»Bitte. Hilf ihr. Ich …«
Er schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab. Wenn ich ihr helfe, schuldest du mir einen Gefallen. Eines Tages werde ich kommen und ihn einfordern. Und ich rate dir, dann nicht zu zögern. Wenn ich sie rette, liegt ihr Leben von nun an in meiner Hand. Und wenn du dich weigerst, deine Schuld zu begleichen, wenn ich zu dir kommen werde, wird sie im selben Augenblick aufhören zu atmen.
»Was wirst du von mir fordern?«
Er schüttelte den Kopf. Alles zu seiner Zeit. Das wirst du erst erfahren, wenn ich zu dir komme.
Wahrscheinlich würde er niemals kommen, dachte er. Was konnte ein Mensch schon für einen Devanthar tun?
Der Blonde zischte Aaron etwas zu. Vermutlich riet er seinem Herrscher davon ab, sich auf diesen Handel einzulassen, doch dieser schüttelte den Kopf und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich nehme an.«
Der Devanthar war von der Geste überrascht. Dass man auf einen Handel einschlug, kam ihm erstaunlich bäuerlich vor, und er unterließ es. Mir reicht dein Wort.
Zu heilen war eine Spielart der Magie, mit der er sich nur selten beschäftigte. Aber heute hatte er ja bereits reichlich Erfahrungen mit gebrochenen Knochen und der Anatomie von Menschen sammeln können.
Er wurde im Geiste eins mit der Prinzessin, stimmte sich ganz auf ihren Körper und dessen Verletzungen ein. Den Knochen zusammenwachsen zu lassen war nicht genug. Die Haut, die ihr Hirn umgab, war eingerissen und einige kleinere Blutgefäße waren geplatzt. Auch musste er den Verlust an Gehirnflüssigkeit ausgleichen. Er dachte sich ganz in sie hinein, erfühlte sie, tiefer, als sie es selbst jemals vermögen würde. Sie hatte erstaunlich viele Narben auf ihrem Körper.
Als sein Werk vollendet war, fühlte er sich erschöpft. Ein neuer Tag dämmerte herauf. Erstes Morgenlicht sickerte durch das dichte Laubwerk. Zufrieden mit sich blickte er in das Antlitz der Prinzessin. »Wenn sie erwacht, wird sie wieder völlig gesund sein.«
»Ich danke dir!« Der Unsterbliche kniete vor ihm nieder und küsste ihm die Krallenhand. »Danke!«
Er konnte ihm ansehen, dass Aaron noch etwas anderes als Dank auf der Zunge lag.
Ja?
»Wir …« Der Unsterbliche strich sich nervös über den Bart. »Wie kommen wir hier fort?«
Der Ebermann lachte auf. Das ist nicht meine Sorge. Und ich fürchte, es gibt nichts mehr, was du mir noch zu bieten hättest.
»Wir wissen nicht einmal, wo wir sind. Dieser Wald erstreckt sich mehr als zweihundert Meilen in jede Richtung. Wie kommen wir in die Goldene Stadt zurück?«
Der Ebermann schnaubte amüsiert. Wenn du meinem Bruder etwas bedeutest, dann wird er dich finden. Oder er wird ein Schiff schicken. Genieße die Zeit, die dir hier im Wald bleibt, Aaron von Aram. Vielleicht werden es deine letzten friedlichen Tage sein.
Ein unermesslicher Schatz
Artax hatte sich in die Kristallhöhle zurückgezogen. Er kam immer wieder hierher, wenn er allein sein wollte, denn die meisten der Überlebenden mieden diesen Ort. Drei Tage warteten sie nun schon darauf, dass jemand kam, und langsam fragte er sich, ob der Löwenhäuptige einen anderen unsterblichen Aaron erschaffen hatte.
Dann wären wir nicht mehr hier, Dummkopf!
Es sei denn, er hätte entschieden, dass ihr genauso entbehrlich seid wie ich, dachte Artax mit boshafter Freude.
Undenkbar! Wir dienen Aram seit Jahrhunderten. Wir sind unverzichtbar.
Ganz in seine Gedanken verloren, betrachtete Artax das unstet flackernde Licht, das durch die Kristalle glitt. Manchmal hatte er das Gefühl, dass es auf seine Stimmungen reagierte. War er aufgeregt, flackerte es stärker, war er aber so ruhig wie jetzt, glitt es einfach durch die Wände. Er konnte ihm stundenlang zusehen und brüten.
