Nicht weit vom Baum, dicht bei der Reling, war das Deck mit Blut verschmiert. Ein zerknüllter roter Umhang lag dort, darunter lugte ein schmaler Stiefel hervor.
»Deine Mörderin.« Der Devanthar war an seiner Seite. Unvermittelt, ohne dass Artax hätte sagen können, wie er dorthin gelangt war, wo er selbst doch gerade erst mehrere hundert Schritt über das Deck geschwebt war. Der Löwenhäuptige kniete nieder und zog den Umhang beiseite. Selbst im Tod sah die Meuchlerin noch berückend schön aus. Ihre smaragdgrünen Augen waren weit aufgerissen. Obwohl ohne jeden Glanz, erschienen sie Artax immer noch verlockend. Sie verhießen Geheimnisse. Woher sie wohl gekommen war? Und wichtiger noch, wer hatte sie geschickt?
Sie trug ein Kleid, das fast den Farbton ihrer Augen hatte, mit goldenen Stickereien geschmückt war und wirkte, als habe sie es für ein Fest angezogen. Hatte sein Tod ein Fest sein sollen?
Dann aber ging Artax der grundlegende Fehler in seinen Gedanken auf. Sie war nicht um seinetwillen gekommen. Das würden die nächsten tun. Sie waren um Aarons willen gekommen.
Ein Armbrustbolzen steckte im Nacken der Meuchlerin. Weitere Bolzen hatten sie in die Brust und in den linken Oberarm getroffen. Über dem Bauch war das Kleid zerfetzt und gab den Blick auf eine klaffende Schwertwunde frei. Selbst im Tod hielt sie noch das riesige Schwert umklammert, mit dem sie gekämpft hatte. Wieder bedrängte ihn die Erinnerung an Aarons letzte Augenblicke. Der Unsterbliche war vor der Elfe zurückgewichen. Er hatte Angst gehabt, dass seine Leinenrüstung ihn vor der verwunschenen Klinge nicht schützen würde. Voller Panik war er auf die Reling gestiegen. Der Angriff der Meuchlerin hatte nur wenige Atemzüge gedauert. Vier oder fünf seiner Leibwächter hatte sie niedergemacht. Die übrigen Wachen waren nur mit Armbrüsten bewaffnet gewesen und hatten aus Angst, ihren Herrscher zu treffen, nicht gewagt zu schießen. Aaron hatte sich zurückgebeugt, um einem Hieb auszuweichen. Als er mit dem Armen rudernd um seine Balance gerungen hatte, hatte sie ihm mit ihrem riesigen Schwert nur einen leichten Stoß versetzt. Dabei hatte sie ihn angelächelt. Nicht gehässig. Sie hatte ihn getötet, aber sie hatte es ohne Zorn im Herzen getan. War sie verrückt gewesen? Mit Sicherheit! Ihr hätte doch klar sein müssen, dass ein solcher Angriff sie auch ihr eigenes Leben kosten würde! Was hatte sie dazu getrieben, dieses größte Opfer billigend in Kauf zu nehmen und ihn freundlich lächelnd in den Abgrund zu stürzen?
Schon wieder! Sie hatte Aaron in den Abgrund gestürzt! Nicht ihn!
»Versuche nicht, Elfen zu verstehen«, sagte der Devanthar leise. »Sie verachten die Menschen. Manche verdingen sich den Drachen.«
Artax hielt den Atem an. Langsam drehte er sich zu dem Löwenhäuptigen um. »Ein Drache hat sie hergeschickt?« Er suchte nach einem Hinweis in der Tierfratze des Devanthar, dass dies ein Scherz war. »Ein Drache?«, wiederholte er noch einmal. »Es gibt hier Drachen?«
»Nicht hier. In der Anderswelt. Die Himmelsschlangen, sieben große Drachen, herrschen dort im Namen der Götter. Sie ist von dort gekommen.«
Artax starrte die Tote an. Er hatte viele Geschichten über die Anderswelt gehört. Über Dschinne, die auf dem Wind ritten, und Leichenfresser, die unter den wandernden Dünen der Wüste lebten. Er wusste um Schlangen, in deren Kopf ein Edelstein steckte und die Wünsche wahr werden lassen konnten. Und um das kleine Volk, das sich gerne in verborgenen Winkeln von Ställen und Stuben einnistete. Wenn man gut zu ihnen war, erfüllten auch sie Wünsche. Doch wehe dem, der sie verärgerte. Dem drohten Missernten, Zicklein, die mit zwei Köpfen geboren wurden, und jegliches Missgeschick, das man nur ersinnen konnte. Die Tote erinnerte ihn an eine Geschichte über eine schöne Jungfrau, die eine Quelle weit in der Wüste hütete, die nur einmal in hundert Jahren sichtbar wurde und unter deren kristallklarem Wasser ein unermesslicher Schatz ruhte. »Was sind Elven?«, fragte er.
