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Gonvalon fragte sich, wen der Goldene noch gerufen hatte. Es waren immer zwei, die er schickte. Die Drachen trieben ein hintergründiges Spiel mit ihren Auserwählten. Sie beriefen ihre Vollstrecker stets einzeln, und oft war es so, dass beide nur in Teile ihrer Mission eingeweiht waren. Das säte Misstrauen. Aber Gonvalon war zuversichtlich. Er stand schon sehr lange in Diensten des Goldenen, jener Himmelsschlange, die ihn erwählte, nachdem er seine letzte Prüfung bestanden hatte. Himmelsschlangen – oder auch Regenbogenschlangen –, so nannten sich die Ältesten unter den Drachen, die von sich behaupteten, die ersten Geschöpfe zu sein, die von den Alben erschaffen worden waren. Es war stets nur einer der alten Drachen, der die Missionen benannte, und man wusste nie, ob er sich mit seinen Brüdern einig war oder allein entschieden hatte. Gonvalon war zuversichtlich, dass ihm der bedeutendere Teil der Mission übertragen würde. Er hatte seinen Meister niemals enttäuscht! Die Regenbogenschlange, die ihn zu ihren Krallen gemacht hatte.

Der Elf blickte über die weite Bucht und fragte sich, wer ihn wohl begleiten würde. Auf irgendeinem der unzähligen Türme, die sich über den schwarzen Basalt erhoben, wartete noch jemand, so wie er es tat. Jemand, den er schon lange kannte. Sie waren nur wenige Auserwählte. Von zehn, die berufen wurden, schafften es am Ende nur ein oder zwei, in die Riege der Vertrauten aufzusteigen.

Gonvalon lächelte zynisch. Nein, Vertraute konnte man sie nicht nennen. Drachen vertrauten keinem Elfen. Sie beriefen sie lediglich zu ihren Mördern.

Es war die größte Ehre für einen Drachenelfen, hierher, auf die Klippen über der Jadebucht, gerufen zu werden. Eine Auszeichnung, auf die viele von ihnen jahrzehntelang warten mussten. Die meisten kannten diesen Ort nur aus Erzählungen.

Eine kühle Bö fegte über das Meer. Dunkle Wolken hatten ihre Schattensegel aufgespannt und trieben der Küste entgegen. Zu dieser Jahreszeit kamen sie immer zur Mittagsstunde. Gonvalon flüsterte ein Wort der Macht. Ein Wort, das nicht für Elfenzungen geschaffen schien und ihm nur schwer über die Lippen ging. Es war ihm immer noch fremd, und er artikulierte es überdeutlich. Ein Prickeln lief über seinen Körper. Er hatte gesehen, dass ein solches Wort töten konnte, wenn man einen Fehler machte. Er war Zeuge gewesen, wie Elfen sich in eine lebende Fackel verwandelt hatten oder von innen heraus zerrissen worden waren.

Das Prickeln verflog binnen eines Augenblicks. War ihm der Zauber geglückt? Manchmal dauerte es ein wenig, bis das Unheil kam. Er schauderte. Nie würde er vergessen, was er in der Höhle des Schwebenden Meisters gesehen hatte.

Gonvalon trat an den Rand der Zinnen. Seine Handflächen waren feucht, als er sich auf das kühle Mauerwerk stützte. Er versuchte an etwas anderes zu denken. Er hatte diesen Zauber wirken müssen! Er würde sich lächerlich machen, wenn er gerufen wurde und triefnass vor den Goldenen trat. Das wäre eine Schande, die er nie mehr würde tilgen können. Die Himmelsschlangen erwarteten von ihren Auserwählten, dass sie das Mysterium der Magie meisterten. Dies war die letzte Stufe der Vollkommenheit. Und nichts weniger sollten sie sein. Vollkommen!

Der Regen erreichte die Klippen und ging mit solcher Wucht nieder, als wolle er die schwarzen Türme mit sich hinab auf den Grund des Meeres reißen. Binnen eines einzigen Herzschlags schrumpfte der sichtbare Teil der Welt auf wenige Schritt.

Gonvalon atmete erleichtert aus, drehte seine Hand dicht vor den Augen und streckte sie dann triumphierend dem finsteren Himmel entgegen. Es war geglückt. Der Zauber umfing ihn wie ein unsichtbarer Kokon. Er wurde nicht nass! Andere Zauber zu weben fiel ihm leichter. War es Eitelkeit, lieber sein Leben zu riskieren, als sein Gesicht zu verlieren? War das seine Schwäche?

Er strich sich über die Stirn. Die Antwort lag auf der Hand. Es war schlicht und ergreifend dumm. Und er würde es wieder tun. Das war sein Makel. Er fühlte sich unsicher, musste sich stets beweisen. Konnte es nicht ertragen zu versagen. Nicht einmal in Kleinigkeiten.

