
Der Schwertmeister blieb an ihrer Seite, als wolle er sicherstellen, dass Kydon sich nicht mehr zu ihr wagte. Langsam begannen sich die Umrisse einer Stadt abzuzeichnen. Einer Stadt, die auf dem Hang eines Kraters gebaut worden war und die sich über Meilen erstreckte! Nie zuvor hatte Bidayn etwas Ähnliches gesehen.
Jetzt passierten sie auch mehr Boote. Sie kamen aus Kanälen, die in den breiten Strom mündeten. Plumpe Kähne, hoch beladen mit Körben, Säcken und Amphoren. Reisende drängten sich dicht an dicht auf den Decks. Schiffe, mit Kriegern besetzt, hielten noch mitten auf dem Fluss jedes der Boote an und untersuchten die Fracht. Es sah aus, als würden Listen über all die Handelsgüter geführt, die der Golden Stadt entgegenstrebten.
Ihr Schiff hielt niemand an. Die Rote Galeere schien bekannt zu sein und einen besonderen Status zu besitzen.
Seit etwa drei Meilen säumten Wachtürme und seltsame Monolithen in regelmäßigen Abständen das westliche Flussufer. Einmal glaubte Bidayn, ein grünes Leuchten zwischen den Bäumen am Horizont zu sehen, war sich aber nicht ganz sicher.
Je näher sie der Stadt kamen, desto weiter wichen die Bäume zurück. Dämme regulierten hier den Lauf des Flusses. Schöpfräder von hageren, ockerfarbenen Ochsen angetrieben, hoben das braune Wasser hinauf zu weiten, halb überfluteten Reisfeldern. Wo das Land weiter anstieg, wuchs Weizen, und es gab blühende Apfelbaumhaine. Überall arbeiteten Menschen auf den Feldern. Ihre Zahl musste in die Tausende gehen! Auf jeder Straße sah Bidayn Karawanen aus Lasttieren der Stadt entgegenziehen. Die Metropole schien wie ein gewaltiger Schwamm zu sein, der alles aufsaugte, was diese Welt hervorbrachte.
Bidayn hatte schon auf den weiten Reisfeldern kleine Inseln aus schmutzig braunen Lehmhäusern aufragen sehen. Dicht aneinandergedrängt strebten sie in die Höhe, als gelte es, möglichst viele Menschenkinder auf möglichst engem Raum unterzubringen, um nur keinen Fußbreit Ackerland zu vergeuden. Ähnliche Lehmhäuser bildeten die äußersten Bezirke der riesigen Stadt.
Über der Metropole hing eine Dunstglocke, die eine leichte Brise nach Norden hin ausfransen ließ, aber nicht zu vertreiben vermochte. Bidayn stellte sich vor, dass die Siedlung einen fauligen Atem ausstieß: der Rauch unzähliger Herdfeuer, vermischt mit dem Gestank nach Fäkalien, halbgarem Essen und feuchtem Tierfell. Ihr war der Gestank der Stadt, die sie bei ihrem ersten Besuch auf Nangog gesehen hatte, in guter Erinnerung geblieben. Wie viel schlimmer musste es hier sein, war doch die Goldene Stadt um ein Vielfaches größer.
Durch den Dunst blieben die Konturen der Gebäude zunächst unscharf. Ankertürme für die Wolkensammler erhoben sich gleich toter Baumkönige über das Häusermeer, das wie eine Stein gewordene Woge den steilen Hang des Kraters hinaufbrandete. Sonnenlicht funkelte auf vergoldeten Dächern. Sie waren tatsächlich aus Gold! Zumindest einige von ihnen.
Die Segel brachten sie rasch vorwärts, und nun erkannte Bidayn mehr und mehr Einzelheiten. Schmutzig weiße Mauern schirmten Palastgärten gegen den Pöbel ab. Manche der Häuser mussten sieben oder acht Stockwerke haben und waren mit Brücken untereinander verbunden. Wäscheleinen, beflaggt mit fadenscheinigen Lumpen, zogen sich kreuz und quer durch die Häuserschluchten. Es gab turmhohe Wasserräder, die das kostbare Nass zu den hochgelegenen Terrassen hoben. Was für ein Aufwand, um Gärten wachsen zu lassen, wo es von Natur aus nur blanken Fels hätte geben sollen!
Als ihre Galeere den Hafen der Stadt erreichte, vergoldete das Licht des frühen Abends selbst die einfachen Holzhütten, die auf dunklen Stelzen vom festen Ufer über das Wasser hinausgekrochen waren. Die Seeleute holten die Segel ein und legten den Mast nieder, da sie nun durch ein Labyrinth von Brücken und Stegen fahren mussten. Auf einen Befehl des Steuermanns hin nahmen die Ruderer wieder ihre Plätze auf dem Unterdeck ein. Begleitet vom leisen Aufklatschen der Ruder glitt die Galeere langsam unter hölzernen Stegen hindurch, immer tiefer in das Labyrinth des Hafens. Plötzlich sah Bidayn eine Gruppe junger Männer in dem schmutzigen Wasser. Sie schwammen zwischen Abfällen und welken Blüten, warfen einander einen Ball aus Lumpen zu und lachten ausgelassen.
Wie war es möglich, dass Armut und verschwenderischer Reichtum Seite an Seite existierten? Warum erhoben sich die Bettler nicht? Wie hielt man all die Hungernden im Zaum, die ausgemergelten Hafenarbeiter, die sich tief unter den Lasten beugten, die sie von den Schiffen trugen, die Bettler und Krüppel, die mit ihren Holzschalen die Fahrgäste anlandender Galeeren bedrängten? Fürchteten sie sich vor den Schwertern und Speeren der Krieger, die man allenthalben sah, oder hielt sie der Traum, dass hier ein jeder mit ein wenig Glück reich werden konnte, in eiserne Fesseln geschlagen?