Der Elf, der die verrückte Zauberweberin trug, hatte nun den Albenstern erreicht und wartete auf seine Gefährtin. Die Kriegerin forderte ihn mit Blicken heraus und er erkannte, dass sie sich geradezu wünschte, er möge sie angreifen. Also gut, dachte er. Er sprach ein Wort der Macht, verschwand und erschien fast im selben Augenblick drei Schritt neben ihr.
Beängstigend schnell schwang sie herum. Die Spitze des langen Schwertes zeigte genau auf sein Herz. Er wollte sie töten, wollte ihr seine langen Krallen in die Brust stoßen und ihr noch schlagendes Herz herausreißen. Er könnte es schaffen! Sie war nur eine Elfe.
Jetzt wich sie vor ihm zurück, Schritt um Schritt. Würde er dem, was hinter der magischen Pforte lauerte, entkommen können? War es das Risiko wert?
Die Elfe trat auf den Goldenen Pfad. Immer noch zeigte die lange Klinge drohend auf sein Herz. Dann plötzlich war sie verschwunden. Der Lichtbogen zerbrach in zwei sich windende Schlangen, die im dunklen Waldboden versanken. Er war erleichtert und zugleich beschämt. Diese Elfe hatte etwas an sich … Sie war furchteinflößend. Dass sie keine Angst vor ihm gehabt hatte, machte ihm zu schaffen. Wahrscheinlich war sie zu dumm gewesen, um wirklich zu begreifen, wer vor ihr gestanden hatte.
Langsam bückte er sich und hob die Finger der dunkelhaarigen Elfe auf. Vielleicht mochten sie ihm eines Tages helfen, sie aufzuspüren und Macht über sie zu erlangen. Er war sich sicher, dass dort, wo die Zauberweberin war, auch die blonde, kriegerische Elfe zu finden sein würde – und mit ihr war er noch nicht fertig. Er würde sie aufspüren und Rache nehmen. Bei ihrer nächsten Begegnung wäre er auf dieses Schwert vorbereitet.
Der Devanthar stieg den Hang hinab und folgte dem Blutgeruch, der in der Nachtluft hing. Der Wald versuchte nun nicht mehr, ihn zu behindern. Nangog war gezüchtigt. Die Menschenkinder stoben ängstlich schreiend auseinander, als er den Waldrand erreichte. Nur ein bärtiger Kerl und ein hünenhafter, blonder Krieger blieben. Beide waren vernünftig genug und versuchten erst gar nicht, ihn anzugreifen.
Der Eingang zu einer Höhle erweckte seine Aufmerksamkeit. Blassgrünes Licht fiel durch den Spalt im Fels. Dort musste der Mittelpunkt der Spirale aus Bäumen liegen. Er wagte es nicht, sein Verborgenes Auge zu öffnen. Er spürte die Macht des Ortes.
Ohne weiter auf die Menschenkinder zu achten, trat er zum Höhleneingang. Der Spalt war eng und nur mit Mühe gelang es ihm, hindurchzuschlüpfen.
Verwundert sah er sich um. Dies war ein Ort der Macht, der entstanden war, nachdem sie Nangog in Fesseln gelegt hatten. Ihre Kraft wirkte also weiter. Schwach und unscheinbar zwar, aber sie war nicht gänzlich gebrochen, wie sie bislang vermutet hatten.
Er spürte, wie die Macht des Waldes in der großen Kristallsäule gebündelt und in die Tiefe geleitet wurde. Gab es mehr als nur einen dieser Orte? Erholte sich die gefesselte Göttin? Seine Brüder und Schwester mussten davon erfahren. Sie sollten diese Kristallhöhle zerstören.
Ein Geräusch am Höhleneingang weckte seine Aufmerksamkeit. Der Devanthar konnte wittern, wer dort stand. Du hast eine besondere Gabe, dich an gefährlichen Orten aufzuhalten, Unsterblicher.
»Was wollten die Elfen hier? Was für ein Ort ist das?«
Der Ebermann sah sich um. Das waren zwei Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Aber er schuldete Aaron auch keine Antworten. Die Grünen Geister sind hier mächtig. Hast du wieder einen erschlagen?
Der Herrscher Arams war übel zugerichtet. Seine linke Gesichtshälfte war blaurot verfärbt. Das linke Auge gänzlich zugeschwollen. Und dennoch gab er keine Ruhe. »Warum sind hier Elfen? Warum haben sie uns angegriffen?«, beharrte er.
Der Ebermann bleckte die Zähne. Ich schätze, weil ihr euch bewaffnet in ihren Weg gestellt habt.