Er sollte sich die Zeit nehmen, um in sich zu gehen, wenn dies alles vorbei war. Er musste sich darüber klar werden, ob dies ein Makel war, dem er mit kühlem Verstand beikommen konnte, oder aber ein unveränderlicher Teil seines Charakters. Allerdings war er trotz dieser Schwäche weit gekommen. War dieser Makel am Ende vielleicht das Fundament, auf dem alles, was er erreicht hatte, ruhte?

Eine Stimme berührte sein Innerstes. Sie rief ihn. Gonvalon trat zu der Treppe, über die sich das Wasser in Sturzbächen ins Innere des Turmes ergoss, und stieg mit sicheren Schritten in die Dunkelheit hinab. Bald darauf verschluckten die dicken Mauern bereits das Rauschen des Regens.

Schon beim ersten Treppenabsatz versickerte das Wasser in Abflusslöchern, die in den Steinboden gebohrt waren. Zurück blieb nur eine schwüle Hitze, die umso beklemmender wurde, je tiefer er hinabstieg.

Gonvalon gelangte in einen weiten Kuppelsaal, der unterhalb des Turms in den Fels der Klippen geschlagen war. Honigfarbenes Licht sickerte aus den Barinsteinen, die in kunstvollen Mustern ins Deckengewölbe eingelassen waren. Er hatte jenen Teil des Bauwerks erreicht, der nicht für Geschöpfe wie ihn errichtet worden war. Alles hier war zu groß, war selbst dann noch einschüchternd, wenn man die Pracht der Paläste Arkadiens kannte und die Wunder des Jadegartens gesehen hatte.

Gonvalon ging auf die Rampe zu, die zum dunklen Herzen der Basaltklippen führte. Er atmete jetzt jenen berauschenden Wohlgeruch, der so schwer in Worte zu fassen war. Der Duft erinnerte ein wenig an Sandelholz, nur dass er noch reiner war. Ohne den Hauch von Verfall und Verwesung, der jedem anderen Geruch beigemengt zu sein schien, wenn man einmal einen Drachen gerochen hatte. Vielleicht, so dachte er, war es der Hauch der Unsterblichkeit.

Gonvalon trat auf die Rampe hinaus. Sie war so breit, dass auf ihr wohl sieben Streitwagen ohne Mühe hätten nebeneinander fahren können. Der Boden war spiegelglatt und schlüpfrig unter seinen nassen Ledersohlen, poliert von den Schuppen, die sich hier hinab in den Abgrund unter den Klippen gewunden hatten.

Die Rampe wand sich in enger werdenden Spiralen abwärts, auf ein goldenes Licht am unteren Ende zu. Sie erinnerte an das Innere eines gespaltenen Schneckenhauses. Der Elf spürte die melodische Stimme seines Herrn, obwohl er sie noch nicht hören konnte. Immer, wenn sein Meister zu ihm sprach, waren all seine Sinne berührt. Die Stimme war zugleich tief in seinem Kopf und in seinem Herzen, durchdringend und ergreifend.

Allerdings konnte er die Worte nicht verstehen, denn diesmal waren sie nicht an ihn gerichtet. Jemand anderes war noch vor ihm zum Goldenen bestellt worden. Seine Gefährtin für die bevorstehende Mission? Sein Herz schlug schneller. Der Stachel der Eifersucht plagte ihn. Sonst war immer er es gewesen, der als Erster berufen worden war. Wann man einbestellt wurde, sagte aus, wie wichtig man war. Die Unbedeutendsten, die Handlanger, wurden zuletzt gerufen. War sein Stern im Begriff zu verblassen?

Mit festem Schritt folgte Gonvalon dem Lauf der Spirale dem Licht entgegen. Als er den größten Teil des Weges hinter sich hatte, verstummte die wortlose Stimme und Trauer umfing ihn. Den Regenbogenschlangen lauschen zu dürfen vermittelte das Gefühl, Teil von allem zu sein. Als sei ganz Albenmark ein gewaltiges, vollkommenes Mosaik, bei dem es auf jeden einzelnen Stein im Gefüge ankäme. Aber er wusste, dass manche Steine wichtiger waren als andere.

Zweifel nagte an ihm. Was war geschehen, dass der Goldene ihn nicht mehr zuerst berief? Waren endgültig zu viele seiner Schülerinnen gestorben? Mit wachsender Sorge eilte er weiter. Nur das Geräusch seiner Schritte auf dem schlüpfrigen Grund störte die bedrückende Stille. Gonvalon wurde schmerzlich bewusst, dass er, seit er sich den Drachen verschrieben hatte, ein Sippenloser war. Ausgestoßen aus der Gemeinschaft, in die er geboren worden war. Wer dem Ruf der Himmelsschlangen folgte, der gehörte ihnen ganz und gar.