Konnte er es sich leisten, sich aus Nangog zurückzuziehen? Dutzende Male hatte er sich diese Frage gestellt. Und die Antwort blieb immer gleich. Nein! Sollte er es tun, würde der Löwenhäuptige ihn ersetzen. Und falls das nicht geschah, würde er jegliches Ansehen bei den anderen Unsterblichen verlieren. Sie würden ganz gewiss nicht gehen. Sie konnten es sich längst nicht mehr leisten. Genauso wenig wie Aram. Wenn er alle Besitzungen und Ansprüche seines Reiches aufgab, würde eine schreckliche Hungersnot ausbrechen. Längst schon waren sie abhängig von dem Korn und dem Reis, das aus dieser Welt kam. Zehntausende würden verhungern, wenn die Goldene Pforte sich für Aram verschloss und keine Lebensmittel mehr aus der Neuen Welt kamen. Also, dachte Artax, musste er kämpfen. Sie alle mussten das – und zwar am besten gemeinsam. Wenn die sieben Unsterblichen ihre kleinlichen Rivalitäten überwinden und alle vereint fechten würden, hätten sie eine gewaltige Macht. Ihre Bogenschützen könnten den Himmel mit Pfeilen verdunkeln. Dicht wie Hagelschlag würden die Geschosse auf die Daimonen der Anderswelt niedergehen. Dem konnten nicht einmal die Elfen gewachsen sein.
Ja, dachte Artax, das war es, was er erreichen wollte. Er musste einen Weg finden, um Muwatta an den Verhandlungstisch zu zwingen. Wenn sie beide in wenigen Monden ihre Heere auf der Ebene von Kush aufmarschieren und das Schlachten beginnen ließen, wäre das nichts als eine sinnlose Verschwendung von Menschenleben. Aber wie sollte er die Schlacht vermeiden? Trat er seine Provinz einfach an Muwatta ab, würde er unter den anderen Unsterblichen nichts mehr gelten. Wer würde ihm dann noch folgen, wenn er sie alle zu einem großen Rat einberief, um sie auf eine gemeinsame Zukunft einzuschwören? Niemand! Um anerkannt zu sein, brauchte er also einen Sieg. Und da biss sich die Katze in den Schwanz.
Er seufzte. Wenn nur Juba noch an seiner Seite wäre! Der Kriegsmeister hätte wahrscheinlich auch keinen Rat gewusst, aber seine unerschütterliche Zuversicht wäre tröstlich gewesen.
Ein leiser, bewundernder Pfiff riss ihn aus seinen Gedanken. »Ist sich das Prächtigste, das je gesehen ich habe. Hat sich nicht einmal König so ein Zimmer. Kann mich verstehen, dass du bist so viele Stunden hier.« Volodi und sein Freund Kolja hatten sich durch den Spalt in die Höhle gedrängt. Mit weit aufgerissenen Augen sahen sie sich um. Kolja, der im Kampf gegen die Elfen seinen linken Arm verloren hatte, hatte sich den Stumpf mit Lederbändern eng an den Leib geschnürt. Eigentlich sollte er nicht herumlaufen, dachte Artax.
»Wird sich machen viel Arbeit, zu holen von Wänden all das. Aber wir schaffen!« Volodis Augen sprühten vor Tatendrang. »Machen wir dich schönes Zimmer in sich deinem Palast. Dürfen wir uns behalten ein oder zwei von die große Glitzersteine?«
»Ihr rührt hier nichts an!«, herrschte er sie erschrocken an. »Diese Steine sind verwunschen. Ein Fluch liegt auf ihnen. Die Grünen Geister werden sich gegen jeden wenden, der es wagt, einen der Steine fortzubringen. Alles bleibt hier, wie es ist. Geht jetzt hinaus.«
Die Drusnier schienen kein Verständnis für seine Entscheidung zu haben.
»Ist sich unermesslicher Schatz …«, versuchte es Kolja noch einmal.
»Und er bleibt hier«, sagte Artax entschieden.
Die beiden gingen ohne weiteren Widerspruch. Als er allein war, trat Artax an die baumdicke Säule in der Mitte der Höhle. Er legte beide Hände auf den Kristall und eine ihm bis dahin unbekannte Melancholie überfiel ihn. Ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, die Welt zu verbessern, gab es doch mehr Rückschläge als Erfolge, ganz so, als sei es das Schicksal selbst, das ihn in Fesseln geschlagen hielt.
Was wunderst du dich? Es ist nicht unsere Aufgabe, die Welt zu verbessern. Wir sind Diener der Devanthar. Wann hast du den Löwenhäuptigen je gefragt, was er von dir erwartet? Du tust die verrücktesten Dinge, du scherst dich einen Dreck um unseren Rat und jetzt stehst du hier und jammerst. Verreck doch endlich, Bauer! Du bist Herrscher! Dich erwartet keine Dankbarkeit. Das ist unvereinbar mit Herrschaft. Im besten Fall bist du mit Speichelleckern umgeben, die dir nach dem Mund reden. Den beiden Irren, die gerade gegangen sind, trauen wir übrigens nicht. Du hättest sie über Bord werfen und stattdessen Juba behalten sollen. Du machst einen Fehler nach dem anderen. Selbst hier und jetzt sitzt du nur fest, weil du unter hundert Weibern in deinem Harem keine finden wolltest und stattdessen dieser ungewaschenen Ischkuzaia-Prinzessin nachstellst. Verrecke, Artax! Verreck endlich! Wir haben es so satt, dir hilflos zusehen zu müssen!