»Wirst du mein Verborgenes Auge öffnen?«
Die Schuppen des Drachen knisterten leise, als er sich bewegte. Ich werde Euch helfen, aber das müsst Ihr allein vollbringen. Es liegt nur bei Euch. Damit es gelingen kann, müsst Ihr Euch zunächst einmal selbst kennen. Nur wenn Ihr wisst, wer Ihr seid, könnt Ihr auch Euren Platz in der Welt finden. Und damit sei es genug für heute. Ihr solltet Euch zurückziehen, etwas essen und dann ausruhen. An der Rückwand der Höhle findet Ihr einen Eingang zu verschiedenen Felsnischen und Kammern. Die erste dieser Kammern ist Euch vorbehalten.
Mit diesen Worten nahm er den Schutzbann von ihr, der die Kälte ferngehalten hatte. Wie ein eisiger Wasserguss überströmte sie sie. Schlotternd erhob sich Nandalee. Nachdem ihr warm gewesen war, wirkte die Kälte nun noch schneidender. »Wirst du mir mein Amulett zurückgeben?«
Nein. Denn Ihr seid hier, um es zu überwinden. Es zeugt von Eurer Schwäche. In Euch schlummert die Kraft, um Euch ohne fremde Hilfe zu schützen. Diese Kraft will ich erwecken, und das Amulett steht Euch dabei im Weg. Benutzt Ihr es, werdet Ihr die Kunst des Zauberwebens niemals erlernen. Vor dem Erfolg liegt die Mühsal. Dies ist der einzige Weg.
Nandalee dachte einen Augenblick, dass sie lieber schwach und dafür wieder warm wäre. Zumindest für diesen Tag. Zugleich war sie froh, dass der Drache nicht in ihren Gedanken lesen konnte. Ohne um das Amulett zu bitten, ging sie, aber sie schwor sich, es mitzunehmen, wenn sie diese Höhle verlassen würde. Es war ein Geschenk des Sängers. Eines Alben! Sie würde es niemals einfach aufgeben.
Sturm
Artax stand am Bug seines fliegenden Palastes und blickte gedankenverloren auf die Wolkentürme am Horizont. Er achtete jetzt darauf, mehr im Blickfeld seiner Mannschaft zu bleiben und sich nicht in die Einsamkeit der Glaskuppel zurückzuziehen. Drei Tage noch, dann würden sie den Weltenmund erreichen. Dem Ratschlag des Devanthar zum Trotz war er fest entschlossen, die tote Elfe mit allen Ehren den Lüften zu übergeben. Die Balsamierer hatten ihren Leib deshalb in eine bauchige Vorratsamphore mit Branntwein gesteckt, damit er nicht von Gewürm zerfressen wurde.
Artax massierte seine Stirn mit den Fingerkuppen. Manchmal war er für einige Augenblicke orientierungslos. Auch fiel es ihm immer schwerer, zwischen seinen eigenen Erinnerungen und denen Aarons zu unterscheiden. Oft hatte er das Gefühl, in einem verrückten Traum gefangen zu sein, der einfach nicht enden wollte. Er hatte bereits erwogen, sich einen anderen, dritten Namen auszuwählen, damit er nicht immer wieder mit dem Namen des Störenfriedes in seinem Kopf angesprochen wurde. Er war ein Unsterblicher! Wer sollte ihm verbieten, sich einen neuen Namen zu erwählen? Aber Artax hatte das unbestimmte Gefühl, dass so ein Schritt nicht gut aufgenommen werden würde. Man beobachtete ihn. Er wusste, dass sie über ihn tuschelten. In vielen Blicken, die ihm begegneten, vermeinte er so etwas wie frommen Schrecken zu entdecken. Warum, so hätte er gern gefragt, freut ihr euch nicht, dass ich anders geworden bin? Menschlicher übrigens. Ich interessiere mich für euch! Ist das denn gar nichts wert? Wollt ihr wirklich einen Herrscher, dem ihr vollkommen gleichgültig seid?
Aber natürlich fragte er nicht. Er musste auf der Hut sein.
Den Namen ändern zu wollen ist wahrlich die Idee eines bäurischen Einfaltspinsels. Wir glauben übrigens, dass auch du an dem Tag sterben wirst, an dem du die Elfe dem Himmel übergibst.
Artax fragte sich, ob dieser Geist mit ihm leiden würde, wenn er starb. Konnte ein Geist Schmerzen empfinden? Er dachte an Gajane, die Dorfirre, wie sie sie stets genannt hatten. Auch sie hatte Stimmen gehört. Artax bezweifelte, dass auch sie sich mit verstorbenen Unsterblichen hatte herumschlagen müssen, aber er hätte sie gern gefragt, wie sie mit den Stimmen zu leben gelernt hatte. Die seinigen waren hartnäckig, aber manchmal schwiegen sie auch einen halben Tag lang. Dann genoss Artax seinen Frieden und beobachtete die Wolken am Horizont – so wie jetzt. Sie veränderten ihre Form, liefen am oberen Rand auseinander, sodass sie bald an riesige Trichter erinnerten. Frischer Wind fegte über die Decks. Ihm war kalt. Ein blauviolettes Licht sprang, als wäre es lebendig, auf den Messingkopf des Flaggenmastes am Bug und hüllte die Spitze des Mastes in eine wabernde Aura. Artax standen die Haare zu Berge und seine Haut kribbelte, als liefen tausend durstige Fliegen darüber, die nach seinem Schweiß gierten.
