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Ein kahlköpfiger Krieger fiel ihr auf. Selbst nach den sehr geringen Maßstäben, die sie für Menschenkinder in Belangen der Ästhetik anlegte, war er ausnehmend hässlich. Sein Gesicht war völlig vernarbt. Er hatte keine Augenbrauen mehr. Wie es wohl sein mochte, so leben zu müssen? Sie nahm eine Handvoll Schlamm, rieb sie ihm ins Gesicht und strich den Schlamm dann sorgfältig glatt. Vielleicht könnte sie die Erde zu Fleisch werden lassen? So würde er deutlich besser aussehen. Aber vielleicht gefiel er sich ja, wie er war?

Sie trat zurück. Etwas in der Matrix bedrängte sie. Hatte da etwas an ihren Kleidern gezupft?

Erneut öffnete sie ihr Verborgenes Auge. Ströme von Licht flossen zum Höhleneingang. Um sie herum hatte sich ein Wirbel gebildet. Das Netz der Kraftlinien schien sich enger zu ziehen. Sie schlüpfte hindurch und ließ noch ein letztes Mal den Blick in die Runde schweifen. Von den Menschenkindern drohte keine Gefahr mehr.

Etwas Warmes streifte ihre Wange. Sie wedelte mit der Hand, wie um eine lästige Fliege zu verscheuchen. Sie musste den Albenstern öffnen. Es wäre besser, wenn alles zur Flucht bereit wäre.

Sie konnte die Albenpfade spüren. Sie gehörten nicht zur natürlichen Matrix der Welt. Sie fügten sich nicht in die Matrix ein wie in Albenmark. Sie waren ihr aufgezwungen worden. Der Wirbel hingegen war natürlich.

Wieder berührte sie etwas Unsichtbares. Gab es noch andere wie sie, die dem trägen Fluss der Zeit davonschwammen? Vielleicht noch schneller? Waren sie ihr feindlich gesonnen? Ich sollte mich beeilen, dachte Bidayn.

Der Albenstern lag weniger als eine Meile entfernt. Als sie ihn erreichte, konnte Bidayn nichts entdecken, was das Tor markierte. Keine Felsnadel, keinen Steinkreis, nicht einmal einen Pilzkreis. Als solle verborgen werden, was es hier gab. Das war natürlich Unsinn, schalt sie sich, denn niemand, der sein Verborgenes Auge zu benutzen wusste, würde je einen großen Albenstern übersehen. Sieben goldene Pfade kreuzten hier einander und wer sich darauf verstand, ihre Magie zu nutzen, der konnte ein Tor in jede der drei Welten öffnen.

Bidayn kniete sich auf den weichen Waldboden und presste ihre Hände in die dunkle Erde. Sorgfältig sprach sie das Wort der Macht und verwob die Stränge der Matrix zu zwei aufsteigenden Lichtschlangen. Sie wollte zurück in den Jadegarten. Zum Dunklen. Auch wenn die Regenbogenschlange ihr unheimlich war, wollte sie ihren Schutz. Etwas war hier. Um sie herum. Überall!

Das Tor öffnete sich. Bidayn wollte zu ihren Gefährten zurück. Sie musste noch schneller sein, wenn sie dem, was hier war, entkommen wollte. Sie bäumte sich auf, sprang los – und strauchelte. Sie hatte sich in etwas verfangen. Glühende Linien zogen sich um sie zusammen. Feiner als Haare. Sie versuchte sie zu zerreißen. Es war ein magisches Netz. Ein Netz aus den Kraftlinien Nangogs – und es hüllte sie ganz und gar ein. Sie roch angesengtes Haar. Ihre Kleidung! Auf dem groben Wollstoff zeichnete sich ein schwarzes Netzmuster ab. Überall! Es brannte sich in den Stoff.

Bidayn schrie auf, und wurde sich im selben Augenblick bewusst, dass niemand kommen würde. Sie war immer noch zu schnell. Selbst für die Ohren ihrer Gefährten war ihr Hilferuf unhörbar.

Entsetzt versuchte Bidayn, das Netz zu zerreißen, aber es gelang ihr nicht. Es zog sich nur enger. Und enger. Bis es ihr den Atem nahm.

Eine verborgene Kraft

Die Grünen Geister konnten ihn nicht aufhalten. Was dachten sie? Dass er sich vor ihnen fürchtete? Der Devanthar lachte laut auf. Ob sie spüren konnten, was er getan hatte? Wo er die letzten Monde verbracht hatte?

Sie waren hilflos – hilflos, wie diese ganze Welt es war. Ausgeliefert! Ein Zeitalter lang war Nangog eine Wildnis gewesen. Ungenutzt, eine Verschwendung ohnegleichen. Das würde sich ändern, und nichts und niemand würde ihm und seinen Geschwistern dabei in den Weg kommen.

Der Ebermann stieß seinen Kampfschrei aus. Er hatte die Witterung der Elfen aufgenommen. Sie waren ganz nahe. Endlich! Das Licht der Grünen Geister verwirrte ihn, das musste er ihnen zugestehen. Warum kamen sie alle hierher? Sie mussten doch wissen, dass sie ihn nicht lange aufhalten konnten. Welchem Zweck also diente das alles?

