»Über Bord sollte man den schmeißen, wie einen Ballastsack! Verdammter eingebildeter Dreckskerl!«, murrte Kolja.
»Von wem sprichst du?«
»Von dem Lotsen von diesem Mistkahn natürlich! Mögen die Läuse seinen Bart niemals verlassen! Ich wollte ihm den Arsch vergolden und er hat mich nicht einmal zu Ende reden lassen! Ich wollte dieses Schiff leihen. Niemand wird diesen Kahn in der Goldenen Stadt vermissen. Der Unsterbliche hat ein halbes Dutzend Wolkenschiffe wie dieses. Aaron hätte seinen Teil abbekommen. Stattdessen wird das Schiff über der Stadt vor Anker liegen und ihn jeden Tag Gold kosten, statt welches einzubringen. Es sind Kleingeister wie dieser Lotse, die den Unsterblichen eines Tages noch ruinieren werden!«
»Du wolltest ein ganzes Wolkenschiff anmieten?« Volodi traute seinen Ohren nicht. »Wozu?«
»Liegt das nicht auf der Hand?« Kolja sah sich misstrauisch um. Dann hob er kurz seine Tunika und zog etwas darunter hervor, das in ein schmutziges Tuch gewickelt war. Vorsichtig zog er den Stoff auseinander. Darin verborgen lag ein faustgroßer grüner Kristall. »Wir sind über den größten Schatz dieser verdammten Welt gestolpert, und was tut unser Herrscher? Er lässt alles im Wald liegen! Ich fasse das nicht …«
Volodi beugte sich dicht über den Kristall. Er hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache. »Das Licht in dem Ding ist verloschen.«
»Ja, das ist ärgerlich. Aber er ist auch so noch ein Vermögen wert.«
»Der Unsterbliche glaubt doch, dass die Steine verhext sind. Du wirst dir damit nur Ärger holen …«
Kolja lachte. »Das sagt der Mann, der es für eine gute Idee hielt, einem Zapote-Priester einen Opferdolch zu stehlen und dann mich in die ganze Angelegenheit hineinzuziehen? Du hast noch Schulden bei mir, Volodi. Normalerweise bin ich nicht kleinlich … Aber ich kann es nicht leiden, wenn man Schulden bei Kameraden einfach abtut. Und was das verdammte Wolkenschiff angeht – das brauchen wir, um hierher zurückzukommen und diesen Riesenhaufen Klunker abzuholen! Ich merke mir jeden Baum auf dem Weg hierher. Jeden einzelnen. Ich bin im Wald aufgewachsen, wie du. Ich kenn mich aus mit Bäumen, ganz gleich, auf welcher Welt sie stehen. Und ich schwöre dir, ich werde diese Höhle wiederfinden.«
Volodi blickte über das Meer aus Wipfeln, über das sie hinwegglitten. Er selbst würde den Weg niemals zurückfinden.
»Und? Bist du dabei? Oder stellst du dich auf die Seite der hochwohlgeborenen Arschlöcher, die sich edel und klug fühlen, wenn sie ein Vermögen im Wald liegen lassen?«
Volodi seufzte. Was sollte er dazu sagen? Kolja hatte recht. Er hatte wirklich noch Schulden. Ihm nicht zu helfen wäre klug, aber ehrlos. Als sonderlich klug hatte er noch nie gegolten – was würde von ihm bleiben, wenn er seine Ehre verlor?
»Ich bin dabei«, sagte er mit dem mulmigen Gefühl, gerade den größten Fehler seines Lebens begangen zu haben.
Neue Ziele
Nachdenklich betrachtete ER den Dolch. Mit seinen Menschenhänden fuhr er über das bläuliche Wellenmuster auf der Klinge, den kostbar gearbeiteten Griff. Eine wunderbare Waffe! Nicht nur ein Tötungswerkzeug, nein, auch ein Schmuckstück. Mit Hingabe geschaffen. Anders als den Drachenwaffen schien ihm kein Makel anzuhaften. Jedenfalls deutete die magische Matrix nicht darauf hin. Aber es war etwas anderes … Mit der Waffe waren dunkle Taten vollbracht wurden.
ER dachte an SEINEN ersten Mord. Sie war die Unschuldigste von allen gewesen. ER hätte sie verschonen müssen.
Der Drache blickte auf das weite Meer. ER hatte Menschengestalt angenommen. Es war ein einsamer Küstenstrich. Eine Meile entfernt lag ein kleines Fischerdörfchen. Marcilla hieß es. Unbedeutend, aber in guter Lage. Vielleicht würde irgendwann einmal eine Stadt daraus erwachsen. Doch jetzt war dieser Küstenstrich fast menschenleer.
