Aarons Erinnerungen mahnten ihn ab. Die Erinnerungen all der Unsterblichen, die vor ihm geherrscht hatten, konnte er inzwischen fast so leicht abrufen wie seine eigenen. Ja, er hatte sogar manchmal die Befürchtung, dass sie sich zu einem einzigen großen Durcheinander vermengen würden und er eines Tages nicht mehr klar wissen würde, wer er einmal gewesen war. Sehnsüchtig blickte Artax zu den Wolken hinab. Sein Verstand sagte ihm ganz klar, was mit ihm geschehen würde, wenn er seinem Wunsch nachgab. Er wusste auch, dass die Springsucht die häufigste Todesursache unter Luftschiffern war. Noch vor dem Flammentod. Und dennoch konnte er nicht auf die Wolken hinabblicken, ohne davon zu träumen, auf ihnen zu schreiten.
»Ich könnte deine Träume wahr werden lassen.«
Artax fuhr erschrocken herum. Dicht hinter ihm stand der Devanthar, der lautlos die Glaskuppel betreten hatte. Oder war er aus dem Nichts erschienen? Artax vermochte ihm nicht ins Antlitz zu blicken.
»Wovon träumst du noch?«
»Kannst du nicht ohnehin in meinen Gedanken lesen?«, entgegnete Artax mit einem Anflug von Trotz in der Stimme.
»Es ist etwas anderes, wenn Träume ausgesprochen werden. Damit haben sie die erste Schwelle genommen. Sie sind ein wenig greifbarer geworden. Ich muss mich entscheiden, ob du das Zeug hast, ein Unsterblicher zu sein. Dir ist klar, was dir für eine Gnade zuteilgeworden ist?«
»Mir ist inzwischen klar, dass mir keine Gnade zuteilgeworden ist«, sagte er und suchte nun doch den Blick des Devanthar. Die bernsteinfarbenen Löwenaugen schienen bis in sein Innerstes zu blicken.
»Wünschst du dir Erlösung? Ich habe jemanden gefunden, der ungefähr deine Gestalt hat. Wenn du so freundlich wärst, deine Kleider abzulegen, dann muss ich nicht …«
»Ich will das Königreich verändern. Von Grund auf!«, platzte Artax heraus.
»Oh, ein Reformer. In dieser Richtung hatte Aaron nur sehr wenig Ehrgeiz. Seine größten Reformen hat er innerhalb seines Harems durchgeführt.«
Artax nickte beklommen. Er kannte all diese Eskapaden so gut, als seien es seine eigenen gewesen. »Als Erstes werde ich diese Elfe im Weltenmund bestatten.«
»Das wird dir den Zorn von mindestens zwei Unsterblichen einbringen. Dort werden Könige und Helden auf ihren letzten Flug geschickt.«
»Ich weiß nicht, welchen Rang sie unter ihresgleichen hatte. Aber eine Heldin war sie ganz gewiss. Sie hat ganz allein dieses riesige Schiff angegriffen.«
»Das könnte man auch so deuten, dass sie eine Verrückte war«, entgegnete der Devanthar in einem Tonfall, dem man nicht entnehmen konnte, ob er es ernst meinte oder scherzte. »Im Übrigen war sie deine Mörderin.«
»Ich sehe es eher so, dass sie meine Wiedergeburt ermöglichte. Ich hege keinen Groll gegen sie.«
Die Lefzen des Löwenhäuptigen hoben sich. Das war kein Lächeln! »Der Bauer, der zum Philosophen wurde.«
»Aaron hatte gute Lehrer.« Artax senkte demütig sein Haupt. »Sein Kopf war voller Wissen, das er nicht nutzte. Mir quellen die Gedanken über, wenn ich nach diesen Schätzen greife. Du weißt, dass meine Weisheit auf gestohlenem Wissen gründet. Ich bin nur ein Unwürdiger, der …«
»Lippenbekenntnisse!«, fauchte der Devanthar. »Aaron kniete vor mir, wenn wir alleine waren. Und auch in der Öffentlichkeit vergaß er nie, mir Ehre zu erweisen. Es ist bereits aufgefallen, dass sich dies geändert hat.«
»Brauchst du einen starken Unsterblichen oder einen, der bei jeder Gelegenheit vor dir das Knie beugt? Wann bin ich dir ein besserer Diener? Wenn ich von meinem Volk bewundert werde oder wenn ich mich wie alle anderen vor dir im Staub winde? Sag es mir! Ich weiß es nicht. Mein Kopf ist voller fremder Gedanken und schon jetzt, nach so wenigen Tagen, beginnen sie sich mit meinen eigenen Erinnerungen zu mischen. Aaron wollte dir gegenüber immer stark sein, aber er hatte das Herz einer Maus. Ich habe die Priesterschaft immer verachtet. Ich halte nichts von Männern, die ihre Schwielen nicht an den Händen tragen, sondern bestenfalls auf der Zunge. Welche Aufgabe hat ein Unsterblicher? Sag es mir! Ich weiß es nicht!«
»Du bist das Bindeglied zwischen Menschen und meinesgleichen. Du erfüllst die Pflichten, die sich nicht mit unserer Göttlichkeit vereinbaren lassen. Die Unsterblichen sind unsere Diener. Für Menschen aber seid ihr unerreichbar. Fast Halbgötter. Ihr seid die Mittler der Menschen und unsere Statthalter.«
»Und? Sollte ein Statthalter und Halbgott wie ein kriecherischer Lakai auftreten? Oder sollte er den Stolz des Gottes, der ihn erwählt hat, verkörpern?«
Der Löwenhäuptige bleckte die Zähne. »Für einen Mann, der faselnde Priester verachtet, hast du eine flinke Zunge.«
»Aaron wurde in Rhetorik geschult, kaum dass er zu reden gelernt hatte«, stellte Artax fest.
