Nandalee lächelte. Sie spürte die Kälte nicht mehr. Sie starb. Es würde nicht mehr lange dauern. Erneut wanderte ihr Blick zu dem Stern hinauf. Als Kind hatte Nandalee die Geschichte von Ny Rin geliebt. Sie war eine Jägerin geworden wie sie. Ihre Sippe nannte man die Windwanderer, weil ihre Jäger frei bis in weiteste Fernen streiften, wie der Wind, der nur den Horizont als Ziel kannte. Unzählige Male war sie auf ihrem Eissegler dem Regenbogen nachgejagt, wenn in der Sommerzeit der warme Südwind aus dem Windland kam. Sie war längst eine erfahrene Jägerin geworden, als sie sich der Wahrheit stellte. Niemand fing einen Regenbogen oder ritt auf dem Rücken der Regenbogenschlangen in den Himmel hinauf. Das einzig Wahre an der Geschichte um Ny Rin war der Blaue Stern. Der Stern des Sängers.
Nandalee schluckte hart, und der Zauber des Augenblicks verflog. Dort oben war keine Ny Rin. Vielleicht nicht einmal ein Alb. Aber wer, so fragte sie sich, war dann der Sänger? Jemand, der sich mit Ny Rin eine Jägerin aus der Sippe der Wolfszähne erwählt hatte. Eine Wilde! Der Wolf war ihr Totem, und wie Wölfe lebten sie in schmucklosen Felslöchern, kaum besser als Trolle. Würde ein Alb eine solche Wahl treffen? Wenn der Sänger sich tatsächlich eine Elfe zur Gefährtin erwählt hätte, dann doch gewiss eine Windwanderin. Ihr Totem war der Hirsch und …
Das Totem! Jede der Elfensippen in Carandamon hatte zu Anbeginn der Zeit ein Totemzeichen erwählt. Meist ein Tier mit einer Eigenschaft, die einer der herausragenden Eigenschaften der Sippen gleichkam. Der Hirsch war ein unermüdlicher Wanderer und ein tapferer Kämpfer. In stilisierter Form wurde er als Schmuck verwendet. Die Knöpfe ihrer Weste waren aus Hirschhorn, der Griff ihres Messers aus einem Stück Geweih gefertigt. Beides war kein eindeutiger Hinweis auf ihre Sippe. Viele Jäger verwendeten das Gehörn von Hirschen auf diese Weise. Deshalb hatte Duadan sie auch nicht darauf angesprochen. Doch es gab noch etwas anderes. Etwas, um das der Älteste nicht wusste. Einen ganz besonderen Schmuck, den sie von einem Maurawan geschenkt bekommen hatte, mit dem sie einen Sommer lang gemeinsam auf die Jagd gegangen war. Sie atmete tief ein und überlegte, wie sie die letzte, die unauslöschlichste der Spuren beseitigen sollte. Jene, die für immer eins mit ihr hätte sein sollen. Wenn die Trolle sie fanden, dann würde dieses Geschenk ihnen verraten, woher sie gekommen war, auch wenn das eiskalte Wasser längst jede Duftspur getilgt hatte. Die Lider wurden ihr schwer und die Welt um sie her verschwamm. Denk nach, Nandalee, denk nach!
Dass die Trolle mehr wollten als nur sie, erschien Nandalee offensichtlich. Niemand jagte mit einem ganzen Heer! Das hier war ein Kriegszug und sie brachte ihre ganze Sippe in Gefahr, wenn sie es nicht schaffte, das Geschenk des Maurawan zu vernichten.
Und in diesem Augenblick löste sich ihre Starre. Sorge ließ ihr Herz schneller schlagen, sie ballte die Hände zu Fäusten und streckte die gefühllosen Finger wieder. Der Müdigkeit nachzugeben, jetzt die Augen zu schließen, das wäre Verrat an allen, die sie liebte. Die Jagd war noch nicht zu Ende!
Als das Gefühl in ihre Hände zurückkehrte, griff sie nach einer Wurzel und zog sich aus dem Wasser. Quälend langsam entwand sie sich dem dunklen Bach. Das lange Haar gefror ihr auf dem Gesicht und die wasserdurchtränkte Kleidung knisterte, wenn sie sich bewegte. Raureif wucherte wie weißes Moos über das Hirschleder ihrer Hose, der Umhang lag schwer wie Blei auf ihren Schultern. All ihre Bewegungen waren langsam, dem Tod abgetrotzt, der so nahe war, dass sie seinen Atem im Nacken zu spüren glaubte. Sie blickte zu dem rötlichen Lichtschein, der durch die Bäume fiel. Das große Feuer, an dem die Trolle ihre Fackeln entzündet hatten. Es würde alle Spuren löschen. Wirklich alle! Sie musste nur mutig genug sein.
Mit steifen Schritten ging sie zwischen den Bäumen hindurch. Überall war der Schnee zertrampelt, aber es waren keine Trolle zu sehen. Sie waren ihr den Steilhang hinauf gefolgt. Bald würden sie entlang des Baches nach ihr suchen und ihre Fährte finden.
