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Und sie wusste, dass sie sich etwas vormachte. Es war ein gewaltiger Unterschied, ob man allein war, aber einen Platz hatte, an den man jederzeit zurückkehren konnte, oder einfach nur noch allein war auf der Welt.

Ihr Blick fiel auf etwas Helles, das auf der Truhe lag. Es war unter ihren neuen Kleidern verborgen gewesen. Eine Schneeflocke! Das konnte nicht sein. Es war viel zu warm in dieser Kammer.

Nandalee beugte sich vor, um die verwunschene Flocke näher in Augenschein zu nehmen. Es war kein Schnee, sondern Kristall. So zart, dass schon die leiseste Berührung ihn zerbrechen könnte. Aber warum hatte er dann das Gewicht der Kleider tragen können?

Der Kristall lag auf einem dünnen Silberblatt. War das Efeu? Die Form erinnerte vage daran. Ein Lederriemchen erlaubte, sich den Kristall umzuhängen. Ein Amulett. Sehr vorsichtig nahm sie es auf und tastete dann doch nach der Schneeflocke. Die sechs hauchzarten Arme zerbrachen nicht unter ihrer Berührung. Der Kristall war robuster, als er aussah. Bestimmt war er ein Geschenk des Sängers!

Nandalee legte sich das Schmuckstück um den Hals. Das Silberblatt fühlte sich angenehm warm an. Und schon im nächsten Augenblick umhüllte die Wärme ihren Körper, so als habe sie einen Mantel um die Schultern gelegt, der vor einem Lagerfeuer gehangen hatte. Das Amulett sollte sie vor der Kälte des hohen Himmels schützen. Vor dem beißenden Wind. Gewiss war es ein Geschenk des Sängers! Nandalee musste an die Geschichte der Ny Rin denken, die auf den Rücken der Regenbogenschlangen hinauf zum Blauen Stern geritten war. Vielleicht war es auch ihr bestimmt, zur Leibwächterin des Sängers zu werden. Immerhin war auch sie auf wundersame Weise auf den Blauen Stern gelangt, und nun wurde sie von dem Alben beschenkt. Der Gedanke gab ihr Mut. Sie war zwar sippenlos, aber nicht heimatlos. Sie würde höchsten Ruhm erlangen. Und man würde noch in Hunderten Jahren ihren Namen kennen. Sie, die Verstoßene, würde das berühmteste Kind ihrer Sippe sein!

»Bist du endlich fertig?«

Nandalee drehte sich überrascht um. Völlig lautlos hatte sich die Tür geöffnet. Sata erwartete sie mit verschränkten Armen. Wie konnten sich Alben nur mit so ungehobelten Geschöpfen als Diener umgeben?

Nandalee verzichtete auf eine Antwort. Wenn sie erst einmal unter die Leibwachen des Sängers aufgenommen war, dann würde sie Gelegenheit genug haben, sich für die Frechheiten Satas zu revanchieren. Sie folgte der Koboldin über einen Flur, dessen Wände aus gefrorenem blauen Licht zu bestehen schienen. Sie vermochte nicht einmal zu erkennen, ob es hier Türen gab. Der Boden aus dunkelrotem Holz knarrte leise und unabhängig von ihren Schritten, als sei er verärgert über ihre Anwesenheit.

Sie gelangten an eine enge Stiege. Sata musste Stufe für Stufe hinabhüpfen, während Nandalee ganz bequem gehen konnte. Die Koboldin brummelte vor sich hin und legte plötzlich die Hand auf eine der Wände. Ihre kleinen Finger versanken in blauem Licht, die Wand öffnete sich. Wind blies ihnen ins Gesicht. Er war eisig, und doch ließ seine Berührung Nandalee nicht erschauern.

Sata hatte sie zurück auf das Deck gebracht, auf dem sie mit Gonvalon gelandet war. Der Elf war zurückgekehrt, stellte Nandalee fest. Er war ohne Ailyn gekommen.

Gonvalon und sein schwarzer Pegasus schienen auf sie zu warten.

Ihre Überraschung musste ihr wohl überdeutlich ins Gesicht geschrieben gewesen sein, denn die Koboldin lächelte sie an. »Hast du etwa erwartet, dass der Sänger dich empfangen würde?«

Nandalee senkte beschämt den Blick.

»Ganz im Gegenteil«, fuhr Sata ungerührt fort. »Es war sein ausdrücklicher Wunsch, dass die Mörderin umgehend sein Schiff verlässt. Er war nicht erfreut, dass ich dich hier aufgenommen habe, und dies obendrein sogar, ohne seine Erlaubnis zu erfragen.«

Die Elfe blickte Sata zweifelnd an. War das die Wahrheit? Konnte man Kobolden glauben?

»Schon wieder überrascht, Kleine? Du musst noch viel lernen! « Sata lachte.