»Was kaum Früchte getragen hat.« Der Devanthar sah ihn lauernd an, und Artax musste an eine Katze denken, die mit einer Maus spielte. Diese verfluchte Stimme in seinem Kopf. Ihre Worte waren wie ein langsam schleichendes Gift.
Die Augen des Devanthar verengten sich. Angst griff nach Artax’ Herz. Hätte er nur den Mund gehalten! War er denn von allen guten Geistern verlassen, mit einem Gott zu streiten? Das war nicht er! Er ging verloren in der Flut der Erinnerungen von Aaron, das musste es sein. Aber, gestand er sich selbst ein, auch Aaron hätte es nicht gewagt, sich mit dem Devanthar anzulegen. Wurde er vielleicht verrückt, weil die Erinnerungen und Sehnsüchte zweier Menschen nun in seinem Kopf zusammengepfercht waren? Er sollte sich mäßigen. Am besten, er …
»Du bist interessant«, unterbrach der Devanthar seine Gedankenflut. »Wahrlich eine Abwechslung. Ich rate dir, sei so interessant, dass mein Gefallen an dir nicht ermüdet, und achte zugleich darauf, dass deine vorlaute Zunge mich nicht erzürnt. Du wirst mich brauchen. Du wirst dir sehr schnell Feinde machen. Du wirst es schaffen, dass dein Leben gefährdet ist, obwohl du ein Unsterblicher bist. Und das ist wahrlich nicht leicht.« Er lächelte auf eine fremdartige, bedrohlich wirkende Art, und Artax dachte schon, die Unterhaltung wäre beendet, als das Lächeln aus den Zügen des Devanthar verschwand.
»Es könnte sein, dass der Weltenmund auch zu deinem Grab wird«, sagte er.
ER
ER drehte den Dolch in den Händen und bewunderte die Waffe, die ihm die überlebende Elfe gebracht hatte. Lyvianne. Sie hatte es eilig gehabt, fortzukommen. Wahrscheinlich hütete sie irgendwo wieder ein Kind, das sie am Ende doch nur ermorden würde. Sie war verrückt geworden! Aber IHM war das egal. Sie war eine sehr gute Dienerin und hatte IHN noch nie enttäuscht. Anders als Talinwyn. Sie hätte es weit bringen können, wenn sie weniger ehrgeizig und nicht so unbeherrscht gewesen wäre. Was scherte IHN der Verlust einer jungen Drachenelfe, solange ER Lyvianne hatte?
Kurz dachte ER daran, dass Gonvalon noch nicht zurückgekehrt war, um von seiner Mission zu berichten. War geschehen, was ER vorhergesehen hatte? War Ailyn tot?
Sie war ein Ärgernis, denn sie war mächtig geworden und diente nicht IHM. Die aufsässige kleine Elfe aus Carandamon hingegen war nicht von Bedeutung. Für IHN war es immer nur darum gegangen, Ailyn loszuwerden. Sicher würde Gonvalon bald kommen. Der Elf hatte IHN ebenfalls noch nie enttäuscht!
ER dachte an die Zukunft. An SEINE großen Pläne. Dann blickte ER wieder auf den Dolch. Deutlich spürte ER die dunkle, andersartige Magie, die in das Metall gewoben war – eine Waffe, die zu dem Zweck erschaffen worden war, ewiges Leben zu nehmen.
Die Klinge des Dolchs war von einem unregelmäßigen blaugrauen Wellenmuster überzogen. ER kannte die Schmiedetechnik, mit der man solchen Stahl erschuf – biegsam und doch stark. Fast unzerbrechlich. Doch war mehr in diesem Muster gefangen, als sich auf den ersten Blick erschloss. Diese Wellen bündelten die Magie, die alles durchdrang. Die Waffe würde niemals geschliffen werden müssen, und es gab nichts, was ihr zu widerstehen vermochte. Ein Stoß mit diesem Dolch war tödlich, ganz gleich, ob man sich mit bestem Stahl oder Magie wappnete oder mit beidem zugleich.