Unter einer Kiefer verharrte sie und beobachtete die Lichtung, auf der das Feuer brannte. Es war halb in sich zusammengefallen, aber immer noch groß. Sie hatten es nicht mit Ästen, sondern mit gespaltenen Baumstämmen entfacht.
Nandalee sehnte sich nach der Hitze. Sie zitterte vor Kälte. Der Lebensfunke in ihr war fast erloschen. Sie musste zum Feuer!
Schnee fiel ganz in der Nähe von einem Ast, und die Elfe zuckte zusammen. Nichts regte sich. Die Sehne war von ihrem Bogen gerissen und sie würde keine neue mehr aufziehen. Selbst als sie bewusstlos geworden war, hatte sie die Waffe nicht losgelassen.
Weiter oben am Hang konnte sie die Fackeln sehen. Die meisten hatten sich entlang des Bachlaufs versammelt. Sie konnte nicht mehr länger warten. Nandalee trat auf die Lichtung. Halb rechnete sie damit, einen Troll aufbrüllen zu hören, der irgendwo unter den Bäumen zurückgeblieben war. Vereinzelte Schneeflocken tanzten herab. Alles blieb ruhig.
Es tat gut, die Hitze des Feuers auf dem Gesicht zu spüren. Sie war noch etwa zehn Schritt entfernt, aber die Wärme umarmte sie schon jetzt. Fast schmerzhaft. Der Schnee war in weitem Umkreis geschmolzen, braunes Gras lag vom Leichentuch des Winters befreit, Trollfüße hatten den Boden zu Schlamm zertrampelt und die Funken stiegen dem Nachthimmel entgegen. Die Kälte hatte sich wie Dornenranken in ihr Fleisch gegraben und all ihre Glieder schmerzten, aber die Hitze war ein lockendes Versprechen, allen Schmerz enden zu lassen. Nandalee kam näher. Mit einem verzweifelten Seufzer schleuderte sie den Bogen, der sie so lange Jahre zur Jagd begleitet hatte, in die Flammen.
Ihre Finger gehorchten ihr noch immer nicht. Sie konnte sie zwar krümmen, aber ihre Bewegungen waren fahrig. Sie zerschnitt den Riemen des Köchers und warf ihn ebenfalls ins Feuer. Sie hielt sich nicht mit der Verschnürung ihres Wamses auf. Sie schnitt es auf und streifte es ab. Der Übergang zwischen Hose und Stiefeln war von schmelzendem Eis verkrustet. Wieder half das Messer.
Schnitt um Schnitt, unterbrochen von ungelenkem Zerren, entledigte sie sich ihrer Kleider und übergab alles den Flammen. Am Oberschenkel sickerte dickflüssiges Blut aus einer Wunde, aber sie fühlte keinen Schmerz. Das Bein war taub vom Frost, als gehöre es nicht mehr zu ihr. Teilnahmslos sah sie zu, wie das Blut über ihr nacktes Bein rann. Über die Tätowierung auf Wade und Oberschenkel. Den stilisierten springenden Hirsch. Das Geschenk des Maurawan, den sie einen Sommer lang als Gefährten erwählt hatte. Er war ein geschickter Bilderstecher gewesen. Sie seufzte. Es war unmöglich, diese Spur auszulöschen. Sie war eine Windgängerin, mit jeder Faser ihres Leibes. Die Trolle würden es herausfinden. Es sei denn …
Sie blickte auf das Feuer. Halb verkohlte Stämme ragten aus der Glut. Die Flammen sanken langsam in sich zusammen, aber die Hitze war noch immer gewaltig. Im Herzen des Feuers könnte man gewiss noch Metall schmelzen. Es war mehr als genug, um alle Sorgen zu beenden.
Sie machte einen Schritt zum Feuer hin. Die Wärme auf ihrem nackten Leib war wie ein Lockruf. Im ersten Augenblick. Dann folgte der Kälteschmerz in den erwachenden Gliedern. Nandalee schloss die Augen und ging weiter auf den Gluthaufen zu. Sie würde ihre Sippe beschützen. Ihre Spur endete hier. Die Trolle würden niemals erfahren, woher sie gekommen war!
»Ein ziemlich unwürdiges Ende einer bemerkenswerten Flucht.«
Die Stimme war hinter ihr erklungen. Nandalee stand jetzt so nahe am Feuer, dass sich ihre Haut zu röten begann. Verwirrt wandte sie sich um. Ein Elf am Rand der Lichtung winkte ihr freundlich zu. »Dürfte ich vorschlagen, ein paar Schritt in meine Richtung zu machen, bis du endgültig über dein Schicksal entschieden hast? Wenn du gestattest, bleibe ich stehen, damit mir das Ganze hier nicht im Nachhinein als plumper Annäherungsversuch an eine überaus attraktive und zudem unbekleidete Dame ausgelegt wird. Meine Gefährtin hat manchmal eine Zunge wie ein doppelseitig geschliffener Dolch.«