Gatha schien den Atem anzuhalten. »Du spürst nichts?«, fragte er schließlich misstrauisch.
Das Messer lag gut in Barnabas Hand. Eine angenehme Wärme erfüllte ihn und plötzlich auch ein Gefühl von Macht, wie er es nie zuvor empfunden hatte.
»Du fühlst es auch, nicht wahr?« Der Schamane hatte seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und musterte ihn argwöhnisch.
»Ich spüre nichts«, log Barnaba.
»Unsinn«, zischte Gatha ihn an. »Ich kann es doch sehen. Du bist schon jetzt besessen von dem Messer. Es ist nicht von dieser Welt, genauso wie die Daimonin, die dich in den See gelockt hat. Lass es fallen. Es befleckt deine Seele!«
Barnaba dachte an Ikuška. An die Stunden mit ihr, die er für einen Traum gehalten hatte. Sie hatte ihn gerettet, als er im Sterben lag. Hatte ihm alles gegeben, und ihr Lohn war ein schrecklicher Tod gewesen. Tränen traten ihm in die Augen. »Du hast recht, Gatha. Meine Seele ist befleckt«, sagte er mit brüchiger Stimme.
»Ich kann dich retten.« Der Schamane beugte sich nah zu ihm hinab. »Das Land wird dich heilen. Du brauchst die Einsamkeit der Berge. Dort wirst du die Daimonen abstreifen, die noch immer in dir wüten.«
Tränen rannen Barnaba über die Wangen. Er fühlte Ikuškas Küsse auf seinen Lippen, als habe er eben noch an ihrer Seite gelegen. Er war verloren! Die Einsamkeit würde ihn nicht heilen. Seine Hand schnellte vor. Das Messer traf Gathas Kehle, noch bevor der Alte zurückweichen konnte. Er brach in die Knie. Wie ein zweiter Mund klaffte der weite Schnitt in seiner Kehle.
Barnaba erhob sich und sah sich um. Um ihn herum war alles still, nichts regte sich. Niemand hatte gesehen, was er getan hatte. Gatha war noch nicht tot, obwohl sich sein Blut in einem breiten Sturzbach über seine Brust ergoss. Der Alte blickte zu Barnaba auf. Seine Lippen bewegten sich, doch statt Worten brachten sie nur noch ein unverständliches Gurgeln hervor. Barnaba hielt dem Blick des Schamanen stand, bis der Glanz des Lebens in dessen Augen verlosch.
»Du hast recht, alter Mann. Ich trage einen Daimonen in meiner Seele. Und du warst so dumm, den guten Geist zu töten, der meinen Daimon in Fesseln schlug.« Er sah zum Feldlager hinüber, wo sich das Morgenlicht in den goldenen Standarten brach, die vor Aarons Zelt in den Boden gerammt waren.
»Der Daimon trägt deinen Namen, Aaron. Zweimal hast du mein Leben zerstört. Du hast dafür gesorgt, dass mir nichts geblieben ist als meine Rache.« Er blickte auf das blutige Messer in seiner Hand und dann auf den toten Schamanen, dessen leblose Augen ihn immer noch anstarrten. Es war leicht gewesen zu töten. Und befreiend …
Dem Priester war klar, dass er nicht einfach ins Feldlager marschieren konnte, um Aaron zu erdolchen. Noch war die Stunde der Rache nicht gekommen. Er dachte an das Traumeis und die Vision, von der Ikuška ihm erzählt hatte. Dieses Eis würde seinen Traum von Rache wahr werden lassen! Und er wusste, wo es zu finden war.
Barnaba schob den blutigen Dolch unter sein Gewand, wandte den Zelten des Heerlagers den Rücken zu und ging nach Norden, wo das magische Portal in die neue Welt bläulich leuchtete. Bald schon traf er auf die ersten Händler und Heimkehrer. So wie die Fliegen von den Leichen, wurden sie von dem blauen Licht angezogen, das jedem versprach, mit nur wenigen Schritten zum Ziel seiner Träume zu gelangen – ganz gleich, ob es in Aram oder Luwien lag oder aber die Goldene Stadt war.
Barnaba durchquerte das trockene Flussbett, bei dem so erbittert gekämpft worden war, und folgte den Hügeln am nördlichen Ufer. Aus den einzelnen Grüppchen von Heimkehrern war inzwischen fast eine Kolonne geworden. Der Priester ging auf seinen Stab gestützt neben einer Reihe von Eseln her, die mit blutbefleckten Leinenpanzern beladen waren. Bald würden sie die Rüstungen für neue Krieger sein. Von einem der Packsättel hingen Dutzende verbogene Bronzeschwerter. Bei jedem Schritt der Tiere schlugen sie klingend aneinander. Es war das Zimbelspiel des Krieges.
