Nandalee war so verblüfft, dass sie einfach stehen blieb und gaffte. Der Elf trug eine leichte, weiß lackierte Lederrüstung, zwei Schwertgurte kreuzten sich über seiner Brust. Die Waffengriffe ragten über seinen Schultern auf. Er lächelte frech und sah sie ganz unverhohlen an. Nandalee wurde sich unangenehm ihrer Nacktheit bewusst, unterdrückte aber den Reflex, ihre Scham zu bedecken, weil sie befürchtete, sich in den Augen des Fremden nur noch lächerlicher zu machen. Die Gefährtin, von der er gesprochen hatte, konnte Nandalee nicht entdecken. Woher kam er? Sie war zu benommen, um klar denken zu können. Gaukelten ihre Sinne ihr diesen Fremden nur vor? Nein, gewiss nicht. In der Stunde ihres Todes würde sie doch nicht an einen schamlosen Strolch denken, der sich ihre Lage zunutze machte!
Der Elf verneigte sich übertrieben und streckte die Hand vor, als wolle er sie zum Tanz auffordern. »Bitte, meine Teuerste, entferne dich ein wenig vom Feuer. Die Hitze versengt dein Haar. Es wird etliche Monde dauern, bis dieser Schaden herausgewachsen ist.«
Nandalee konnte es riechen. Ihre Haare! Sie wich vor den Flammen zurück, ging jedoch nicht direkt auf den Fremden zu. Sie hatte einen Verdacht, wer er sein musste. Seine Kleidung unter der Lederrüstung war viel zu leicht. Er trug ein langes Seidengewand mit einem Stehkragen und weite weiße Hosen. Dazu diese Überheblichkeit … Er war ein Sippenloser! Einer von jenen, die sich den Drachen verschrieben hatten.
Ein tiefer, grollender Laut beendete all ihre Überlegungen. Zwei Trolle traten aus dem Dunkel des Waldes. Nandalee wandte sich ein wenig ab, sodass sie ihre Tätowierung nicht sehen konnten. Die riesigen Krieger waren mit Speeren bewaffnet, deren Schäfte armdick waren. Die Spitzen hatten sie im Feuer gehärtet. Primitive Waffen, aber in den Händen von Trollen absolut tödlich.
Der Fremde sprach die beiden freundlich an. Er beherrschte ihre Sprache! Das hieß, die Drachenelfen gaben sich auch mit Trollen ab. Das passte ganz zu den Erzählungen, die sie über die Sippenlosen gehört hatte!
Die beiden Trolle schienen genauso überrascht zu sein, wie Nandalee selbst es war. Sie verharrten und starrten den Elfen unschlüssig an. Was der Drachenelf ihnen wohl gesagt hatte? Nandalee umfasste das Messer, mit dem sie ihre gefrorene Kleidung zerschnitten hatte, fester und wich zurück. Die Waffe würde ihr nicht helfen können, das wusste sie. Ebenso gut hätte sie den Trollkriegern mit einer Taubenfeder in der Hand entgegentreten können.
Einer der Trolle stieß einen bellenden Ruf aus. Stimmen im Wald antworteten, Äste brachen, die Fackeln schwenkten vom Fluss ab. Auch von dort waren Rufe zu vernehmen.
»Deine diplomatischen Bemühungen scheinen nicht zu fruchten, Gonvalon.« Eine schlanke, schwarzhaarige Elfe erschien unter den Schatten der Fichten. In selbstbewusster Ruhe ging sie den Trollen entgegen. Sie trug keine Waffe, und ihre Schritte hinterließen keine Spuren im Schnee. Sie wirkte zerbrechlich wie ein Eiskristall. Und genauso kalt. Furchteinflößend.
Ein Schaudern überlief Nandalee. Die Vorahnung nahenden Unheils. Die Elfe würdigte sie keines Blickes. Sie ließ sich zwischen ihr und den Trollen nieder, ganz so, wie man in einem Zelt Platz nimmt, in dem man gern gesehener Gast ist.
Im selben Augenblick gab jener Elf, den die Schwarzhaarige Gonvalon genannt hatte, sein affektiertes Gehabe auf und lief Nandalee entgegen. Ohne sich weiter um Etikette zu scheren, packte er sie. »Lauf! Da sind noch andere. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Nandalee vermochte den Blick nicht von der Kriegerin zu wenden. Ihr Kleid war weiß wie Neuschnee. Es lag eng wie eine zweite Haut auf ihrem Körper. Ein Stehkragen verbarg den langen Hals der Elfe. Silberne Stickereien blinkten im Sternenlicht.
»Komm endlich!« Gonvalon zerrte an ihr. Sie gab nach, ohne die Elfe aus den Augen zu lassen. Die Dunkelhaarige saß im Schnee, als wolle sie meditieren – die Hände auf den Knien, den Rücken durchgedrückt, den Hals gestreckt. Der Wind spielte mit ihrem offenen Haar.
