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Eine weiß gewandete Gestalt bahnte sich ihren Weg zwischen den Knienden. Ein alter Mann mit harten himmelblauen Augen und langem weißen Bart. Er stützte sich auf einen Stab, der von einer goldenen siebenstrahligen Sonnenscheibe gekrönt wurde. Abir Ataš, wusste Artax, der Hohepriester des Reiches. Der Mann, dem Aaron zugetraut hatte, über Meuchlerinnen auf fliegenden Pferden zu gebieten.

»Aaron, mein Augenlicht.« Der Alte kniete nieder und griff nach dem Saum von Artax’ Gewand, um ihn zu küssen. »Aaron! Das ist ein Wunder. Wahrhaft ein Wunder!« Er erhob sich und wandte sich zu der Menge. »Seht diesen wahrhaft Unsterblichen! Er fiel aus dem Himmel und kehrte zu uns zurück. Die Hand der Götter ruht auf ihm. Und auf uns allen, die wir ihn begleiten! Preiset ihn!«

»Heil dir, Aaron!«, erklang es aus so vielen Mündern, dass sich die Stimmen zu einer Macht vereinten, die wie ein Sturm über die Decks fegte. »Heil dir, Aaron!« Abir Ataš putschte die Menge immer weiter auf. Immer frenetischer wurde der Jubel.

»Danke«, sagte Artax, doch seine Stimme ging im Jubel unter. Er hob die Arme, und langsam verstummten die Rufe. Artax war sprachlos. Wie verhielt man sich in einem solchen Augenblick? Er überließ Aaron die Kontrolle und fühlte sich zugleich so erschöpft wie nie zuvor in seinem Leben. Jeder der tausend Blicke lastete wie Blei auf ihm. Sie tranken seine Kraft durch ihre Augen, aber er war nicht geschaffen für so etwas. Er hatte sie gar nicht, diese Kraft. Natürlich: Er war keine Memme. Wusste schon, wo der Hammer hing und wann man zupacken musste im Leben und – zumindest war es das, was man ihm oft sagte – hatte das Herz am rechten Fleck. Aber die Blicke, mit denen die Menschen ihn ansahen, waren Blicke für einen Gott. Einen übermenschlichen Heilsbringer. Und das bin ich einfach nicht.

»Aaron der Erleuchtete, Herrscher aller Schwarzköpfe, Wanderer zwischen den Welten, König der Könige, dankt euch«, verkündete der Devanthar. »Haltet den Wolkensammler auf Kurs und geht wieder an eure Arbeit. Aaron wird nun ruhen.«

Artax fragte sich, wie der Löwengesichtige das mit dem Ruhen wohl meinte. Die unergründlichen Augen des Devanthar schlugen ihn in seinen Bann. »Deine Frauen warten auf dich. Es ist ihnen verboten, die Außendecks zu betreten. Ich bin sicher, sie verzehren sich schon vor Sorge und Sehnsucht.«

Artax spürte, wie sein Mund schlagartig trocken wurde, und er drängte die Erinnerungen an Aarons Leben und dessen Frauen zurück. Jetzt, wo der Harem, jener – so hatte er gedacht – Traum eines jeden Mannes, zum Greifen nah war, war ihm mehr danach, Korn zu dreschen. Holz zu hacken. Irgendetwas Körperliches zu tun. Er war aufgeregt. Er fühlte sich überfordert. Er dachte an Almitra. Er war der Sache nicht gewachsen.

»Ich möchte zuerst die tote Meuchlerin sehen!«, sagte er mit fester Stimme.

»Kein erfreulicher Anblick«, murmelte Juba an seiner Seite.

»Was für ein Herrscher wäre ich, wenn ich mich nur den erfreulichen Dingen des Lebens widmen würde?«, verkündete Artax salbungsvoll und dachte an Tigran, einen Bauern vom Nachbarhof, der manchmal in betrunkenem Kopf auf den großen Tisch in der Dorfschenke sprang und überschwängliche Reden hielt. Sie lachten viel an Abenden wie diesen. Er aber hatte noch etwas mehr Ernsthaftigkeit hineingelegt in seine Worte. Klang ganz überzeugend, wie er fand.

Der Devanthar hob eine Braue, und einmal mehr fragte Artax sich, ob er schon wieder danebenlag und wie lange er diesen Ausflug in die Welt eines Unsterblichen wohl überleben würde.

»Macht Platz für Aaron den Erleuchteten!«, rief Juba, schob den Priester zur Seite, und die Menge teilte sich widerwillig vor dem bulligen Krieger. Artax beeilte sich, ihm zu folgen. Eine Schar Wachen mit wallenden roten Umhängen und glänzend polierten Brustharnischen schloss sich ihnen an und gaben ihr Bestes, die Schaulustigen zurückzuhalten.

