Er schrie auf. Schloss die Augen, doch die Bilder blieben. Er schlug sich mit den Fäusten vor die Schläfen, raufte sein Haar, doch die Bilder blieben. Der Schmerz linderte lediglich die Intensität der Trugbilder. Wie konnte das sein? Er hatte nie auch nur eine Frau berührt – Almitra einmal ausgenommen, aber diese Begegnungen existierten nur in seiner Fantasie und blieben auch in vielen Details eher unscharf und vage. Die Frauen, die ihm tatsächlich begegneten, sahen sich nicht einmal nach ihm um! Er war zu arm! Sein Verstand gaukelte ihm all das nur vor?! Wie konnten Bilder Erinnerungen gleich in ihm sein, die nicht die seinigen waren? Körper, Orte, Taten, Gefühle, wie er sie sich bislang in seinen wildesten Träumen nicht hätte ausmalen können und von denen er auch ganz gewiss niemals hatte erzählen hören. Er fühlte sich wie ein Gefäß, das zugleich leer und übervoll war. Er fand sich in sich selbst nicht mehr zurecht.
»Erhebe dich, Aaron! Du hast großes Glück gehabt!« Die Stimme des Löwenhäuptigen berührte seine Seele, und als habe der Devanthar ihn aus seiner Starre geweckt, überrollte Artax eine Welle aus Demut und Dankbarkeit. Endlich wagte er es, in das Antlitz des Gottes zu blicken – und erstarrte erneut. In dem Raubtiergesicht spiegelte sich blanker Zorn.
Artax schlug das Herz bis zum Halse. Was hatte er getan? Wie hatte er das Missfallen des Gottes erregt?
»Der Dolch fehlt.« Die Stimme durchdrang ihn wie eine Bronzeklinge.
Voller Schrecken blickte Artax an sich hinab. Er trug jetzt die Rüstung des Toten! Um seine Hüften war ein Wehrgehänge geschlungen, links hing nun das Sichelschwert in einer Lederschlaufe, rechts hingegen war nur eine leere Dolchscheide.
»Ich weiß nicht …«, stammelte Artax verzweifelt. »Ich habe nicht …« Er verstummte abrupt. Seine Stimme klang, als spräche ein Fremder! Sie war dunkler. Der Ton bestimmender, obwohl er ganz gewiss nicht so hatte klingen wollen.
Der Devanthar zog die Lefzen zurück und entblößte Fangzähne, groß genug, um mit einem Zuschnappen einen Arm abzutrennen. »Du musst den Dolch beim Sturz verloren haben.« Seine Stimme klang nicht bedrohlich. Eher in sich gekehrt und nachdenklich.
Artax wollte schon aufatmen, als sich etwas Kühles, Feuchtes um seinen Kopf schloss. Schatten bedrängten sein Gesichtsfeld. Sein Kopf fühlte sich an, als drücke ihn ein Mühlstein in eine andere Form. Etwas troff an seiner Nase herab und benetzte seine Lippen. Ein warmer, metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Blut! Bis ins Mark erschrocken, griff er nach seinem Kopf, und seine Finger berührten kaltes Metall.
»Das neue Zeichen deiner Würde, Artax«, sagte der Devanthar feierlich. »Der Maskenhelm des unsterblichen Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe.«
Artax tastete ungläubig nach seinen Wangen. Die Maske des Helms lag auf seinem Gesicht auf, wie eine starre silberne Haut. Sein üppiger Bart wurde von dem Metall gegen sein Kinn und seine Kehle gepresst. Dicht über der Brust weitete sich der Kehlenschutz, sodass sein Bart darunter hervorquellen konnte. Der Helm roch fremd. Er konnte das warme Blut des vom Himmel gestürzten Unsterblichen auf seiner Haut spüren.
Artax starrte zu dem Felsen, auf dem – nun nackt – der Leichnam Aarons lag. Die Glieder des Königs waren grotesk verdreht. Sein Gesicht sah aus, als sei es verrutscht. Eine zähe rote Masse quoll aus seiner Nase. Nur sein Bart hatte seine Würde behalten und war, geölt und zu Locken gedreht, auf wunderbare Weise in Form geblieben.
Artax tastete nach seinem eigenen Bart. Das Haar war weicher als gewohnt und etwas Öliges haftete an seinen Fingern. Er führte die Hand zu den Nasenlöchern im Maskenhelm – Rosenöl!
»Du bist jetzt ein Unsterblicher, Artax. Du wirst nie wieder einen Bart haben, der aussieht, als hättest du darin einer Mäusefamilie Zuflucht gewährt.« Der Devanthar lachte, doch es klang falsch. Es war ein Laut, der Artax das Herz gefrieren ließ.
Eine flüchtige Geste des Löwenhäuptigen ließ den Leichnam wie von Geisterhand gepackt über dem Fels schweben und Artax schlug erschrocken das Zeichen des schützenden Auges.
Wieder lachte der Göttliche. »Willst du mich bannen? Deinen Gönner!« Ein Wink des Devanthar und der Leichnam wurde in den Wald geschleudert.