Der Devanthar stieß ein leises Fauchen aus. »Meuchler sind sie! Das siehst du doch. Die willfährigen Werkzeuge ihrer Meister.«
Artax kniete nieder und strich über das lange weißblonde Haar der Toten. Es fühlte sich zart wie Seide an. Nachdenklich blickte er auf. Seine Leibwachen hatten die Menschenmenge unter Kontrolle gebracht und hielten sie jenseits des Baumes zurück. Nur Juba und Abir Ataš, den alten Hohepriester, hatten sie durchgelassen. Die beiden kamen ihm entgegen. Er blickte zu der Menge, die aufmerksam jeder seiner Bewegungen folgte.
»Sind sie alle nicht auch nur willfährige Werkzeuge des Unsterblichen? «
Der Löwenhäuptige knurrte. »Was bist du? Ein philosophierender Bauer?«
Artax musste auf Aarons Wissen zurückgreifen, um dieses fremde Wort zu verstehen.
»Der Unterschied zwischen deinen Untertanen hier und den Elfen ist, dass zumindest auf den Wolkenschiffen nur Freiwillige dienen.« Der Devanthar war nun dicht an seine Seite getreten und seine Allmacht war geradezu körperlich spürbar. Er wirkte nicht mehr so gereizt, sondern vielmehr, als wolle er ihn allein mit Worten überzeugen. »Die meisten Wolkenschiffer kommen wegen des Goldes, denn in einem Jahr an den Himmeln Nangogs kann man mehr Gold machen als in sieben Jahren in der Heimat. Manche kommen auch wegen des Abenteuers oder wegen des Ruhms. Andere wiederum hoffen, hier einmal in ihrem Leben einem Unsterblichen oder einem von uns Devanthar nahe zu kommen. Die Elfen in diesen goldbestickten Gewändern aber sind sämtlich Sklaven ihrer Drachenherren. So weit geht ihre Unterwerfung, dass sie sich Drachenelfen nennen und sich das Bild eines Drachen unter die Haut stechen lassen. Ihren freien Willen haben sie lange verloren. Sie sind allesamt Ausgestoßene. Sippenlose werden sie genannt, weil ihre eigenen Familien die Bande zu ihnen zerrissen haben und sie fürchten. Es sind bedauernswerte und fehlgeleitete Geschöpfe.«
Artax strich noch einmal über das wunderbar zarte Haar der Toten. »Und schön sind sie. Wirklich schön!«
Der Devanthar lachte. »Hast du so lange keine Frau gehabt, dass du dich in eine dürre Elfe verguckst?«
Juba und der Priester waren indessen in Hörweite angelangt. Während sein Kriegsmeister beflissentlich auf das Deck sah, räusperte sich der Hohepriester und sah den Löwenhäuptigen verständnislos an. Abir Ataš stützte sich schwer auf seinen Sonnenstab, sein Atem ging keuchend.
Artax war froh, den Maskenhelm zu tragen. Er spürte, dass seine Wangen flammend rot geworden waren. Der Devanthar wusste gewiss ganz genau, wie es um ihn und die Frauen stand. Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, ihn zu verhöhnen.
Behutsam öffnete Artax die Hände der Elfe und nahm das große Schwert. Die Waffe war leichter, als er erwartet hatte. Er wog sie prüfend in den Händen. Nicht dass er sich mit Schwertern ausgekannt hätte. Ungewollt drängten die Erinnerungen aus Aarons Leben in sein Bewusstsein. Doch, er kannte sich mit Schwertern aus. Er ließ die Klinge durch die Luft wirbeln, sodass der Hohepriester ängstlich vor ihm zurückwich.
»Ein feines Schwert«, sagte Artax zufrieden.
»Eine verfluchte Waffe«, entgegnete der Devanthar entschieden. »Durchdrungen von finsterster Drachenmagie. Ein Schwert wie dieses vermag deine Leinenrüstung zu durchschneiden, als sei sie aus fauligem Laub gefertigt. Nur die wenigsten Elfenklingen vermögen dir etwas anzuhaben, aber dies hier ist so eine Waffe. Sie wurde erschaffen, um das Blut der Unsterblichen zu vergießen.«
Artax wog die Waffe in der Hand. Er konnte die Magie darin nicht spüren. Mit einem weiten Schwung schleuderte er sie über die Reling. »Eine solche Waffe brauchen wir hier an Bord nicht.« Er wandte sich an Abir Ataš. »Ich wünsche, dass die Elfe beigesetzt wird, als sei sie eine Königin.«