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Artax sah, wie Ormu den Jüngeren mit einem traurigen Blick bedachte, doch dann sagte er: »Also gut. Ich suche die Männer aus. Aber ich bestimme die Regeln! Wir müssen bei Tageslicht hinaufsteigen, und jeder Mann wird einen Knebel im Mund tragen.«

»Knebel? Was ist das für ein Unsinn?«

»Männer, die dem Tod entgegenstürzen, schreien, Herr. Und ein einziger Schrei genügt, um die Verteidiger im Steinhorst aufmerksam werden zu lassen. Wenn sie die Felsspitze besetzen und Steine auf uns herabschleudern, wird niemand diesen Angriff überleben. Also tragen alle, die klettern, Knebel. Sogar Ihr, Unsterblicher. Es sei denn, Ihr entscheidet Euch in Eurer grenzenlosen Weisheit gegen diesen Angriff.« Mit einer raschen Geste brachte der Jäger seinen Begleiter, der bei seinen letzten Worten aufbegehren wollte, zum Schweigen.

»Wenn das Opfer von hundert Männern einen Bürgerkrieg verhindern kann, der Zehntausende das Leben kosten würde, gibt es nicht viel zu überlegen«, sagte Artax. »Ich erwarte dich im Morgengrauen mit den Freiwilligen am Fuß der Felsnadel.«

Das war einmal ein königliches Wort, jubilierten die Stimmen Aarons in seinem Geiste.

Artax stutzte. Es gab jetzt kein Zurück mehr, aber er hatte das beklemmende Gefühl, eine Grenze überschritten zu haben und nun auf einem Weg zu sein, der ihn mit jedem Schritt weiter fort von dem Königtum führen würde, das er einmal angestrebt hatte. Es war das erste Mal, dass er den lästigen Stimmen der früheren Aarons dankbar war. Sie mochten ihn davor bewahren, in die Irre zu gehen, auch wenn es das Letzte war, was sie eigentlich wollten. Bislang hatten sie ihn stets verhöhnt und seine Niederlagen und Irrtümer mit besserwisserischem Hohn bedacht. All die anderen, die vor ihm der Unsterbliche Aaron gewesen waren, waren von hoher Geburt. Sich mit einem Bauern abzufinden war ihnen unerträglich. Wenn sie ihn nun beglückwünschten, konnte das nichts Gutes heißen. Begann er, so zu denken wie sie? War er auf dem Weg, ein Tyrann zu werden, für den ein einzelnes Leben nichts mehr zählte?

Artax warf einen letzten Blick auf den Steinhorst. Nur diesen Kampf musste er noch bestehen, dann war er endlich frei, die großen Reformen anzugehen.

Die Stimmen in seinem Kopf lachten und verspotteten ihn. Du bist ein Unsterblicher, Artax. Ganz gleich, wie viele Schlachten du schlägst, es wird immer noch einen weiteren Kampf geben, den es zu bestehen gilt. Das ist unser Schicksal. Und auf diesem Weg werden all deine Freunde zu Feinden, zu Verfemten oder zu Toten werden. Das ist der Preis der Macht. Morgen wirst du von diesem bitteren Trunk kosten.

Das Haus der Toten

Sie hatten fast den höchsten Punkt der Felsnadel erreicht, der sich noch über die kleine Burg erhob. Artax’ Arme brannten. Seine Hände waren aufgeschürft vom rauen Fels. Seine Kleidung vom Schweiß durchnässt. Er vermied es, nach unten zu sehen. Die bodenlose Tiefe schien verwunschen zu sein. Sie zog ihn an, ließ ihn über das Fliegen nachdenken. Und jeder Blick zurück offenbarte, wie viele seiner Männer schon abgestürzt waren. Mit hundertzwanzig Kriegern hatten sie den Aufstieg in den Fels begonnen. Ormu hatte gute Arbeit geleistet. Sie hätten noch mehr Männer mitnehmen können, aber sie sollten in Paaren aufsteigen, wobei jeweils ein Jäger oder Hirte aus den Bergen Garagums vorstieg und den Weg suchte. An ihn geseilt folgte ein bewährter Kämpfer. Sie stiegen weit aufgefächert in den Fels, damit die Unglücklichen, die abstürzten, nicht auch die Männer hinter sich mit in den Tod rissen.

Artax heftete den Blick fest auf das Hinterteil des jungen Jägers, der vor ihm das letzte Stück der Steilwand anging. Bamiyan brannte vor Begeisterung. An einem Seil mit dem Unsterblichen gegangen zu sein würde ihn zur Legende unter den Stämmen von Garagum machen. Er war ein guter Kletterer und hatte Artax mehr als einmal weitergeholfen, als dieser glaubte, einen glatten Felsabschnitt nicht überwinden zu können oder an einem Überhang scheitern zu müssen.

