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Nandalee schluckte. Sie hatte sich noch immer nicht an die Gefühle gewöhnt, die sie durchfuhren, wenn der Drache mit ihr sprach. Sie hasste es, dass er sie stets mit Dame Nandalee ansprach oder – noch schlimmer – mit »mein Kind«. Sie war weder Dame noch Kind und hatte auch nicht die geringste Lust, so benannt zu werden. Und dann immer diese seltsame Sprache! War es denn so schwierig, einfach kurz und knapp zu sagen, worum es ging? Klare Anweisungen, knappe Befehle, manchmal ein wenig Prahlerei – das war ihre Sprache, die Sprache der Jäger. Nicht diese Menge nutzloser Wortgebilde, von denen jedes einzelne sie zudem von innen in Flammen zu setzen schien! Aber wann immer der Drache zu ihr sprach, vergaß sie für einen Augenblick ihren Zorn. Die Gefühle, die seine Stimme in ihr auslösten, brannten alles andere nieder. Sie waren die einzige Illusion von Wärme in dieser Eiseskälte, an der sie langsam zugrunde ging. Dennoch schwieg sie. Nicht allein aus Trotz, sondern auch, weil sie ihre Sippe verloren hatte, den Mittelpunkt ihres Lebens. Weil sie einem Alben, dem Sänger, nahe gekommen war und dieser sie zurückgewiesen hatte. Weil sie nun hier halb erfroren in der Höhle eines Drachen kauerte und ihr Leben sich so schnell und so grundlegend verändert hatte, dass sie völlig orientierungslos war. Was sie jetzt wollte? Sie wusste es nicht mehr. Sie hatte nichts mehr, wofür sie noch leben sollte, und niemanden, der um sie trauern würde, wenn sie starb. Um was also hätte sie den Drachen bitten sollen? Vielleicht, so überlegte sie, war es das Beste, ihre Seele freizulassen. Sich für eine neue Wiedergeburt zu öffnen.

Der Drache erhob sich und kam auf sie zu. Seine Krallen kratzten mit klackenden Lauten über den Höhlenboden. Eine der Elfen, die zu schweben vermochte, öffnete überrascht die Augen und landete mit einem unsanften Plumps auf dem Höhlenboden.

Nun, da bin ich also. Ihr habt mir Euren Willen aufgezwungen. Ihr habt einen Drachen besiegt, kleine Tochter. War es das, wonach Euch dürstete?

Daran hatte sie bislang nicht gedacht. Einen Drachen zu besiegen war unmöglich und wäre ihr niemals in den Sinn gekommen. Seine Nähe machte ihr Angst. Er könnte sie jederzeit unter seinem schlangenhaften Leib zerdrücken, war in allem übermächtig. Körperlich, aber auch mit seinen geistigen Fähigkeiten. Vielleicht belog er sie, um sie in Sicherheit zu wiegen, und konnte sehr wohl in ihren Gedanken lesen? Überraschenderweise roch er angenehm. Aber vielleicht war auch das ein Zauber? Blendwerk!

Sie wusste fast nichts über Drachen. Sie waren weise und allmächtig. Undurchschaubar und launisch. Manche fraßen Albenkinder. Sie waren maßlos in ihrem Zorn und in ihrer Freundschaft. All das wusste sie aus Märchen. Sie war nie einem Drachen begegnet und wenn Gonvalon sie nicht mitten in der Höhle dieses Ungeheuers, das sich nachts für eine Fledermaus hielt, abgesetzt hätte, dann wäre sie bis ans Ende aller Tage jedem Drachen aus dem Weg gegangen. Elfen und Drachen passten nicht zueinander, fand sie, obwohl die Sippenlosen das ganz anders sahen und sich den Himmelsschlangen verschrieben.

Auch sie war jetzt sippenlos. Der Gedanke war ihr immer noch fremd. Sie sah den Meister zweifelnd an. Zu einer Drachenfreundin machte sie dieser Umstand nicht! Die Ältesten der Drachen, die Himmelsschlangen, waren die erstgeborenen Kinder der Alben. Ihre Auserwählten. Ihre Statthalter in Albenmark. War dieser weiße Drache eine Himmelsschlange?

Werdet Ihr mir gestatten, Euch zu berühren, meine Dame? Ich möchte Euch wärmen. Und ich möchte Euch etwas zeigen. Nichts weniger als die Welt, so wie sie wirklich ist. Eine Welt, die sich vor den meisten Geschöpfen Albenmarks verbirgt.

Wärme! Sie würde leben! Aber was war der Preis? Was würde er ihr zeigen?

Sie blickte zum Abgrund am Rand der Höhle. Falls sie sich entschied, ihr Leben zu beenden, bedurfte es nur nur weniger Schritte.

»Du darfst mich berühren«, sagte sie zähneklappernd. Sie wollte leben. Und, ja, sie war neugierig, was er ihr zeigen würde.

Er fixierte sie mit seinen himmelblauen Augen und hob eine seiner Vordergliedmaßen. Sie waren kurz, waren weder Pranke noch Pfote, und endeten in etwas, das fast an Hände erinnerte – mit kleinen weißen Schuppen besetzt und auf der Innenseite von ledriger Haut überzogen. Feingliedrige Hände, wenngleich sie erschreckend groß waren und dolchlange Krallen besaßen.