Er öffnete sein Verborgenes Auge. Er hatte die Kraftlinien längst gespürt. Sie liefen auf einen Knotenpunkt zu. Sieben von ihnen. Ein großer Albenstern! Ein Ort, an dem selbst unbegabte Zauberweber leicht in das magische Netz treten konnten. Ganz gewiss war dies das Ziel der Elfen.

Er hielt inne und betrachtete jenen Teil der Matrix näher, der zu der natürlichen Magie Nangogs gehörte. Die Muster der Kraftlinien hier waren fremdartig, durchdrungen von der Macht der alten Göttin. Zerbrochene Macht, dachte er. Sie war so naiv und … Erstaunt hielt er inne. Da war etwas Fremdes. Etwas, das er so noch nie zuvor gesehen hatte. Er schloss sein Verborgenes Auge und betrachtete den Wald. Die uralten Bäume erschienen wie Schattenrisse vor dem unsteten Licht der Grünen Geister. Raureif lag auf ihren Stämmen. Er betrachtete die Bäume eine Zeit lang, stellte sich vor, wie sie aussehen mussten, wenn man sie vom Himmel aus betrachtete. Ihre Anordnung … Sie bildeten eine Spirale! Viele Meilen weit.

Der Ebermann starrte auf den Boden. Selbst die Wurzeln waren in dieses verborgene Muster eingewoben. Sie alle gaben einen Teil ihrer Kraft weiter, einen Bruchteil ihrer Aura, und erzeugten damit in der Masse einen magischen Strom. Einen Strudel. Wohin floss diese Macht, und welchem Zweck diente sie?

Er folgte der Spirale, seine Haare stellten sich auf – es wurde immer kälter. Hunderte der Grünen Geister hatten sich versammelt. Sie tauchten den Wald in ein beklemmend fremdartiges Licht. Auf den Bäumen lag jetzt ein dichter Pelz aus Raureif. Fassungslos blickte der Ebermann auf eine der Wurzeln. Selbst die Eiskristalle richteten sich nach der Spirale aus.

Er konnte spüren, wie der Kraftstrom um ihn herum zunahm. Das magische Netz setzte sich gegen etwas zur Wehr. Er spürte eine Erschütterung der Matrix. Ein starker Zauber wurde gewoben. Magie, die sich gegen die natürliche Ordnung stemmte. Jemand versuchte, den Fluss der Zeit zu verändern.

Der Devanthar blieb stehen. Wer wagte das? Was ging dort vorne vor sich?

Jetzt berührte der Zauberweber das Netz der Albenpfade. Der Ebermann fluchte. Sie würden ihm entkommen! Im letzten Augenblick.

Er ließ alle Vorsicht fahren. Die Magie Nangogs behinderte ihn kaum mehr. Ihre Kraft floss davon. Das Netz zog sich zusammen. Wen hatten die Drachen da geschickt? Wussten ihre Elfen denn nicht, was geschah, wenn man versuchte, die Gesetze von Raum und Zeit auf den Kopf zu stellen? Die Matrix wandte sich gegen solches Zauberwerk und auch gegen jeden, der es wirkte. Das magische Netz war so gewoben, dass es die Ordnung der Welt schützte. Wo sie gestört war, versuchte das Netz von sich aus, den Schaden zu beheben. Natürlich war es möglich, Zauber zu wirken, die den Naturgesetzen Hohn sprachen – doch dazu musste man mächtig genug sein, um sich gegen die Matrix zur Wehr zu setzen. Solche Magie war Weltenschöpfern vorbehalten.

Ein gellender Schrei hallte durch den Wald. Er war verzerrt. Und nah. Das Netz zog sich mit aller Macht zusammen. Obwohl es sich nicht gegen ihn wandte, konnte er es deutlich spüren. Er rief ein Wort der Macht – jenes dunkelste aller Wörter, das die Welt entzauberte, Magie verzehrte und einen toten Fleck erschuf, zu dem Kraftlinien der Matrix niemals mehr zurückkehrten. Der Wald um ihn erbebte. Ein Rascheln lief durch das Geäst Tausender Bäume, Vogelschwärme stiegen mit schrillem Geschrei von ihren Schlafplätzen in den nächtlichen Himmel. Nangog selbst musste gespürt haben, was er getan hatte — er hatte die Welt verwundet.

Zehn Schritt um ihn herum war die Matrix verloschen. Der Wirbel an magischer Macht war zurückgewichen, so wie die Ebbe das Meer von den Ufern flüchten lässt. Er hatte das Aufbegehren Nangogs zerbrochen. So wie damals, als sie die Riesin bestraft hatten. Der Ebermann atmete schwer aus. Es war eine dunkle Tat gewesen und zugleich das einzig Richtige. Der Devanthar blickte auf. Die Grünen Geister waren verschwunden. Nichts versperrte mehr seine Sicht. Keine zehn Schritt entfernt lag eine sich windende Elfe am Boden. Es roch nach gebratenem Fleisch, so stark, dass ihm unwillkürlich das Wasser im Maul zusammenlief. Sie hatte es noch geschafft, den Albenstern zu öffnen. Er ging zu ihr hinüber. Ein Netzmuster war in ihr Gesicht gebrannt. Ihre Kleider schwelten. Sie starrte ihn an. Er war überrascht, dass sie noch bei Bewusstsein war. Ja, sie versuchte sogar erneut einen Zauber zu weben, denn ihre Lippen bewegten sich.