Artax hörte dürres Geäst splittern und blickte zum Waldrand. Der Leichnam war verschwunden. Vor einer Stunde war er Aaron, der Herrscher Arams, gewesen. Ein Mann von fast göttlicher Macht. Und nun würde man ihn nicht einmal beerdigen, war er nur noch ein Stück Aas und … Artax stockte. Aaron? Wer war Aaron? Sein Mund war staubtrocken. »Ich bin …«, stammelte er und erstarrte. Horchte furchtsam in sich hinein, in seine Erinnerungen, seine Gedanken – und fand sich nicht. Er war nicht mehr allein in seinem Körper! Wie konnte das sein? Dieser Aaron war auch hier. Stand neben ihm, war in ihm, unter ihm, beanspruchte Raum in seinem Geist, seiner Erinnerung seinem Fühlen. Dieser Aaron war er selbst! Und zugleich war er, Artax, noch immer da. Natürlich war er da! Ich bin ja ich, dachte er. Da ist ein Fremder in meinem Kopf, dachte er. Ich bin der Fremde. Ich bin …
»Ich bin nur ein Bauer. Ich kann nicht …«
»Du willst mir widersprechen?« Der Löwengott bleckte die Zähne.
»Ich weiß doch gar nichts über …«
»Falsch! Denk nach! Du wirst dich an jedes Wort der Rede erinnern, die du deinen Kriegern gehalten hast, als ihr vor drei Tagen mit dem Palastschiff aufgebrochen seid. Du erinnerst dich an die Schlacht über dem Brennenden Berg. An deinen Harem. Du erinnerst dich an alles, was sich in Aarons Leben ereignete! Und an alles, wovon er je geträumt hat. Das Schicksal hat dir das größte Geschenk gemacht, das je einem Menschen zuteil wurde. Sei kein Narr!«
Natürlich wollte Artax ein Unsterblicher sein! Ein Unsterblicher – wieso nicht? Dumm war nur, dass der Betrug binnen einer einzigen Stunde auffliegen würde, selbst wenn er die Erinnerungen des Toten besaß. Er war doch nur ein Bauer! Man würde bei Hof merken, wenn er selbst über kleinste Dinge erst nachdenken musste – und das musste er. Diese Flut an fremden Erinnerungen war da. Irgendwie ein Teil von ihm. War verfügbar. War einsetzbar. Aber er beherrschte sie nicht. Er musste sich an seine Erinnerungen erinnern … Was für ein verdrehter Unsinn! Und doch wahr! So viele Bilder waren da, wenn er nur einen Herzschlag lang innehielt und sich ihnen öffnete. Konnte man in Bildern ertrinken? Sie machten ihm Angst. Weil er sich nicht mehr zurechtfand in sich selbst. Es war wie mit den Kühen. Wenn er von einer Sekunde auf die andere im Körper einer Kuh stecken würde, die gerade ein Kalb gebar, wenn er mit einem Mal alles Wissen dieser Kuh hätte – ihm schauderte, als er an die letzte Geburt eines Kalbes dachte, der er beigewohnt hatte – und das mit dem Gebären beginnen würde … dann würde er vielleicht wissen, was zu tun war. Aber er war doch niemals gefragt worden, ob er diese Erfahrung überhaupt machen wollte! Und er könnte das Ganze dann ja auch nicht der Kuh überlassen. Er müsste es ja selbst miterleben. Er wäre dann ja ein Teil dieser Kuh. Oder auch die Kuh selbst. Oder … Nein, unterbrach er sich harsch, hör auf damit. Es geht nicht um Kühe, es geht um Könige! Palastschiffe! Harem! Untertanen! Na gut, das mit dem Krieg, das war etwas anderes. Aber die Untertanen. Der Palast. Und … die Frauen. Vorsichtig lugte er in jenen neuen Teil von sich hinein – und spürte, wie er rot wurde. Aaron war ein ziemlicher Weiberheld gewesen. Nein, korrigierte sich Artax und grinste plötzlich, er war ein ziemlicher Weiberheld. Langsam gefiel ihm dieses Gedankenspiel. Er dachte an das Sprichwort von dem dümmsten Bauern mit den dicksten Kartoffeln und wog im Geiste seine Ehre gegen Reichtum und Frauen ab. Auf den Ruhm konnte er gut verzichten, die anderen beiden Punkte hingegen … Und wenn er die Sache mit den Kriegen beiseiteließe und sich stattdessen eher auf erfreulichere Dinge … Auf der anderen Seite, unterbrach er sich – was dachte er da überhaupt? So kannte er sich gar nicht. War er nicht Artax, der klare Ziele im Leben hatte, klare Vorstellungen von dem, was gut und richtig war? Und was würde seine erträumte Almitra von ihm denken? Der würde ein Kerl wie dieser Aaron gewiss nicht gefallen! Wollte er ein Leben in Träumen gegen einen Traum, der ein Leben geworden war, tauschen? Wollte er? Natürlich! Was waren das überhaupt alles für Gedanken? Das war ja zum Mäusemelken. Wie nach einem langen Tag Arbeit auf dem Feld bei sengender Hitze und ohne Kopfbedeckung. Man bekam einen Sonnenstich davon und wurde ganz wunderlich. Jetzt fühlte er sich auch ganz wunderlich. Er war krank. Das war es. Er war einfach krank und der Schlag auf den Kopf hatte selbst sein Traum-Ich durcheinandergewirbelt wie der Wind das Heu auf den Feldern. Wenn er wieder zu sich kam, würde sein Kopf noch eine Zeitlang brummen, aber dann würde er auch wieder gesund werden. Bestimmt! Er kannte sich mit Träumen aus. Tagträumen von Almitra, Nachtträumen von Wölfen, die seine Ziege rissen. Dumm war nur, dass es sich gar nicht anfühlte, als würde er träumen. Unsicher horchte er in sich hinein, aber ein leiser Zweifel blieb.