Als Barnaba die Karawanenstraße im Nordwesten des luwischen Heerlagers erreichte, wuchs die Kolonne zu einem breiten Strom von Menschen und Tieren an, die diesen Ort des Todes hinter sich lassen wollten. Jetzt sah er das Dunkel, das von dem bläulichen Lichtbogen des Portals eingefasst wurde. Eine Meile lag noch vor ihm, aber er war in Sicherheit. Hier in diesem Gedränge würden ihn die Jäger und Hirten der Berge, deren Schamane Gatha gewesen war, nicht mehr finden können, dachte Barnaba. Er würde den Abgrund der Finsternis überschreiten und zum Lichte gelangen. Das Messer war ein Zeichen der Götter gewesen. Sie wollten seine Rache: Aaron würde stürzen!
Mit jedem seiner Schritte scheuchte er dunkle Wolken von Fliegen auf. Er wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht, um die grün schillernden Plagegeister zu verscheuchen. Ihr dumpfes Summen begleitete ihn bis zum Portal, und selbst im Nichts schien es ihn weiter zu verfolgen.
Das Spiel der Göttin
Talawain versuchte, den Ärger zu vergessen. Die Meister der Blauen Halle hatten die Bedeutung der Ereignisse dieses Tages nicht begreifen wollen. Dass die Devanthar einen Unsterblichen vor den Augen Tausender Menschenkinder hinrichteten, war noch niemals geschehen. Und dass sich unter den Unsterblichen mit Aaron ein Erster unter Gleichen erhoben hatte, war ebenfalls noch nie vorgekommen. Die Devanthar und Menschen bündelten ihre Kräfte!
Mit aller Leidenschaft hatte er das den versammelten Meistern der Blauen Halle klarzumachen versucht. Aber sie hatten nicht hören wollen. Stattdessen wollten sie ihn zurückhalten. Jetzt, wo es wichtiger denn je zuvor war, nahe dem Herzen der Macht einen Spitzel zu haben. Aaron würde vor die Devanthar treten. Und sie würden ihn anhören. Damit könnte ein einzelner Mensch das Schicksal einer ganzen Welt verändern. Ein Mensch, der auf seinen, Talawains, Rat hörte!
Wie blind musste man sein, um nicht zu erkennen, dass es eine solche Gelegenheit nie wieder geben würde. Aaron hatte sich nach seinem Sturz aus dem Himmel auf unerklärliche Weise verändert. Er war geläutert und zutiefst von dem Wunsch durchdrungen, eine bessere Welt zu erschaffen. Wenn er ihn klug beriet, dann würde sich nicht allein eine Welt verändern. Drei Welten könnten ihren Frieden finden. Wie kleinlich wäre es da, allein an seine eigene Sicherheit zu denken.
Talawain hatte nach dem Gespräch mit den Meistern der Blauen Halle darauf verzichtet, noch einmal das Ornat der Konkubine anzulegen. Er kehrte als Hofmeister des Unsterblichen Aaron in das Lager zurück. Vorbei an der nicht enden wollenden Kolonne derer, die durch den Albenstern ihrer fernen Heimat entgegenstrebten: Sklavenhändler auf dem Weg nach Nangog; Plünderer, die ihre Habe wahrscheinlich nach Drus und Valesia schafften, wo man gutes Gold für Waffen und Rüstungen zahlte; Verwundete, die in den Palästen von Aram und Luwien versorgt werden würden; Sieger und Besiegte aus aller Herren Länder.
Tief in Gedanken ging Talawain an ihnen vorüber, der Morgensonne entgegen, die ihr Haupt über die Berge erhoben hatte. Es gab so vieles, was nach dem Sieg neu zu organisieren war. Auch musste Aaron schnell einige schlagkräftige Truppen aufstellen, denn wenn er seine Landreform umsetzte und damit begann, all jenen Äcker zu schenken, die auf der trockenen Hochebene von Kush für ihn gestritten hatten, mochte es zu Aufständen unter den Satrapen und den Großgrundbesitzern kommen. Das ganze Land würde auf den Kopf gestellt werden.
»Bartloses Dreckschwein!«
Talawain sah überrascht auf. Vor ihm stand einer der Hauptmänner, die unter dem Satrapen Mataan dienten. Der Mann starrte ihn aus rot entzündeten Augen an. Er stank nach altem Schweiß und Rotwein. Der Name des Kerls wollte Talawain nicht einfallen.
»Dreckschwein!«, wiederholte der Hauptmann und spuckte vor ihm in den Staub.
Talawain entschied, ihn zu ignorieren. Er hatte gehofft, dass sich nach der Schlacht etwas geändert hätte. Er hatte inmitten ihrer Reihen gestanden und mit ihnen gekämpft. Aber offenbar war es bedeutender, dass er bartlos war und goldenes Haupthaar besaß und damit in den Augen der meisten Krieger Arams kein richtiger Mann war.