Noch immer erschöpft, lehnte er sich gegen die bronzegefassten Scheiben. Sie knirschten leicht unter seinem Gewicht. Er blieb dennoch stehen. War er lebensmüde? Was der Löwenhäuptige wohl sagen würde, wenn ihm binnen vierundzwanzig Stunden ein zweiter Unsterblicher aus dem Himmel fiel? Artax lachte kurz auf.
Die Rothaarige räkelte sich lasziv und blinzelte zu ihm hoch. Er wäre jede Wette eingegangen, dass sie schon vorher wach gewesen war. Ihre Haare mochten echt sein – alles andere war es nicht. Die Stimme in seinem Kopf hatte wohl recht.
»Liebst du mich?«, fragte er aus einer Laune heraus.
»Ich vergöttere dich.« Sie sagte das voller Leidenschaft und sah ihn mit einem Blick an, der direkt nach seinem Herzen griff. Ihm wurde heiß.
Ihr Blick wanderte tiefer. Ihr Lächeln wurde breiter. »Wie ich sehe, bin ich dir auch nicht ganz gleichgültig.«
Die Worte waren kaum über ihre Lippen, da begannen auch die beiden anderen sich zu regen. Die Erinnerung kehrte zurück! Die Rothaarige hieß Schaptu. Und ihre Freundin Aya. Aber die dritte, die mit der dunklen Haut und dem gelockten Haar … Ihren Namen hatte die Nacht verschlungen. Sie alle lächelten auf eine Art, die ihm den Atem stocken ließ. Artax fühlte sich nicht im Geringsten wie ein Liebhaber. Er hatte das Gefühl, Beute zu sein. »Der Löwenhäuptige erwartet mich«, sagte er barsch, griff nach einem Laken und wickelte es sich um die Hüften. Er musste aus dem Schlafgemach heraus. Schnell! Und er musste ein Ziel finden, sonst würde er für immer ein Verlorener sein.
War nicht alles genau so, wie wir es dir vorhergesagt haben, Artax? Du kannst deinem Schicksal nicht davonlaufen. Du bist schon längst ein Verlorener. Und warte nur ab. Bevor dieser Tag vorüber ist, wird der Löwenhäuptige dich gegen einen Würdigeren austauschen. Gegen einen Mann mit Verstand, der es würdig ist, unsere Stimme zu hören. Geh zurück! Gib dich den Buhlen hin. Es wird das letzte Vergnügen in deinem jämmerlichen Leben sein, Bauer.
Artax war es leid. Wisst ihr was?, sagte er. Ihr könnt mich mal! Ihr seid nur noch Zuschauer. Ich aber lebe!
Ein Geschöpf voller Harmonie
Sich auf einem fliegenden Pegasus zu unterhalten war unmöglich. Der schneidende Wind raubte einem den Atem und riss jedes Wort davon, kaum dass es die Lippen verlassen hatte. Auch war sich Nandalee inzwischen sicher, dass Gonvalon nicht mit ihr sprechen wollte. Er war ohne seine Gefährtin zurückgekehrt. Wie hätte Ailyn auch überleben sollen, allein unter einem ganzen Heer von Trollen? Das war unmöglich. Die fremde Kriegerin hatte ihr Leben gegeben, um sie zu retten. Und Nandalee wusste noch nicht einmal, wer bereit gewesen war, diesen Preis zu bezahlen. Wer hatte Gonvalon und Ailyn geschickt? Dienten sie den Drachen oder den Alben? Aus eigenem Antrieb waren sie ganz gewiss nicht gekommen.
Der Pegasus wieherte und stieß in steiler Kurve dem Boden entgegen. Vor Stunden hatten sie die Bergkette, über die sich der Königsstein erhob, passiert und waren weiter gen Südosten geflogen. Unter ihnen lag eine sanft gewellte Ebene, aus der sich vereinzelte Klippen erhoben. Es war ein grauer, bewölkter Wintertag. Nur einzelne Felsen durchbrachen das fahle Tuch des Winters, das über das Land gebreitet lag. Hier gab es keine Wälder. Die Landschaft war eintönig. Manchmal konnte man kleine Gruppen von Wollnashörnern oder Mammuts beobachten. Sonst regte sich nichts.
Nachtschwinge hielt auf einen Felsen zu, der wie eine Messerklinge zwischen den Hügeln aufragte. Der graubraune Fels mochte an die hundert Schritt hoch sein, schätzte Nandalee.
Der Pegasus weitete die Flügel und verlangsamte so seinen Flug. Wieder wieherte er, als sei er beunruhigt oder verärgert. Gonvalon zog an den Zügeln. Der Hengst warf schnaubend seinen Kopf zurück. Sie sanken immer tiefer. Nandalee konnte spüren, dass der Hengst nicht hier sein wollte. Was hatte es mit diesem Felsen auf sich?
