Ungläubig tastete er über seine Züge. Das war nicht mehr sein Gesicht! Ihn sah ein Fremder an. Die Nase war gerade, die Augen waren ein wenig dunkler, die Brauen von feinem Schwung. Auch seine Wangenknochen erschienen ihm ausgeprägter. Sogar die Hautfarbe hatte sich verändert. Sie war ein wenig heller.
Du vermisst doch nicht etwa deine alte Nase? Weißt du, wie die aussah? Wie eine Schnecke ohne Haus. Ein formloser Klumpen war das.
Aber es war seine Nase gewesen, dachte Artax bitter. Dieses Gesicht hingegen … Er wandte sich von der Wasserschüssel ab.
Es ist wichtig, gut auszusehen. Die Weiber geben sich dir bereitwilliger hin. Und die Untertanen hängen williger an Lippen in einem hübschen Gesicht. Schönheit verführt, Artax. Dazu gehören auch kostbare Gewänder und selbstbewusstes Auftreten. Der Schein ist wichtig. Wenn du hübsch bist, unterstellt man dir sofort auch innere Schönheit. Dass du ein gütiger und gerechter Herrscher bist. Die Wirklichkeit verblasst hinter deinem Aussehen.
Artax dachte an einige der Schreckensbilder aus Aarons Erinnerungen. Der Unsterbliche hatte Gefallen an allen nur erdenklichen Grausamkeiten gefunden. Angewidert schüttelte Artax den Kopf.
So wirst du uns nicht los, beharrte die Stimme.
»Das ist nur ein Traum«, murmelte er leise. »Nur ein schrecklicher Alptraum.«
Er dachte daran, wie er in seiner ersten Woche als Waldbauer so unvorsichtig gewesen war, von einer der Früchte des Waldes zu essen. Sie hatte ausgesehen wie ein Apfel, ganz gut gerochen und sehr süß geschmeckt. Kaum dass er sie aufgegessen hatte, war ihm schwindelig geworden. Er hatte sich setzen müssen und zwei Tage mit dem Rücken an einen Baum gelehnt gesessen und gekichert; jedenfalls hatte man ihm das später erzählt. Die Welt war zu einem Wirbel aus bunten Farben verschmolzen, und irgendwann war die Frau des Töpfers, der zwei Straßen weiter in seinem Heimatdorf Belbek gewohnt hatte, aus dem Farbwirbel getreten. Er hatte sie einmal beim Bad im Fluss beobachtet. Hatte gesehen, wie sie den Rock hob. Was für einen Hintern sie gehabt hatte! Je länger er sie angestarrt hatte, desto mehr war sie mit dem Bild seiner Almitra verschmolzen, was ihm ausnehmend gut gefallen hatte. Die Töpferin hatte ihrem Mann zwei Kinder geboren. Leider zwei Töchter. Man konnte eben nicht alles haben. Im Wald hatte sie auch den Rock gehoben. Natürlich war sie nicht wirklich dort gewesen. Später hatte er gehört, dass man diese tückischen Früchte Traumäpfel nannte. Sie verwirrten die Sinne.
Artax kniff die Augen zusammen und zählte stumm bis zwanzig. Er war sich sicher, dass er keinen Traumapfel gegessen hatte. Aber all das hier … Konnte das wirklich wahr sein?
Zögerlich hob er die Lider. Alles war noch da! Das riesige Bett. Die drei Frauen.
Er trat an den Vorhang, hinter dem das riesige Fenster lag. Ein Fenster, groß wie ein Stalltor. Auch so etwas hatte er nie zuvor gesehen. Es war aus Hunderten kleiner Glasscheiben zusammengesetzt, die kunstvoll in golden schimmernde Bronze gefasst waren. Artax schob den schweren Stoff zur Seite und tastete über das Glas. Auch das hatte er bisher nur aus Erzählungen gekannt. In die Fenster im Tempel in seinem Dorf waren Rahmen genagelt, die ein Priester mit dünn geschabten Ziegenhäuten bespannt hatte. Ein gelbes, trübes Licht sickerte durch die Häute. Bislang war ihm das als Luxus erschienen. Kein anderes Fenster im Dorf war so verschlossen. Da gab es nur Holzläden. Und noch öfter gar nichts.
Seine Kopfschmerzen hatten nachgelassen und er blickte durch den Spalt zwischen den schweren Vorhängen. Unter ihm erstreckte sich eine strahlend weiße, leicht gewellte Ebene bis zum Horizont. Sie flogen über den Wolken. Der Anblick hatte etwas Magisches. Hier schien es nur noch Licht und Schönheit zu geben. Er fühlte sich leicht ums Herz. Er war ein Unsterblicher! Er konnte alles haben, wovon Sterbliche nur träumen konnten. Er träumte nicht! Das brauchte er sich nicht mehr einzureden. Und worüber beschwerte er sich? War sein Leben nicht unermesslich viel reicher geworden? Was zählte da schon diese missgünstige Stimme in seinem Kopf? Das würde er aushalten.
