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Sein Atem ging jetzt wieder ruhiger. Er hörte Wasser fließen. Das übermütige Murmeln eines Bergquells. Wasser! Noch immer benommen, tastete er sich durch den Wald. Ein Schattenlabyrinth, durchdrungen von Bahnen blassen Sternenlichts. Der warme, modrige Boden atmete Nebel. Schwerelos floss der Dunst um seine Knöchel, weiß wie ein Leichentuch.

Am Bach kniete Gonvalon nieder und hielt seine Hände in das Wasser. Kurzer, kristallener Schmerz verlor sich in langsam betäubender Kälte. Er verharrte viel länger, als nötig war, um den Steinstaub aus den Wunden zu waschen. Endlich trank er, peitschte mit beiden Händen Wasser in sein Gesicht, wieder und wieder. Stieg nackt, wie er war, in den Bach und wusch sich. Zu lange … Suchte jeden Vorwand zu verweilen, bis ihm vor Kälte die Zähne klapperten. Wenn er nicht zurückkehrte, würde er ihn holen. Der Elf wusste das. Er würde ihm nicht gestatten, ihn zu enttäuschen. Seine Herrschaft und die seiner Brüder duldete keinen Widerspruch. Ihnen zu dienen hatten die Alben die Elfen erschaffen. Sie alle waren den Himmelsschlangen untertan.

Gonvalon stieg aus dem Bach und kehrte zur Lichtung zurück. Erschöpft ließ er sich auf einer dicken Wurzel nieder. Die Lichtung lag ein wenig höher, der Nebel hatte sie noch nicht erreicht. Sie war mit Steinsplittern übersät. Überall lagen seine Werkzeuge verteilt. Das Beizeisen, der scharfe Flachmeißel, mit dem er dem Granitblock die ersten Kanten der Skulptur abgerungen hatte. Die anderen Schlag- und Spitzeisen. Die Fäustel – die verschiedenen Hämmer –, deren Hiebe die Meißel und Eisen den Granit schälen ließen, bis endlich die Form freigelegt war, die seinem Seelenzustand entsprach.

Wie ähnlich die Eisen den Dolchen und Schwertern waren, die er sonst nutzte …

Gonvalon ging durch den Steinschutt zu dem flachen Fels, auf dem die dünne Jadescheibe lag. Die Botschaft, die sein Leben beenden würde. Ein einzelnes verschlungenes Symbol war in die tiefgrüne Jade geschnitten. So klar und scharfkantig, dass es selbst seine geschundenen Finger noch zu ertasten vermochten. Es war das Zeichen des Goldenen, unverwechselbar in der Form.

Die Jadescheibe kam von seinem Meister und sie gebot ihm, vor das verborgene Fenster in der Bibliothek zu treten. Er hätte diesem Befehl unverzüglich folgen sollen, als er die Scheibe nach den morgendlichen Fechtstunden in seiner Kammer gefunden hatte. Wann? Waren seitdem zwei Tage vergangen? Drei? Noch nie war er einem Befehl nicht sofort nachgekommen. Dies war der letzte Befehl, den er erhalten würde. Er musste gehen. Er hätte nicht zögern dürfen. Allein das war schon ein unauslöschlicher Makel in einem Leben voll treuer Pflichterfüllung. Er war noch nie davongelaufen, hatte niemals die Wünsche seines Meisters in Frage gestellt. Bis die Reise nach Nangog alles geändert hatte.

Gonvalon entschied zu retten, was von seiner Ehre noch verblieben war. Ein letztes Mal blickte er zu der Skulptur, die er erschaffen hatte. Der Flammenelfe. Nandalee würde sie finden. Sie würde die Gefühle erkennen, die in sein letztes Werk geflossen waren. Seine verzweifelte Liebe.

Er hatte erwogen, zu ihr in den Jadegarten zu fliehen, als der Befehl des Goldenen ihn erreichte. Aber es gab keinen Ort, an dem er sicher war. Im Übrigen würde der Dunkle gewiss keinen Verfemten in seinem Refugium dulden. Einen Rebellen gegen die Ordnung der Himmelsschlangen. Der Dunkle hätte ihn an den Goldenen ausgeliefert oder selbst gerichtet, daran hatte Gonvalon nicht den geringsten Zweifel. Sein Schicksal war besiegelt gewesen, als er ohne Zustimmung des Goldenen auf die Mission nach Nangog gegangen war. Der Erstgeschlüpfte hatte das gewusst. Hatte gewusst, dass auf Verräter der Tod wartete. War dies von Anfang an der Plan des Erstgeschlüpften gewesen? Dass er, Gonvalon, sterben sollte?