Hinter ihnen erhob der Hohepriester erneut seine Stimme. »Seht den Unsterblichen! Das fleischgewordene Wunder! Seht ihn, auf dass ihr noch euren Kindern und Kindeskindern von diesem Tag berichten mögt.«

Die Worte peitschten die begeisterten Massen noch weiter auf. Aarons Wachen wurden gegen ihn gedrängt. Immer enger wurde der Kreis aus Leibern, der sich um ihn schloss, und selbst Jubas Löwenkräfte reichten nicht mehr aus, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Männer und Frauen versuchten ihn zu berühren, und seine Welt schrumpfte zu einem Dickicht nackter Arme und aufgeregt zappelnder Hände. Dann hob ihn etwas sanft von den Beinen. Artax keuchte vor Entsetzen. Tentakel griffen unter seine Achseln und wickelten sich um seine Oberarme. Er wurde über das Deck und die Köpfe der aufgepeitschten Menge gehoben!

Hör auf, so zu zappeln!, mahnte ihn die Stimme des Devanthar in seinem Kopf. Das sieht ganz und gar nicht königlich aus. Und jetzt sag ihnen etwas, damit sie sich beruhigen.

Statt zu gehorchen, blickte Artax auf. Ein Schwarm junger Wolkensammler glitt dicht über ihm hinweg. Zwei der schwebenden Kreaturen hatten ihn gepackt. Ihre aufgedunsenen Leiber waren groß wie Vorratsamphoren. Dutzende schlangenhafter Tentakel hingen davon herab. In den durchscheinenden Greifarmen konnte er dunkles Blut pulsieren sehen, und Schleim rann ihm über die nackten Arme. Fühlt sich ganz so an, wie wenn man ein Zicklein auf die Welt holt, dachte er. Reg dich nicht auf. Bleib einfach ruhig. Alles wird gut.

Vielleicht fünfzig Schritt über ihm wölbte sich der riesige Leib des Wolkensammlers, der diesen seltsamen fliegenden Palast trug. Er füllte den ganzen Himmel über ihnen aus. In Netzen, die zum Teil mit dem Leib verwachsen zu sein schienen, kauerten etliche Wolkenschiffer. Manche winkten ihm zu.

Als Artax höher schwebte und das ausladende Deck mit seinen zahllosen Aufbauten, Türmen und Pavillons besser überblicken konnte, erschloss sich ihm die Systematik dieses fliegenden Palastes. Kuppeltürme, die sich in der Mitte des Decks und entlang der Flanken des Rumpfs erhoben, schienen Geschütze zu beherbergen. Aarons Erinnerungen offenbarten ihm, dass die Türme über ein Räderwerk aus Holz und Metall, das sich im Rumpf verbarg, sogar gedreht werden konnten. Weit zum Bug hin entdeckte er das Deck der fliegenden Schützen, wo etliche kleinere Wolkensammler sich in Trauben an die Rahen kleinerer Masten klammerten, die einzig errichtet waren, um diesen Himmelsgeschöpfen Sammelpunkte zu geben. Von manchen der Wolkensammler hingen lederne Fluggeschirre für die tollkühnen Krieger, die ihnen ihr Leben anvertrauten.

Die beiden Wolkensammler, die ihn ergriffen hatten, trugen ihn zum Heck des schwebenden Palastes. Artax hatte zwar aufgehört zu strampeln, konnte sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, wie man es schaffen sollte, von Tentakeln gepackt würdevoll in der Luft zu hängen. Er versteifte sich und drehte den Kopf, um zu sehen, was ihn erwartete. Der Anblick verschlug ihm den Atem. Dem Deck entwuchs ein großer Baum, dessen Stamm bis zur Unterseite des aufgedunsenen Leibes des Wolkensammlers reichte und dessen Äste das riesige Himmelsgeschöpf umfingen wie die Arme einer Geliebten. Manche schienen sogar in den Leib hineinzuwachsen.

Artax hatte einen solchen Baum noch nie gesehen. Dicke, verdrehte Stränge liefen über die borkige Rinde bis zu den obersten Ästen hinauf. Weiße Blüten mit einem Hauch von Rosa inmitten ihres Kelchs schienen fast ebenso zahlreich zu sein wie die großen, gezackten Blätter. Bunte Vögel lebten auf dem Baum, als stünde er nicht inmitten der Wolken, sondern zweitausend Schritt unter ihnen im Dschungel. Artax glaubte sogar einige Affen in den Schatten der mächtigen Krone auszumachen.

Der Baum wurzelte in Erde. Wie viele Decks tief sie wohl reichte? Und wie vermochte der Wolkensammler dieses Gewicht zu tragen? Noch ehe er Aarons Erinnerungen dazu befragen konnte, sanken die beiden kleinen Wolkensammler, die ihn getragen hatten, tiefer. Seine Sohlen streiften das Deck. Er machte einen wenig eleganten Hüpfer. Dann stand er sicher auf den Beinen und die Fangarme lösten sich. Auf diesem Teil des Decks taten nur wenige Krieger und Wolkenschiffer Dienst, die ihn allesamt voller Respekt angafften. Waren sie Augenzeugen seines Falls gewesen?