Nandalee nickte stumm, obschon sie gar nichts verstand.
Der Pfad fühlte sich seltsam an. Er sah aus, als sei er nichts als Licht, und war doch auch körperlich. Bei jedem ihrer Schritte versanken ihre Füße ein wenig in diesem Licht, als ginge man über einen Fels, der von einem dicken Moospolster überwuchert war. Nandalee hatte Angst. Und zugleich war sie zornig, weil sie sich fürchtete. Von was für Welten sprach er? Was lag jenseits dieser Dunkelheit? Hatte Gonvalon einfach beschlossen, sie von Albenmark fortzubringen?
»Ich bin kein Kind. Ich werde schon aufpassen«, sagte sie trotzig. »Und ich fürchte mich vor gar nichts!«
»Was nicht unbedingt ein Zeichen von Klugheit ist«, entgegnete Gonvalon müde. »Die einzige Gefahr hier sind wir selbst. Wir könnten uns verirren oder in das Nichts stürzen. Und wenn wir sehr viel Pech haben, treffen wir vielleicht auf einen Dschinn, der in der Stimmung ist, seinen Schabernack mit uns zu treiben.«
»Dschinne? Gibt es die wirklich?«
Gonvalon lachte leise. »Ich bin auch schon Dschinnen begegnet, die überzeugt waren, Elfen gäbe es nur in phantastischen Geschichten. Sie bewegen sich gerne durch das Nichts. Dschinne sind nicht wirklich bösartig, aber sie haben manchmal einen Humor, den niemand außer einem anderen Dschinn zu teilen vermag. Darin sind sie wie Kobolde, nur dass sie viel mächtiger sind.«
Nandalee sah sich um, aber es gab nichts zu entdecken, weder Gerüche noch irgendwelche Geräusche. Es gab nichts, genau wie der Name es schon sagte. Die Zeit verlor für Nandalee jedes Maß. Sie schien sich unendlich zu strecken wie das Dunkel um sie herum. Die Elfe legte die Rechte auf ihr Herz und zählte seine Schläge. Es raste vor Anspannung.
Ein Fenster aus blauem Licht erschien vor ihnen über dem Goldenen Pfad und kam schnell näher, als würde es sich seinerseits auf sie zubewegen. Nachtschwinge schnaubte. War dies das Ende der Reise? Wie lange hatte sie gedauert?
Wind blies aus dem Blau, strich über Nandalees Wangen und spielte mit ihrem Haar. Gonvalon führte sie aus dem Dunkel. Sie befanden sich mit einem Mal hoch in den Bergen. Ein Gebirgszug brandete ihnen wie ein Stein gewordener Sturm entgegen. Über ihnen spannte sich ein zerklüfteter Felsvorsprung. Nur ein paar Schritt entfernt saß eine Elfe im Schneidersitz. Ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht eine Maske stiller Einkehr.
Verwundert drehte Nandalee sich um und erstarrte. Da waren noch mehr Elfen. Und ein Drache!
Den Schwanz eingerollt und sein Haupt auf schlangengleichem Hals wachsam erhoben, sah er sie an.
Gonvalon verneigte sich, doch Nandalee konnte nichts anderes als starren. Ein Drache! Nie zuvor hatte sie einen gesehen. Im hohen Norden Albenmarks waren sie selten. Dieser hier war vom gelblichen Weiß alter Knochen. Die Flügel gefaltet, blickte er ruhig zu ihnen hinab. Er überragte sie um mehr als zwei Schritt. Seine Augen waren von hellem Blau und schienen von innen heraus zu leuchten.
Siebzehn Elfen saßen vor dem Drachen im Schneidersitz. Nur drei von ihnen, so stellte Nandalee fest, sahen sie an. Alle übrigen waren völlig in sich versunken. Zwei schwebten eine Handbreit über dem steinernen Boden, der mit sinnenverwirrenden Spiralmustern bedeckt war.
Willkommen in unserer Mitte, Dame Nandalee.
Die Stimme des Drachen erklang in ihrem Kopf! Die Worte fuhren wie glühende Lava durch ihren Geist – leise zunächst und warm, gewannen sie binnen Kürze an Hitze und brannten sich ihr ein. Drachenworte verlangten danach, nie wieder vergessen zu werden. Jedes einzelne war eine Gunst. Überdeutlich spürte sie das Interesse der Bestie. Sie rang mit ihr. Wollte etwas bekommen, das ihr verschlossen blieb, ohne dass sie sich ihr bewusst verweigert hätte.
Nandalee blickte aufgewühlt und beklommen zugleich zu Gonvalon, doch der Elf ignorierte sie. Konzentriert sah er den Drachen an. Hörte auch er die Stimme in seinem Kopf? Vermochte er gar, auf die gleiche Art zu antworten? Erregte und berührte ihn diese Stimme so wie sie? Was war das für ein Ort? Was sollte sie hier?