Er lauschte in sich hinein, doch diesmal kam kein Widerspruch. Artax ließ den Vorhang zurückgleiten und drehte sich erneut zu dem Bett um. Er spürte, wie ihm das Blut zwischen die Schenkel schoss. Ihm am nächsten lag die Rothaarige. Ihre Haut war wie Milch. Sie hatte gestern immer wieder darauf bestanden, dass ihre Haare echt waren. Auch dann noch, als sie schon ziemlich viel getrunken hatte. Echte rote Haare. Gab es so etwas? Er wusste, dass Frauen sich Haare rot färbten. Das hatte es sogar in seinem Dorf gegeben. Aber dieses Rot war anders. Es glänzte ein wenig metallisch.
Artax hatte ihre Namen vergessen. Alle drei Namen. Seine erste richtige Liebesnacht hatte er sich anders vorgestellt. Wie hatte er die Namen vergessen können! Wie hatte er alles vergessen können! Der Stimme in seinem Kopf mochte er nicht glauben. Er blickte die drei an und versuchte verzweifelt, sich zu erinnern. Sie hatten sich nicht vorgestellt … Natürlich nicht. Aber sie hatten sich untereinander mit Namen angesprochen … Der unsterbliche Aaron hatte sich ihre Namen nie gemerkt! Da war nichts in diesen fremden Erinnerungen. Viele Gesichter … Keine Namen! Aber er war anders. Er erinnerte sich noch, dass er versucht hatte, sich ihre Namen einzuprägen, doch jetzt waren sie wie ausgelöscht. Die ersten Frauen, mit denen er in seinem Leben das Lager geteilt hatte … Namenlos! Er war beileibe kein Romantiker. Bestimmt nicht! Er hatte immer ganz pragmatisch über die Frau nachgedacht, die er eines Tages auswählen würde. Breite Hüften hätte sie haben sollen, damit sie gut Kinder bekommen konnte und ihm nicht gleich bei der ersten Geburt verreckte. Ein zweites Weib hätte er sich im Leben nicht leisten können. Aber das hier … Das war nicht richtig. So sollte das nicht sein!
Ob sie ihn wohl liebten? So wie er sich stets vorgestellt hatte, dass er und Almitra einander lieben würden? Artax verzog die Lippen. Diese Frage hatte in Aarons bisherigem Leben nie eine Rolle gespielt. Konnte ein Mann, der sich einen Harem hielt, an wahrer Liebe interessiert sein? Wohl kaum! Er wollte hier nur seinen Spaß haben. Und daran war nichts verwerflich, oder? Wenn man sich alles nehmen konnte, warum sollte man es dann nicht tun? Wäre es nicht dumm, zu verzichten? Verhöhnte man damit nicht sogar jene, die von all dem träumten, was er nun besaß? Aber … Wovon sollte er, Artax, künftig träumen? Bis gestern hatte sein Leben klare Ziele gehabt. Genug Geld zusammenzuraffen, um wenn schon nicht die Frau seiner Träume, so doch zumindest eine passable Frau kaufen zu können, sesshaft werden, eine Familie gründen und möglichst viele Söhne zeugen.
Artax sah sich in der Kammer um. Die Wände waren bedeckt mit Elfenbeinschnitzereien, die Männer und Frauen beim Liebesspiel zeigten. Auf einem niedrigen Tisch lag der Schmuck, den seine Gespielinnen abgelegt hatten. Gewiss war allein dieser Schmuck mehr wert als sein ganzes Dorf und alle, die darin lebten. Ein Weib zu finden, das war nicht mehr seine Zukunft, falls er denn eine Zukunft hatte. Er war über dieses Ziel in geradezu unfassbarer Weise hinausgeschossen. Ja, er sollte noch Söhne zeugen … Aber das würde geradezu nebenbei geschehen. Vielleicht hatte er gestern Nacht schon den einen oder anderen gezeugt?
Ja, dachte er, er sollte sich ein anderes Ziel suchen. Sein Vater hatte ihn immer ermahnt, wie wichtig es im Leben war, Ziele zu haben. Ohne Ziel wurde man hin und her getrieben und am Ende des Lebens hatte man gar nichts erreicht. Hatte man sich aber ein Ziel gewählt und hielt verbissen daran fest, dann spannte sich eine für andere unsichtbare Schnur durch das Leben. Eine Rettungsleine, an die man sich bei jedem Sturm klammern konnte. Nur solch ein Leben verdiente Anerkennung!
Er richtete sich auf und trat noch einmal ans Fenster. Das Licht über den Wolken war so klar, dass es in den Augen schmerzte, obwohl seine Kopfschmerzen nun verflogen waren. Was war ein angemessenes Ziel für einen Mann, der in einem fliegenden Palast hoch über den Wolken schwebte?