»Ist sie eine Zauberweberin?«
»Nein, das ist Ailyn«, entgegnete Gonvalon, als sei damit alles gesagt. Sie traten in den Schatten der Bäume. Irgendwo vor ihnen schnaubte ein Pferd.
»Was tut sie da?«
»Sie gibt den beiden Gelegenheit, sie nicht anzugreifen.«
»Was? Das ist doch völlig …«
»Bei Tieren ist sie damit erstaunlich erfolgreich.«
»Aber das sind Trolle! Du willst mir doch nicht sagen, dass sie damit zwei Trolle …«
Gonvalon zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, es ist das erste Mal, dass sie es bei Trollen versucht.«
Nandalee riss sich los. »Wir müssen zurück und ihr helfen!« Die beiden Trolle standen nun unmittelbar vor der Elfe. Auch sie schienen verwundert. Einer stupste sie an, als wolle er sichergehen, dass es sie wirklich gab. Der Oberkörper der Elfe pendelte.
Der zweite Troll brüllte sie an. Es war ein tiefer Ton, der Nandalee in den Magen drang.
»Sie tut das für dich, und du wirst nicht alles zunichte machen, indem du jetzt zurückläufst!«
Der Troll, der geschrien hatte, spuckte der Elfe ins Gesicht.
Dumpfer Hufschlag erklang vor ihnen im Wald. Pferde? Das war töricht! Im tiefen Schnee waren sie zu langsam. Sie mochten ein paar Stunden gewinnen, aber die Trolle würden sie einholen.
Der Troll, der die schwarzhaarige Elfe angeschrien hatte, hielt ihr nun die Spitze seines wuchtigen Speers vors Gesicht und stupste damit gegen ihre Stirn. Wieder federte die Elfe leicht zurück. Nandalee konnte sehen, dass sie jetzt blutete. Der Troll lachte, packte die Waffe mit beiden Händen und holte Schwung, um die Elfe mit einem wuchtigen Stoß aufzuspießen.
Die Schwarzhaarige machte aus dem Sitz eine Rolle zurück. Ein Fuß traf die Speerspitze mit solcher Wucht, dass sie nach oben gerissen wurde. In fließender Bewegung kam sie auf die Beine, packte das untere Ende des Speeres und riss daran, sodass die Spitze auf den Hals des Trolls zeigte. Ein Tritt, und die Waffe drang mit solcher Wucht durch die Kehle des Kriegers, dass die feuergeschwärzte Spitze aus seinem Nacken austrat.
Noch ehe der Hüne tot in den Schnee stürzte, hatte die Elfe wieder ihre alte Position eingenommen. Ihre Hände ruhten mit den Handflächen nach oben auf den Knien. Sie wirkte völlig ruhig, als sei nichts geschehen.
Der zweite Troll packte seinen Speer wie eine Keule und versuchte, ihr den Kopf einzuschlagen. Die Elfe beugte sich weit vor. Der Hieb verfehlte sie um Haaresbreite. Er stand breitbeinig vor ihr, und Nandalee sah mit Entsetzen, dass weitere Krieger auf die Lichtung strömten.
Ein Schnauben ließ Nandalee herumfahren. Vor ihr stand kein Pferd, wie sie erwartet hatte, sondern ein Pegasus. Ein gewaltiger geflügelter Rappe. »Steig auf!«, befahl Gonvalon.
Sie sah den Hengst an und wusste nicht recht, wie sie es anfangen sollte. Aus den Flanken des Rappen wuchsen mächtige schwarze Schwingen.
Gonvalon schüttelte resignierend den Kopf und sprang dann über die Kruppe des Hengstes. Dort, wo bei einem anderen Pferd der Sattel aufgeschnallt gewesen wäre, befand sich ein breites Stück aus zähem Leder, auf das mehrere mit Schnallen verstellbare Schlaufen genietet waren. Gonvalon hatte seine Füße durch zwei Schnallen geschoben und einen langen, mit silbernen Amuletten behängten Zügel aufgenommen. Er streckte ihr die Hand entgegen. »Los, spring auf!«
Nandalee gehorchte. Etwas schwankend landete sie auf dem Sattel.
»Du musst deine Füße in die Schlaufen schieben!«, rief Gonvalon, während der Rappe in leichten Trab verfiel. »Und leg deine Arme um meine Hüften!«
Der Pegasus trabte auf die Lichtung und spannte seine Flügel aus. Kraftvoll schlugen sie auf und nieder, während er immer schneller lief. Nandalee tat, wie ihr geheißen, und klammerte sich an Gonvalon. Der verzweifelte Kampf darum, sich in die Luft zu erheben, erinnerte sie an einen Schwan, den sie einmal vor langer Zeit beobachtet hatte. Sieben oder acht Mal hatte er vergebens versucht, auf einem zu kleinen Weiher den Abflug zu schaffen. Die Lichtung war nicht nur klein. Es stürmten mehr und mehr Trolle aus dem Wald.