Ein Geschoss verfehlte ihn knapp, zwei weitere folgten. Dann war er außer Reichweite und das prächtige Schiff wurde vollends von der Staubwolke verschlungen.
Nachtatem stieg in weiten Kreisen höher. Er musste nun kaum noch mit den Flügeln schlagen. Der Aufwind trug ihn in den Himmel. Geschafft!
Kurz ließ er sich treiben, holte Atem, sammelte sich und verschloss die Ohren vor dem ungeheuerlichen Tosen, in dem die Welt versank. Tief unter ihm, inmitten des Mahlstroms aus Felsgestein, Staub und Tod, verglomm das brennende Wolkenschiff in glutrotem Licht wie eine sterbende Sonne. Erst hoch vom Himmel herab sah Nachtatem das ganze Ausmaß der Zerstörung. Der Strudel aus Fels und Staub weitete sich aus, fraß unerbittlich, was eben noch sicherer Boden gewesen war. Spalten, weit wie Täler, griffen ins Land hinaus. Am Horizont stürzte das Meer in meilenweiten silbernen Kaskaden in den Abgrund.
Die Welt verschlang sich selbst.
Der Drache wandte sich ab. Stieg weiter in den Himmel hinauf. Er wusste, dass dieses Unheil unumkehrbar war und welchen Anteil er daran hatte. Er hatte seine Macht zu zögerlich gebraucht, es anderen überlassen, seinen Kampf zu führen. Zum ersten Mal empfand er sein langes Leben als Last. Nie zuvor hatte er mitansehen müssen, wie sich ein Sieg in eine Niederlage verwandelte.
Nachtatem suchte nach einem der Albensterne, jenen magischen Pforten, die es kundigen Zauberwebern erlaubten, binnen eines Herzschlags Hunderte Meilen weit zu reisen. Ja, wer die verschlungen Pfade gut kannte, den führten sie gar in andere Welten.
Der Drache war müde. Lange flog er durch den blutroten Himmel, bis er einen Albenstern fand – weit entfernt vom Mahlstrom des Verderbens, auf einer Lichtung, bei einem dunklen Teich voller Seerosen. Hier war das Beben nicht zu spüren. Noch nicht. Ein Wort der Macht, ein Gedanke, und zwei Lichtschlangen entsprangen dem Wasser. Sie neigten sich einander zu und formten ein Tor, hinter dem ein Goldener Pfad durch die Finsternis führte. Tausende Male war er auf Pfaden wie diesem gegangen und ohne Mühe fand er den Weg zurück in sein Refugium. Jenen Jadegarten, wo tief unter einer Pyramide, alt wie die Welt, die weite Halle lag, die seine Zuflucht geworden war.
Dort rollte er sich zusammen und überließ sich seinem Schmerz. Er hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Hatte Jahrzehnte, Jahrhunderte seines Lebens damit zugebracht, darüber nachzudenken, wie er ihn hätte verhindern können. Konnte man die Zukunft verändern? Er hatte es so sehr versucht … Jetzt wusste er nicht einmal mehr, ob es letztlich nicht sein verzweifeltes Aufbegehren gegen das Schicksal gewesen war, das den Untergang herbeigeführt hatte.
Er hörte Schritte in dem flachen Wasser, das den Boden der Halle bedeckte. Müde hob der Drache sein staubverkrustetes Haupt. Seine entschlossenste Kriegerin war gekommen. Hell leuchtete das lange weiße Gewand der Drachenelfe in der Dunkelheit. Ihr blondes Haar wallte offen über ihre Schultern. Ein Strahlen schien sie zu umgeben. Sie wirkte unbesiegbar.
Ihr kommt zu spät, dachte er.
Lyvianne spürte ihren Meister mit all ihren Sinnen, und seine Präsenz war so überwältigend, dass es ihr endlich gelang, ihren Blick von den wirbelnden Bildern in der Silberschale zu lösen. Sie roch den Drachenodem, diesen unvergleichlichen Duft, der dem Goldenen zu Eigen war. Schmeichelnd war er und berauschend zugleich, und das Herz wurde ihr weit.
Der schlangenhafte Leib ihres Meisters füllte die halbe Lichtung aus, und das Himmelslicht spiegelte sich in tanzenden grünen Reflexen auf seinen goldenen Schuppen. Wo er war, konnte es kein Dunkel geben. Das Leuchten, das ihn umgab, trank jeglichen Schatten.
Ihr habt ihn also gesehen, Lyvianne – jenen Tag, an dem die Welt vergehen wird.