Ihr seid eine Elfe, Dame Nandalee. Ein Geschöpf voller Harmonie, eins mit der Magie, die Ihr in allen Dingen erkennen werdet, wenn es uns beiden gelingt, Euer Verborgenes Auge zu öffnen.
»Ich werde dich nun verlassen«, sagte Gonvalon ohne das geringste Bedauern. »Hier wird sich entscheiden, ob du eine Drachenelfe werden wirst. Ob dein Weg in die Blaue oder die Weiße Halle führt. Oder in dein Grab.«
Nandalee schluckte, wollte etwas sagen, wollte hier fort! Aber ihr Stolz versiegelte ihre Lippen.
Ihr Retter sprang auf Nachtschwinges Rücken Er winkte dem Drachen zu. Dann preschte er auf den Rand der Klippe zu.
Ein Herzschlag und er war verschwunden.
Willkommen, Dame Nandalee, sagte die fremde Stimme in ihren Gedanken. Er hatte schon immer eine Vorliebe für kurze Abschiede. Auch er war einmal hier, und es war ein langer Weg, ihn zu seinen verborgenen Kräften zu führen. Ich spüre, wie aufgewühlt Ihr seid. Setzt Euch, mein Kind. Heute soll Eure einzige Aufgabe darin bestehen, zu sitzen und Frieden in Euer Herz einkehren zu lassen. Und ja, ich weiß, dies ist eine große Aufgabe, wenn der Blick eines Drachen auf einem lastet.
Gefährliche Gedanken
Artax stand auf der Galerie der Glaskuppel, am Bug seines fliegenden Palastes. Er lächelte versonnen. Sein fliegender Palast! Vor kaum einer Woche noch hatte er im Dreck gewühlt und nun gehörte ihm dieses gewaltige und geheimnisvolle fliegende Schiff. Die letzten Tage hatte er damit verbracht, es sich anzuschauen, war bis in die hintersten Winkel gekrochen und hatte mit allen erdenklichen Luftschiffern gesprochen. Angefangen vom einfachen Wolkenschiffer bis hin zu dem grimmigen Hohepriester, der ihn nicht sonderlich zu mögen schien. Artax war sich bewusst, dass man an Bord über ihn redete. Er benahm sich anders als früher, aber soweit er das beurteilen konnte, hatte man seine Ausrede, der Sturz aus dem Himmel habe ihn verändert, akzeptiert. Er hoffte, dass sie ihn mochten. Zumindest waren alle freundlich zu ihm. Er wusste, dass Aaron mit Todesurteilen nicht lange gefackelt hatte. Vielleicht war es also doch Furcht …
Natürlich ist es Furcht, du hirnloser Bauer.
Die Stimme in seinem Kopf ließ ihn einfach nicht zufrieden. Wenn er Wein trank oder sehr erschöpft war, wurde sie drängender. Einmal hatte sie sogar durch seinen Mund gesprochen. Doch meist konnte er sie beherrschen.
Glaubst du wirklich? Was denkst du, was wir tun, wenn du schläfst?
Er musste diesen Quälgeist einfach ignorieren. Die Stimme wollte nichts als ihn beherrschen. Und sie hatte unrecht behalten, was den Devanthar anging. Er, Artax, der jämmerliche Bauer, war nicht bei erstbester Gelegenheit durch einen Passenderen ersetzt worden. Er war noch immer hier, und er schlug sich alles andere als schlecht, wie er fand.
Der Devanthar spielt mit dir, wie die Katze mit der Maus. Noch bist du interessant, aber sobald sein Interesse an deinen Eskapaden erlahmt, bist du tot!
Vielleicht hatte die Stimme recht. Die Taten des Devanthar zu beeinflussen lag nicht in seiner Macht. Also würde er aus jeder Stunde, die ihm blieb, das Beste machen.
Artax blickte über das weite, strahlende Wolkenmeer. Er hatte schon viele Stunden hier in der Glaskuppel verbracht und noch immer wurde er es nicht satt, sie zu betrachten, diese Welt voller Licht und Weiß. Und den wunderbaren Sternenhimmel, den die Nacht ihm schenkte. Nie hatte er so viele Sterne gesehen wie hier, hoch über den Wolken. Manchmal stieg er auch hinab zur Kuppel des Lotsen unter dem Rumpf. Er mochte den alten Mann, der beständig leise vor sich hin summte und den Kurs des Wolkenschiffes bestimmte. Doch dort unten blieb einem der Blick auf den Himmel verwehrt. Hier oben hingegen sah man das Land unter dem Schiff vorübergleiten, jedenfalls, wenn die Wolken nicht den Blick darauf versperrten, und man sah den Sternenhimmel.
Immer wieder ertappte Artax sich bei der Sehnsucht, zu den Wolken hinabzuspringen. Er stellte sie sich wunderbar weich vor, wie eine Ebene aus locker befüllten Strohsäcken.