Hinter ihm erklang der Rufer. Das große, klagende Horn kündete von drohender Gefahr.
Artax fuhr herum. Auch um die anderen Mastspitzen, die waagerecht aus dem Rumpf ragten, spielte jenes leuchtend violette Licht. An manchen Stellen kroch es gar das Tauwerk entlang. Von überall her schallten jetzt ängstliche Rufe, Maate trillerten auf ihren Pfeifen, laute Kommandos ertönten und Wolkenschiffer kletterten in der Takelage, wo sie sich mühten, die großen Segel einzuholen, die nun launisch im böigen, unsteten Wind knatterten.
Das seltsame Leuchten umgab auch den Helm eines Kriegers, der hinter den Zinnen des nächsten Geschützturms stand. Fasziniert beobachtete Artax, wie der Mann nach seinem Helm tastete und das Licht für einen Augenblick auf dessen Hand übersprang. Schreiend streckte der Mann die Hand von sich und schüttelte sie, als habe sich darin eine Schlange verbissen.
Artax fuhr sich durch das Haar. Es stand zu Berge und knisterte bei der Berührung. Was für seltsame Zauber diese fremde Welt barg! Warum war das Licht auf ihr Schiff gekommen?
Ein Donnerschlag ließ den Unsterblichen herumfahren. Die Wolken waren nun viel näher gerückt, und aus dem Herzen des vordersten Trichters erhob sich ein sprudelnder weißer Dunstgeysir, der hoch über den Wolkenturm aufstieg. Gleichzeitig wurde der obere Rand des Wolkenbergs immer breiter.
Schritte hasteten über die polierten Holzdecks. Immer eindringlicher wurde der tiefe Ton des Rufers. Artax drehte sich erneut um und beobachtete, was auf dem Schiff geschah. Überall rannten Wolkenschiffer. Sie duckten sich dabei, als erwarteten sie Schläge. Angst stand in die Gesichter der Männer geschrieben, die von ihren Offizieren mit wilden Rufen angetrieben wurden. Sie trugen Taurollen an Deck und streuten Sand. Ein Großteil der Segel war jetzt eingeholt. Verblüfft bemerkte Artax, dass selbst den riesigen Wolkensammler, der ihr Schiff trug, Unruhe ergriffen hatte. Die baumdicken Tentakel, die den hölzernen Rumpf umschlossen, zuckten nervös.
Von überall her strömten jetzt kleinere Wolkensammler herbei und klammerten sich an Decksaufbauten oder verschwanden zwischen den sich windenden Fangarmen. Artax vermochte nie für längere Zeit zu dem Wolkensammler hinaufzublicken. Das Gewühl aus Tentakeln, das der Unterseite des Tiers entspross, beunruhigte ihn. Es erinnerte ihn an ein Schlangennest.
Die Fangarme hatten etliche unterschiedliche Formen. Manche waren mit bis zu tellergroßen weißen Saugnäpfen besetzt. Sie hielten den Rumpf des Palastschiffes. Manchmal überfiel Artax der klamme Gedanke, was wohl geschehen würde, wenn dieses Vieh einfach losließ. Er wusste, dass ein weites Netz aus mit Golddrähten verstärkten Seilen über die Oberseite des Wolkensammlers geworfen war. Hunderte Seile verbanden das Netz mit dem Rumpf. Aber wer vermochte schon zu sagen, ob der Schleim, der an einigen der Tentakel herablief, nicht langsam die Seile zersetzen konnte? Obwohl bereits mehr als dreißig Jahre vergangen waren, seit der erste von ihnen ein Schiff getragen hatte, waren die Eigenarten der Wolkensammler noch immer nur wenig erforscht und niemand konnte den verschiedenen Tentakeln mit Sicherheit ihre Funktionen zuweisen. Die großen Fangarme mit den Saugnäpfen dienten vermutlich dazu, sich an Mammutbäumen oder Felszinnen festzuklammern. Aber es gab auch Tentakel, die kaum dicker als eine Haarsträhne waren und deren Konsistenz an ein zusammengerolltes Blütenblatt erinnerte. Wie die Fühler, die Schneckenaugen trugen, konnten sie sich langsam in sich zusammenziehen. Andere Tentakel wiederum waren aus einem faserigen, roten Fleisch und endeten in einer Form, die an ein Pappelblatt erinnerte, nur dass es so lang wie zwei Männerhände war. Am beunruhigendsten aber fand Artax jene grellroten Schlangenarme, die in einem einzelnen bis zu mannslangen, gekrümmten Zahn endeten. Welchem Zweck sie dienten, war nur allzu deutlich.