Tage hatte ER damit verbracht, seinen Weg hierherzufinden. ER war durch mehr als ein Dutzend Albensterne getreten und sorgsam darauf bedacht gewesen, willkürlich zu reisen und keinem erkennbaren Muster zu folgen. Keine Fährte zu hinterlassen! Seit der Dunkle IHN in der Zwergenstadt fast aufgespürt hatte, nahm ER nie zweimal denselben Weg. Warum SEIN Bruder dieser Elfe Nandalee wohl so viel seiner kostbaren Zeit widmete? Möglicherweise hatte er sie sogar in das Geheimnis um die verschwundenen Alben eingeweiht. In das Wenige, das er wusste …
In den vergangenen Monden war diese Elfe nützlich gewesen. Aber nun hatte sie ihre Nützlichkeit überlebt. Es war besser, sie auch verschwinden zu lassen. Es war nicht mehr notwendig, dass sein Bruder abgelenkt wurde.
ER hatte seine Schlachtreihen geordnet, dachte der Drache zufrieden. Die Himmelsschlangen waren hinter IHM vereint. Ausnahmslos alle waren überzeugt, dass man gegen die Devanthar vorgehen musste. Sein Bruder, der Erstgeschlüpfte, war isoliert, die Alben geschwächt. Nun konnte der eigentliche Kampf beginnen. Die Vernichtung der Devanthar. Wenn ER sie auslöschte, würde Albenmark für alle Zeiten in Frieden weiterbestehen. Die Menschen würden von Nangog verschwinden und der alte Vertrag wäre wieder erfüllt.
Aber wie mochte er an die Devanthar gelangen? Sie zu töten würde nicht leicht werden. Sie waren argwöhnischer als die Alben. Verschlagen! Man müsste sie alle zur gleichen Zeit erwischen – sie so sehr bedrängen, dass sie sich versammelten. ER lächelte. Ein Plan reifte in IHM! Bald schon würde der Tod SEINES purpurnen Nestbruders gerächt sein.
Nun blieb nur noch der Dolch. Das Meer unter der Klippe war tief. Niemand würde diese Waffe dort suchen. Sie würde für alle Zeiten verschwinden. Ein letztes Mal betrachtete ER das bläuliche Wellenmuster auf der Klinge. Vollendete Schmiedekunst! Eine Waffe, um Götter zu töten. SEINE dunklen Taten hatten sie verändert. Wenn sie in die Hände von Menschen fiel … Nein, dachte ER, das würde nicht geschehen! ER holte aus und warf den Dolch in weitem Bogen ins Meer. Nun war er für immer verschwunden. Niemand würde ihn je dort unten finden.
ER wandte sich ab. Ein langer Weg lag vor IHM, und ER würde sehr vorsichtig sein müssen. Erneut durch viele Albensterne schreiten, lange Wanderschaften über Land machen und alles tun, um SEINE Spur zu verwischen. Sobald ER zurück war, würde ER einen anderen Dolch nutzen. Einen aus Fleisch und Blut – den besten SEINER Elfenmörder! Es war an der Zeit, andere für IHN morden zu lassen.
Ein junger Trieb
Das Erdreich war zu Glas zerschmolzen! Lyvianne streifte ziellos über den Hügel, auf dem sie so viele schreckliche Stunden verbracht hatte. Es war unverkennbar, wessen Zorn Matha Naht auf sich herabgerufen hatte. Wie hatte sie nur mit einer der Himmelsschlangen in Streit geraten können? Und welche mochte es gewesen sein? Gewiss nicht der Goldene!
Lyvianne suchte nach einem Stumpf, nach irgendetwas, das geblieben war. Doch da war nichts. Wer auch immer hierhergekommen war – er war sehr gründlich gewesen.
Hatte der Goldene gewusst, was geschehen würde? Er hatte ihr im letzten Frühjahr dazu geraten, Matha Naht um einen ihrer jungen Triebe zu bitten. Sie hatte das falsch verstanden, als ein Zeichen von Unterwerfung und völliger Hingabe aufgefasst. Und sie hatte sie gedemütigt, ehe sie Lyvianne ihre Bitte erfüllt hatte.
Die Elfe dachte an Gonvalon. Wohin ihn seine Reise wohl führte? Er sollte jetzt hier bei ihr stehen, auf dem gläsernen Grab seiner Peinigerin. Lyvianne empfand zugleich Bedauern und Genugtuung über das Schicksal des Holunders. Sie hatte eine kundige Lehrerin verloren. Sie kannte niemand anderen, der sie auf die dunklen Pfade der Blutmagie führen würde. Aber ihr Sohn war nun gerächt! Wo Gonvalon jetzt wohl war? Konnte er wieder gehen? Sie hatte den Verdacht, dass er Nandalee gefunden hatte, denn Nandalees bevorzugtes Schwert, der Todbringer, sowie ihre Freundin Bidayn waren eines Nachts aus der Weißen Halle verschwunden. Unter den Schülern kursierten die phantastischsten Gerüchte, was geschehen sein mochte. Nur einer war auffällig still, Eleborn, der so gerne Zauber um Wasser und Licht wob. Sie sollte sich seiner annehmen.