Jetzt schien der Gipfel zum Greifen nahe. Waren es noch zehn Schritt? Oder weniger? Artax hatte sich den ganzen Tag über ständig geirrt. Mit der Wange an die feuchte Steilwand gepresst nach oben zu starren verzerrte die Wahrnehmung. Die Wege erschienen länger. Vielleicht waren es auch weniger als zehn Schritt. Das wäre besser! Er war fast am Ende seiner Kräfte, und im Augenblick stand er auf einem bröckelnden Sims, das ihn nicht mehr lange tragen würde. Der Felsen hier oben war stärker verwittert als unten am Fuß des Berges, und so war es immer schwerer geworden, einen sicheren Stand zu finden.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Bamiyan einen der schmalen Bronzedolche aus den Lederschlaufen seines Gürtels zog, während er sich gleichzeitig mit der Linken an einer kleinen Felsnase festkrallte. Es war sein letzter Dolch. Wenn sie noch eine weitere Kletterhilfe bräuchten, müssten sie das Kurzschwert des Jägers nehmen.

Artax kaute nervös auf dem Lederknebel in seinem Mund. Nur ein kurzes Stück noch, und er würde dieses Ding loswerden. Das Leder schmeckte säuerlich und ließ seinen Speichel im Mund zusammenlaufen. Immer wieder hatte er würgen müssen und sich voller Panik vorgestellt, was geschehen würde, sollte er sich erbrechen müssen. Er würde dann ersticken!

Bamiyan rammte den Dolch in einen schmalen Spalt, zog den mit Lumpen umwickelten Hammer aus seinem Gürtel und schlug auf den Knauf der Waffe, bis die Klinge wirklich fest im Fels saß. Mit selbstsicherem Lächeln wandte er sich zu Artax um und schob den Hammer zurück in den Gürtel. In diesem Augenblick brach die Felsnase, an der er sich mit der Linken festgehalten hatte. Der Junge stürzte an Artax vorbei. Dann gab es einen heftigen Schlag ins Seil.

Der Ruck hätte Artax fast von dem Felssims gerissen, auf dem er stand. Der Unsterbliche presste sich mit der Brust an den Stein. Seine Finger tasteten nach Halt. Aber da war nichts. Die Wand war glatt wie eine frisch verputzte Mauer. Artax spürte, wie das Sims unter ihm nachgab. Abbröckelndes Gestein stürzte klackernd in die Tiefe.

Bamiyan schwang drei Schritt unter dem Unsterblichen vor dem blanken Fels. Blut troff aus einer Wunde an seiner Stirn und rann ihm in die Augen. Er blinzelte, versuchte verzweifelt, einen Ausweg zu finden. Der nächste sichere Griff lag ein gutes Stück rechts von ihm. Er streckte sich. Zu kurz! Es fehlte fast eine Armlänge.

Das Seil schnitt in Artax’ Hüften. Er wagte es nicht, seine Hände vom Fels zu lösen, um nach dem Seil zu packen und Bamiyan hochzuziehen. Sein Stand war zu unsicher. Ständig bröckelte weiter Gestein von seinem Sims ab, und er musste Zoll um Zoll zur Seite weichen. Dabei wurde das Sims zur Seite hin immer schmaler. Ein Fußbreit blieb ihm noch, bevor es ganz mit der Felswand verschmolz. Selbst wenn Bamiyan sich aus eigener Kraft am Seil hinaufziehen könnte, hier wäre kein Platz für sie beide.

Artax dachte fieberhaft nach, wie er sie retten könnte. Schließlich versuchte er, mit den Hüften zu schwingen, um das Seil in eine Pendelbewegung zu versetzen. Bamiyan erkannte seine Absicht und streckte sich verzweifelt, doch es gelang ihm nicht, den Dolchgriff zu erreichen, der aus dem Fels ragte. Die Männer unter ihnen wichen zur Seite hin aus. Es war überdeutlich, dass sie beide bald abstürzen würden.

Artax biss die Zähne zusammen, drückte sich noch fester an den Fels und stellte sich vor, dass er mit dem Gestein verschmolz. Er würde nicht stürzen, wiederholte er in Gedanken immer wieder. Er würde nicht stürzen!

Das Seil pendelte nun immer stärker. Mit jedem Ausschlag wurde die Kraft größer, die an ihm zerrte. Er wollte in die Knie gehen, doch inzwischen war kaum noch etwas von dem Sims übrig. Er wusste, er würde das Seil durchschneiden müssen, wenn er nicht mit dem jungen Jäger zusammen in den Abgrund stürzen wollte.

Verzweifelt blickte er zu Bamiyan hinab. Ein letzter Pendelschwung noch …

Da sah er, wie Bamiyan sich am äußersten Ende des Pendelschwungs mit der Hand in den Fels krallte, sich streckte und endlich seine Fingerspitzen den Dolchgriff erreichten. Als sich dessen linke Hand um den lederumwickelten Griff schloss, hörte augenblicklich der Zug nach unten auf. Artax atmete erleichtert aus und schluckte den Speichel, der sich erneut um den Lederknebel in seinem Mund gesammelt hatte.