»Und warum waren sie auf Nangog?« Der Unsterbliche hob seinen Helm, der fast auf ganzer Länge eingedellt war. »Du weißt, wer ich bin. Warum greifen sie Aaron zum zweiten Mal an? Wie es aussieht, habe ich Glück, dass ich noch lebe. Warum bist du nicht früher gekommen? Ihr Devanthar habt uns nach Nangog geführt und nun, da wir euch brauchen, helft ihr uns nicht!«
Mein Bruder Langarm wird nicht erfreut sein, wenn er diesen Helm sieht. Er hat ihn erschaffen. Und was die Elfen angeht … Warst nicht du es, der zu ihnen gekommen ist? Ich habe die Spuren draußen vor der Höhle und im Wald gesehen. Und was glaubst du, warum sie den Kampf abgebrochen haben? Weil sie mich kommen spürten! Wenn ich nicht hier wäre, wäret ihr alle tot, log er. Du solltest dankbarer sein.
Der Unsterbliche senkte den Kopf. »Sie waren Späher, nicht wahr?«
Vielleicht … Wenn sie Späher waren, dann werden mehr von ihnen kommen.
Aaron fluchte. »Wie sollen wir uns gegen sie wehren? Dort draußen liegen einige meiner besten Krieger – tot. Es ist aussichtslos.«
Sie sind wenige, Aaron. Ihr Menschen seid unzählig. Wenn ihr alle für dieselbe Sache kämpft, seid ihr unbesiegbar. Die Elfen wissen das und fürchten euch.
Die Zweifel Aarons waren unübersehbar. Doch was scherte ihn der Menschensohn? Er musste zu seinen Brüdern und Schwestern. Sie mussten erfahren, was hier geschehen war. Er ging zum Ausgang, doch Aaron verstellte ihm den Weg.
Was willst du?, zischte der Ebermann gereizt. Du hast heute schon einmal Glück gehabt. Fordere es nicht ein zweites Mal heraus.
»Ich erbitte nichts für mich. Eine Prinzessin aus Ischkuza braucht dringend deine Hilfe. Sie ist bedeutend. Sie …«
Wenn sie bedeutend wäre, würde sich mein Bruder, der über Ischkuza wacht, um sie kümmern.
»So wie der Löwenhäuptige sich um mich kümmert?«
Die Augen des Menschen funkelten vor Zorn. Seine Impertinenz war wirklich erstaunlich. Er hatte Unterhaltungswert. Es gibt nichts im Leben ohne einen Preis. Was würdest du mir bieten?
»Ich schulde dir einen Gefallen, wenn du sie heilst.«
Der Ebermann lachte auf. Das ist gut. Welchen Gefallen könntest du mir wohl tun, Sterblicher?
Aaron schüttelte plötzlich den Kopf. Was wohl mit ihm los war? Einen eigenartigen Kerl hatte sich sein Bruder da als Herrscher ausgesucht.
»Ich bin der Unsterbliche von Aram. Eines der sieben Großreiche. Jeder siebente Mensch ist also mein Untertan. Du sagst, ein Krieg mit den Daimonenkindern der Anderswelt wird kommen. Vielleicht brauchst du eines Tages sehr viele Schwerter. Ich gebiete über Zehntausende Krieger. Ist das eine Macht, die dir eines Tages von Nutzen sein könnte?«
Er war nicht auf den Mund gefallen, dachte der Devanthar. Was kostete es ihn schon, ihm einen Gefallen zu tun? Zeig sie mir!
Eilig brachte Aaron ihn nach draußen. Außer dem blonden Krieger hatten sich alle Menschen, die noch laufen konnten, zum Waldrand zurückgezogen. Der Ebermann genoss es, ihre Angst zu spüren. Er hatte diese Gestalt erwählt, weil sie Furcht einflößte. So wanderte er, wenn er in Ruhe gelassen werden wollte.
Die Prinzessin war ein junges Mädchen und wenig eindrucksvoll. Sie trug eine grellrote Hose und hatte sich eine Paste aus Asche unter die Augen geschmiert. Nicht sonderlich hübsch, wie er fand. Unter dem wachsamen Blick des blonden Kriegers kniete er neben ihr nieder. Eine farblose Flüssigkeit, durchsetzt mit Blutschlieren, troff aus ihrer Nase. Ihre Augenhöhlen waren eingeblutet. Er strich ihr mit der Krallenhand über den Kopf, und sie stöhnte leise.
Ihr Schädelknochen ist gebrochen. Ich denke, sie wird ohne starke Schmerzen in den nächsten Stunden sterben.
»Du musst sie retten!«
Er blickte zu dem Unsterblichen auf. Es war erstaunlich, wie sehr er wegen dieser Frau litt. Liebe war eine giftige Frucht, dachte der Ebermann. Es würde ihn keine große Mühe kosten, sie zu heilen, aber er war neugierig, worauf sich Aaron einlassen würde, um sie zu retten. Ich muss gar nichts für dich tun, sagte er kühl.