Ohne Hast kleidete er sich an, prüfte den Sitz des weißen Gewandes, wischte ein wenig Steinstaub von seinen Stiefeln und gürtete sein Schwert. Er strich das nasse Haar zurück und glättete es mit den Händen, dann sah er wieder an sich herab. Sein Gewand war makellos. Das kalte Wasser des Bachs hatte das Blut von seinen zerschundenen Händen gespült. Er straffte sich. Es gab keinen Grund mehr, länger zu verweilen.

Mit festen Schritten ging er der Weißen Halle entgegen. Niemand begegnete ihm, als er hinab in die Bibliothek stieg und ihn der unverwechselbare Geruch von Pergament, Staub und Verfall umfing. Einen Herzschlag lang zögerte er, als er einen Saal mit Stehpulten durchquerte. Hätte er Nandalee einen letzten Brief schreiben sollen? Nein, mit der Skulptur war alles gesagt, besser, als er es hätte in Worte fassen können.

Er fand das Fenster. Leises Knirschen lief durch das goldgefasste Glas. Ob das Fenster seine Hinrichtung übernehmen würde? Nein, das würde der Goldene höchstselbst tun. Vor langer Zeit hatte Gonvalon mit angesehen, wie der Schwebende Meister im Zorn einer Schülerin den Kopf abbiss. Das Bild hatte sich ihm eingebrannt. Das Blut, das in Fontänen aus dem Halsstumpf schoss, hatte sie alle benetzt, und noch viele Wochen lang hatte er es in der weiten, offenen Höhle gerochen. Würde er so enden? Oder würde sich die Prophezeiung Matha Nahts erfüllen und er würde in Flammen vergehen?

Gonvalon hörte den wortlosen Ruf seines Meisters. Ohne zu zögern, trat der Elf durch das wirbelnde Glas.

Ein eisiger Windstoß empfing Gonvalon in einem Winterwald. Er stand auf einem schmalen, von Wurzeln überwucherten Weg. Schneegriesel stach ihm ins Gesicht. Über ihm spannte sich ein Himmel, dunkel wie altes Blei. Hinter schwarzen Bäumen lugte die Morgensonne wie ein dunkelrotes Auge über den Horizont. Abgesehen vom Geräusch des Windes war es totenstill. Gonvalon war nie zuvor in diesem Wald gewesen. Er wusste nicht einmal, in welche Region Albenmarks ihn das Glasfenster gebracht hatte.

Er folgte dem Weg. Schnee knirschte unter seinen Schritten, und als er schließlich eine Lichtung erreichte, streckte die Sonne bereits Arme blutroten Lichts durch den Wald. Dort erwartete ihn Lyvianne, neben einem niedrigen Felsen, auf dem eine Schale ruhte.

»Du kommst spät.« Es lag keinerlei Emotion in ihrer Stimme, kein Ärger, kein Vorwurf.

Überrascht sah Gonvalon sich um. Der Goldene war nicht hier. Er hätte die Gegenwart seines Meisters gespürt!

»Du hast ihn tief enttäuscht«, sagte Lyvianne. Auch sie trug das weiße Gewand der Meisterin, schlicht, ganz ohne die Borten, die ihr der Rang erlaubt hätte. Das schwarze Haar floss ihr offen über Schultern und Rücken. Schwarz und weiß, das waren ihre Farben. Kein Grau. Keine Zwischentöne.

Gonvalon ging ihr festen Schrittes entgegen. Würde sie seine Henkerin sein?

»Der Goldene hat entschieden, sich durch seinen Bruder nicht seines besten Kriegers berauben zu lassen. Er weiß, du hattest keine Wahl. Du wurdest gerufen, weil er eine neue Aufgabe für dich hat.«

»Wo ist er?«

»Er will dich nicht sehen. Der Stachel der Enttäuschung sitzt zu tief. Nie habe ich ihn so erlebt. Schätze dich glücklich, dass er nicht hier ist, Gonvalon. Und nun, sieh in die Silberschale! Sie enthüllt uns die dunkelsten Stunden der Zukunft.«

Gonvalon gehorchte, aufgewühlt von gegensätzlichen Gefühlen. Er war erleichtert. So sehr, dass ihm die Knie weich wurden. Er war ein zweites Mal geboren. Gegen jede Hoffnung war ihm sein verwirktes Leben geschenkt worden. Zugleich war er aufgebracht, dass sein Meister sich ihm verweigerte. Traurig und zornig zugleich. Und befreit. Er würde Nandalee wiedersehen. Nur das allein zählte!

Auf dem Wasser lag sein Schatten und das blasse Rot des Morgenlichtes. Die Farben flossen ineinander, formten Bilder. Er sah die weite Halle des Erstgeschlüpften. Der Dunkle lag in Drachengestalt auf seinem flachen Thron. Er war verletzt. Plötzlich hob er das Haupt. Eine Elfe betrat die Halle. Mit festem Schritt eilte sie dem Thron entgegen. Über den Rücken geschnallt trug sie Todbringer und ein tätowierter Drachenschweif wand sich um den linken Arm der Kriegerin.