Die schweren Hufe Nachtschwinges durchbrachen den Schnee, der bis weit über ihre Köpfe aufspritzte. Nandalee fürchtete, der Hengst würde straucheln. Sie lockerte ihre Füße in den breiten Lederschlaufen des Sattels. Sollte der Pegasus stürzen, war sie bereit, aus dem Sattel zu springen.
Doch dann stand Nachtschwinge still.
Gonvalon sprang ab und redete beruhigend auf den Rappen ein.
Nandalee sah sich um. Sie waren mitten im Nichts gelandet. Was wollten sie hier? Dies war kein Platz, an dem man lagern konnte, und sie war sich sicher, dass der Pegasus noch nicht erschöpft war. Sie hätten weiterreisen können.
Zweifelnd blickte sie den steilen Felsen hinauf. Gab es vielleicht eine Höhle? Nein. Da waren nur Eiszapfen, die wie gläserne Schwerter von vorspringenden Klippen hingen. Ein steifer Ostwind pfiff heulend um den Fels und trieb Schneeschleier über die Ebene.
Die Kälte vermochte Nandalee nichts mehr anzuhaben. Sie vermutete, dass es an dem Amulett lag. Trotz ihrer leichten Kleidung war ihr warm. Sie spürte den scharfen Wind auf Gesicht und Händen, aber nicht den tödlichen Biss der Kälte.
Gonvalon ging unsicher auf und ab, starrte den Boden an und schien etwas zu suchen. Nandalee beobachtete ihn verwundert. Vermutlich konnte sie besser Fährten lesen als er. Der Schnee hier war völlig unberührt. Selbst er müsste erkennen, dass es hier nichts zu finden gab! Doch dann spürte sie noch etwas anderes. Eine fremde Kraft. Das musste es sein, wovor Nachtschwinge zurückschreckte.
Plötzlich kniete Gonvalon nieder, presste seine rechte Hand fest auf den Boden und schloss die Augen. Er war angespannt. Nandalee wagte nicht, ihn anzusprechen. Etwas geschah. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Eine Spannung lag in der Luft wie kurz vor einem Gewittersturm. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, und sie wich einen Schritt vor dem Elfen zurück. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Kein Geräusch, schalt sie sich stumm und verharrte erneut. Der Wind heulte um den schroffen Messerfelsen, doch hier unten, bei ihnen, war es jetzt völlig windstill! Nandalee stockte der Atem. Das war unmöglich! Ungläubig starrte sie auf die Wirbel aus Pulverschnee, die über die Winterlandschaft fegten. Sie wichen ihnen jetzt aus. Kamen nicht näher als ein paar Schritt an sie heran!
Buntes Licht spiegelte sich im winterlichen Weiß. Nandalee fuhr herum. Zwei Schlangen aus gleißendem Licht brachen aus dem Schnee und neigten sich einander zu. Nandalee musste an die Geschichten über die Regenbogenschlangen denken, auf deren Rücken Ny Rin zum Blauen Stern gelangt war. Als sich die beiden Schlangen berührten, füllte sich der Raum zwischen ihnen mit Finsternis. Und dann sah sie einen Goldenen Pfad, der durch die Dunkelheit führte.
»Komm!« Gonvalon klang sehr erschöpft. Blanker Schweiß stand ihm auf der Stirn.
»Wohin bringst du mich?«
»Dorthin, wo dein Verborgenes Auge geöffnet werden wird, wenn du dich als würdig erweist.«
Sie wollte ihn mit weiteren Fragen bestürmen, doch sie spürte, dass sie keine Antworten erhalten würde. Nachtschwinge trat an Gonvalon heran, drückte ihm seine weichen Nüstern gegen die Wangen und blickte zu dem magischen Tor. Der Hengst schien jetzt keine Angst mehr zu haben. Sie hatte nicht weniger Mut als ein Gaul mit Flügeln, entschied Nandalee. Sie kam sich unwissend und hilflos vor. Sie hasste dieses Gefühl! Entschlossen ging sie der Dunkelheit entgegen.
»Halt!« Gonvalon packte sie am Arm und zog sie zurück. »Du kannst nicht einfach so die Albenpfade betreten. Du würdest dich verirren.«
»Ich bin in der Wildnis aufgewachsen und habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht verirrt.«
»Das ist nicht die Wildnis«, entgegnete er matt. »Du wirst sehen. « Ohne weiter auf eine Antwort zu warten, zog er sie hinter sich her. Nachtschwinge folgte ihnen. Der Pegasus schien nicht zum ersten Mal ins Dunkel jenseits einer magischen Pforte zu treten.
»Dies hier ist das Nichts, der Raum zwischen den Welten«, erklärte Gonvalon. »Du darfst den Pfad nicht verlassen, sonst stürzt du in die Leere, und es wäre schwer, dich hier wieder zu finden.«