Nandalee war überrascht, wie sanft die Berührung des Drachen war. Er legte die Spitze einer seiner Krallen auf ihre Stirn. Sie war warm, und binnen eines Augenblicks fiel alle Kälte von ihr ab. Wärme durchdrang sie ganz und gar, bis tief in ihre Knochen. Sie schloss die Augen und gab sich ihr hin. Mit der Wärme kam die Müdigkeit. Sie hatte nicht geschlafen, seit Gonvalon sie hierhergebracht hatte.

Würdet Ihr bitte für einen Moment die Augen öffnen, Dame Nandalee? Ich möchte Euch das verborgene Albenmark zeigen.

Schläfrig gab sie nach. Und was sie sah, nahm alle Müdigkeit von ihr. Die Welt erstrahlte. Jede Farbe schien klarer zu sein. Und alles war von einem Gespinst feiner, leuchtender Fäden durchwoben. Verwundert sah Nandalee an sich herab. Auch sie war von diesem Licht durchdrungen.

Versteht Ihr nun, warum man von Zauberwebern spricht? In allem, was uns umgibt, ist Magie. Nur wenigen ist dies bewusst und selbst von denen, die sich diese Kräfte zunutze machen, haben nur einige Auserwählte jemals gesehen, was Ihr nun seht. Zauberei bedeutet, eins zu werden mit diesem Netz. Ihr müsst es fühlen, auch wenn Ihr es nicht seht. Ihr verknüpft einige Fäden neu und schon verändert sich etwas. Es wird wärmer oder kälter. Eine Wunde hört auf zu bluten. Etwas Körperliches verändert seine Form.

Aber unsere Änderungen haben meist keinen Bestand. Dieses verborgene Werk der Alben hat die Eigenart, sich selbst zu heilen, wenn wir ungeschickt sind und etwas zerstören. Ihre Welt auf Dauer zu verändern ist schwer.

Das Ziel unserer Schöpfer war nicht weniger als Vollkommenheit. Und was schon vollkommen ist, widersetzt sich Veränderung. Deshalb sind nur die allermächtigsten Zauber, die wir wirken, von Dauer. Es sei denn, unsere Magie versetzt etwas wieder in seinen ursprünglichen Zustand, wie zum Beispiel wenn wir heilen. Betrachtet aufmerksam, was ich Euch offenbart habe, Dame Nandalee. Zu sehen ist der erste Schritt, um zu verstehen.

Nandalee war überwältigt und erschrocken zugleich. Ihr Leib war von einer Aura aus Licht umgeben. Die dünnen Lichtfäden um sie herum waren mit anderen verbunden. Einige sogar mit dem Drachen.

Euer Wille, aber auch einige besondere Worte der Macht vermögen den Fluss der Magie zu verändern. Aber Ihr solltet vorsichtig sein. Die Magie ist keine Kraft, die man leichtfertig nutzen sollte. Fehler können tödlich enden. Von zehn Elfen, die voller Hoffnung zu mir kommen, verlassen mich nur sechs oder sieben, um in die Blaue oder Weiße Halle zu gehen. Und nur ein oder zwei von ihnen werden am Ende zu Drachenelfen. Ihr seht, ein langer und gefahrvoller Weg liegt vor Euch, denn selbst unter den Drachenelfen sterben jene, die einen Fehler machen, wenn sie nach der Macht der verborgenen Welt greifen.

Er zog seine Krallenhand zurück und augenblicklich verschwand das Netzwerk aus glühenden Linien. Nur die Wärme, die er ihr geschenkt hatte, blieb.

Nandalee war erleichtert, die Dinge wieder so zu sehen, wie es ihr vertraut war. Und doch verspürte sie auch einen Anflug von Wehmut. Sie war neugierig auf die verborgene Welt, wollte ihre Geheimnisse ergründen. »Warum ist es so gefährlich, Zauber zu weben?«, fragte sie.

Weil Ihr mit jedem der Zauber, den Ihr webt, in die Ordnung der Welt eingreift. Wer etwas ordnet, wünscht sich meist, das, was er ordnet, möge Bestand haben. Es gibt ein Netz magischer Pfade. Das Goldene Netz. Die Alben haben sie erschaffen, damit sie beschritten werden. Wirkt Ihr einen Zauber, der der natürlichen Ordnung nicht zuwiderläuft, ist dies meist gefahrloser. So ist es auch mit dem Zauber, der die Wärme bei Eurem Körper behält und Euch vor eisigen Winden und großer Kälte behütet. Wollt Ihr Euch aber gegen Regen schützen, verändert Ihr den Fall Tausender und Abertausender von Regentropfen – und das ist bereits deutlich gefährlicher. Und dann gibt es natürlich die Möglichkeit, dass Ihr etwas falsch versteht. Dass Ihr einen Fehler macht und an Kräfte rührt, die ganz anders wirken, als Ihr erwartet habt. Ihr würdet einem Kleinkind kein scharfes Messer in die Wiege legen, nicht wahr, Dame Nandalee? Aber genauso ist es, wenn Euch beim Zauberweben ein Fehler unterläuft. Die Macht, die Euch wie ein schützender Mantel umgeben sollte, kann unversehens zum Strick werden, der Euch richtet. Ihr müsst Magie mit Bedacht einsetzen, mein Kind.