Wenn er in Drachengestalt sprach, haftete seinen Worten stets ein fremder Klang an, den keine Elfenzunge nachzuahmen vermochte. Eine Melodie schwang in den Sätzen mit und gab ihnen den entwaffnenden Klang eines reinen Gefühls. Mal war es Freude, mal Zuversicht, mal Melancholie. Nun aber waren seine Worte von einer Traurigkeit durchdrungen, die ihre Seele berührte.
»Welche Welt wird untergehen, mein Meister? Ich sah ein Wolkenschiff. War es Nangog?«
Ich habe jede der drei Welten vergehen sehen, meine Dame. Daia, wo die Menschenkinder leben, das unschuldige Nangog und auch unsere Heimat, Albenmark. Die Bilder der Silberschale sind trügerisch und verheißen stets Unglück. Vertraut ihnen nicht.
»Ihr wisst, ich bin die Eure, ganz und gar. Wer muss sterben, damit diese Bilder nur ein dunkler Traum bleiben? Wer ist der Quell des Übels?«
Der Goldene lachte und sein plötzlicher Frohsinn überwältigte sie. Er lachte selten.
Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet verhindern, wozu der Dunkle nicht in der Lage war?
Beschämt senkte Lyvianne ihr Haupt. Wie hatte sie so vorschnell, so vermessen sein können?
Mein Nestbruder ist verblendet vom Glauben an seine Allmacht. Er sieht den Verrat nicht mehr, der ihn umgibt. Wir müssen unsere eigenen Reihen wieder schließen, bevor wir den großen Kampf beginnen können. Dazu brauche ich Euch, meine Holde. Brauche Euren Rat. Euer Urteil, das so fest in Euren Idealen begründet ist, die mir Ehrfurcht einflößen und mich zugleich zutiefst erschrecken. Es ist die Klinge eines anderen, die ein unschuldiges Herz durchbohren muss. Und Ihr, Lyvianne, werdet mir helfen, diese Klinge ins Ziel zu führen. Ihr kennt jenen, der zum Mörder werden muss, so gut wie keine andere. Nur Ihr vermögt Ihn dazu zu bringen, etwas zu tun, von dem er weiß, dass er daran zerbrechen wird. Ich selbst war es, der einen Fehler begangen hat, der zu diesem Verrat führen muss. Vor mehr als dreißig Monden schon hat das Unheil seinen Anfang genommen, als ich meinen besten Meuchler in die weite Halle unter den Basaltklippen rief.
Lyvianne sah ihn lange an, trank seinen Atem, seine Traurigkeit. Dann nannte er die Namen der beiden, über deren Schicksal er entschieden hatte, und es war, als stoße er auch ihr einen Dolch in die Brust.
Am Rand der Klippe
Wenn sie ihn riefen, ging es meist um Mord. Und Gonvalon war genau in der Stimmung, jemanden zu töten. Am besten einen Zwerg. Diese Kleingeister zerstörten alles, was groß und gut war in dieser Welt, weil sie einfach nicht bereit waren, ihren Platz im Gefüge des Seins zu akzeptieren. Und es war an den Himmelsschlangen, diese Plätze zu vergeben. Sie bestimmten über das Schicksal aller, seit die Alben es aufgegeben hatten, sich um Weltliches zu kümmern. Falls die Alben etwas Derartiges jemals getan hatten. Die Himmelsschlangen waren wie Götter. Und er, Gonvalon, gehörte zu ihren Auserwählten, den wenigen, die sie unter ihre schützenden Schwingen geholt hatten. Er wusste, dass es nicht um seinetwillen geschehen war. Sie hatten in ihm etwas gesehen, und ihr Einfluss hatte ihn verändert. So wie sie alle Elfen veränderten, die sie zu sich riefen. Sie hatten sein Verborgenes Auge geöffnet und nun sah er die Welt, wie sie wirklich war. Gonvalon blickte über die weite Bucht. Nebel sickerte aus den dschungelgrünen Felsklüften der unruhigen See entgegen. Wie steinerne Wächter umstanden schroffe Klippen aus schwarzem Basalt die Meeresbucht, und Türme wucherten gleich Pilzen, denen man die Kappen abgeschlagen hatte, aus dem zerklüfteten Fels. Die Proportionen der alten Gemäuer ließen keinen Zweifel daran, dass sie nicht für Elfen geschaffen waren, aber der Ursprung der Türme war ungewiss. Selbst Trolle hätten sich unter den riesigen Torbögen klein gefühlt! Hatte es eine Zeit gegeben, in der Drachen in Türmen hausten?