Gonvalon kam ihr entgegen und lud sie mit einer knappen Geste ein, ihr zu folgen. »Komm. Ich bringe dich an einen Ort, an dem man als Mörderin eines Thronfolgers gut angesehen ist.« Kein Lächeln begleitete diese Worte. Seine Augen erschienen ihr hart und kalt.

Die Mörderin eines Thronfolgers. Der Troll … Jetzt endlich begriff Nandalee. Begriff ganz und gar. Und die Erkenntnis, was ein einziger Pfeil, verschossen in unbedachtem Zorn, angerichtet hatte, traf sie wie ein Schlag. Sie hatte den Thronfolger des Königssteins ermordet! Ihre Beine zitterten und drohten nachzugeben. Die Jagd war noch lange nicht zu Ende, und es würde den Trollen nicht genügen, dass sie allein büßte. Ihre ganze Sippe war in Gefahr. Immer noch!

Der Sinn des Lebens

Artax erwachte von einem Lichtstrahl, der seine Nase kitzelte. Er blinzelte und zuckte zurück. Das Licht brannte sich durch seine Augen bis tief in den Kopf. Hastig zog er den Vorhang zu. Selbst das Zwielicht, das durch den schweren Stoff sickerte, war ihm unangenehm, und er fühlte sich völlig zerschlagen. Als sei eine Herde Wildpferde über ihn hinweggeprescht. Jeder Muskel schmerzte. Sein Mund war trocken und ein übler Geschmack hatte sich unter seiner pelzigen Zunge eingenistet.

So erwachten also Unsterbliche, dachte er, streckte sich und schloss wieder die Augen. Doch der pochende Schmerz in seinem Kopf blieb. Er erinnerte sich nur in Bruchstücken an den letzten Tag. Geträumt hatte er das alles wohl nicht, denn dann würde er in einer schäbigen Hütte auf einem Lager aus Heu und Moos liegen. Oder träumte er immer noch?

Keineswegs, du Wicht.

Der Devanthar! War er hier? Artax öffnete ein Auge und bereute es sofort wieder. Es war zu hell, dieses verdammte Zwielicht.

Schmeichelhaft, dass du uns mit dem Göttlichen verwechselst. Mach so weiter, dann werden wir vielleicht davon absehen, dich sofort umzubringen, Bauer.

Das war ein Alptraum, dachte Artax. Jetzt lag es klar auf der Hand. Ein wirklich seltsamer Traum, aber ein Traum. Also gut, dann musste er ja jetzt nur noch erwachen.

Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht und kniff sich in die Nase, ohne es gewollt zu haben. Was geschah mit ihm? Was …

Wir wollten das!

Wurde er verrückt? Was machten diese Stimmen in seinem Kopf? Und was hatte er eigentlich letzte Nacht getan? Er erinnerte sich daran, in den Harem gekommen zu sein. All die Frauen … Es war unglaublich gewesen. Sie alle hatten ihn angeschmachtet. Ihn, nach dem sich bislang höchstens einmal eine alte Vettel umgedreht hatte, weil er nur ein Habenichts war und auch nicht besonders gut aussah. Sie hatten ihm einen goldenen Becher mit Wein gereicht. Artax seufzte.

Nicht einen! So ziemlich jede hat dir einen Becher Wein gereicht und du Idiot hast von allen gekostet!

Der Kater eines Unsterblichen war wahrlich etwas anderes als der Kater eines Bauern. Er war nicht zum ersten Mal betrunken, doch so seltsam hatte er sich noch nie gefühlt. Aber, rief er sich zur Räson, zurück zu dieser Stimme in seinem Kopf. Fremde Erinnerungen, ein neuer Körper, ein Gott als Gesprächspartner – das war das eine. Aber jetzt auch noch Stimmen im Kopf, das war eindeutig zu viel. Das hatte man nun von diesen Träumen. Sie hatten immer irgendeinen Haken. Vermutlich blökte die Ziege im Stall nebenan und wollte ihn daran erinnern, dass er aufstehen und sein Tagwerk beginnen sollte. Auf der anderen Seite war er sich nicht so sicher. Der Traum währte schon verdammt lange und fühlte sich noch immer ziemlich wirklich an. Sein Kopf war gar nicht klar, aber sein Tastsinn … Wurde er verrückt?

Ganz im Gegenteil. Wir sind klar. Dein Rausch hat uns nichts ausgemacht, wenn man einmal davon absieht, dass du in jeder Hinsicht eine Enttäuschung bist. Die Not hat dem Göttlichen keine andere Wahl gelassen, als auf dich zurückzugreifen. Also besauf dich noch zwei, drei Mal schön und vergnüg dich mit unseren Huren. Lange wirst du diesen Spaß nicht überleben. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass der Löwenhäuptige einen Tölpel wie dich auf Dauer zum Herrscher von Aram machen würde? Eine Notlösung bist du. Sehr vorübergehend, verlass dich darauf.