Wind zerrte mit eisigen Fingern an seinem Umhang, und der Rumpf des Palastschiffes schwenkte langsam gen Osten ab. Halteleinen wurden über die Decks gespannt.
Juba eilte ihm mit einigen Wachen im Gefolge entgegen. In den eisigen Böen, die mittlerweile über das Schiff fegten, wehten ihre Umhänge wie schneeweiße Banner hinter ihnen. Sie gingen vorgebeugt, um dem Wind zu trotzen.
»Erhabener! Ihr müsst unter Deck! Die Stürme hoch in den Wolken sind gefährlich!«
Artax fühlte sich seltsam entrückt, als stünde er nicht wirklich hier, sondern weit entfernt in Sicherheit. Unberührbar für den Sturm und andere Gefahren. Er lachte den Böen entgegen. Begrüßte ihre eisige Berührung und blieb einfach stehen, bis Juba ihn schließlich packte.
»Ihr müsst fort, Erhabener«, schrie der bullige Krieger gegen den Wind an.
Aber Artax war wie gebannt vom Schauspiel der Wolken.
Das Palastschiff hatte an Geschwindigkeit gewonnen und stieg zugleich höher. Es versuchte der Sturmfront auszuweichen, doch es war offensichtlich, dass es höchstens gelingen mochte, dem Zentrum des Unwetters zu entgehen. Da zerriss backbord mit einem scharfen Knall eines der wenigen Segel, die nicht gerefft worden waren, zerfetzte Leinen fegten über Deck und rissen einen Wolkenschiffer über die Reling.
»Bitte, Erhabener!«, drängte Juba. Der Kriegsmeister packte ihn mit beiden Händen und schob ihn langsam vom Bug fort.
Klackend schlug etwas Weißes vor ihnen auf das Deck. Artax hielt es im ersten Moment für einen Stein. Steine, die aus Wolken fielen? Überall entlang des Schiffes erklangen Laute, als dresche man mit einem Stock auf eine leere Amphore ein.
Eis! Einer der Krieger, die Juba begleiteten, schwankte und brach in die Knie. Ein Eisklumpen hatte ihn dicht unter der Helmkante an der Augenbraue verletzt. Blut rann ihm ins Auge. Es waren nur vereinzelte Eisklumpen, die auf das Deck niedergingen. Die Masse wurde vom riesigen Körper des Wolkensammlers, abgehalten. Einige der Himmelsgeschosse waren so groß wie Gänseeier.
Steh nicht herum und gaff wie ein sabbernder Idiot, Bauer! Geh unter Deck! Juba hat recht. Die Wolkenstürme sind eine große Gefahr.
Ein Donnerschlag ließ Artax jäh zusammenzucken. Nicht dass Artax zuvor nie ein Gewitter gesehen hätte. Aber er hatte noch nie ein Gewitter über den Wolken gesehen. Es war furchteinflößend – und es war wunderschön.
Die Krieger seiner Eskorte schirmten ihn mit ihren großen Messingschilden ab. Artax war ohne Rüstung und Maskenhelm über die Decks geschlendert. Er hatte menschlicher aussehen wollen …
»Löst die Umhänge!«, schrie Juba. Der wütende Wind zerrte so heftig an ihnen, dass sich der Stoff wie würgende Hände um die Kehle legte.
Ohne um Erlaubnis zu fragen, öffnete Juba die smaragdbesetzte Brosche von Aarons Umhang und wie ein wild mit den Flügeln schlagender blauer Vogel jagte der Stoff davon. Artax schnappte nach Luft. Die Brosche war ein Vermögen wert! Wahrscheinlich hätte man für den Wert der Smaragde drei Dutzend kräftige Feldsklaven kaufen können.
Der verwundete Krieger aus seiner Eskorte strauchelte. Der Wind drosch mit unglaublicher Kraft auf sie ein. Artax griff nach einem der Seile, die über das Deck gespannt waren. Er streckte die Hand nach dem Gestürzten aus, dem die blanke Angst in den weiten braunen Augen geschrieben stand. Langsam zog er ihn zu sich heran. Jede Faser in seinem Arm war zum Zerreißen gespannt. Die Männer waren gekommen, um ihn zu beschützen. Er hatte sie in Gefahr gebracht. Er hätte frühzeitig die Glaskuppel am Bug verlassen sollen.
»Danke«, stieß der Krieger hervor und küsste ihm den Saum der Tunika. »Danke, Erhabener!«
Solche unterwürfigen Gesten waren ihm zuwider. Er hatte noch vor niemandem gekniet. Außer beim Melken vor einer Kuh oder Ziege, verstand sich. Ein kräftiger Händedruck, ein Schulterklopfen, ein aufrechter Blick, das war seine Sprache. Er hätte diese Sprache auch gern in seinem Palast eingeführt. Eines der vielen Dinge, die er nicht tun konnte. So viel zu Freiheit und Macht und goldenen Käfigen.
Artax zog den Krieger auf die Beine. Plötzlich begann der Mann zu schwanken. Seine Augenlider flatterten. Benommen lehnte sich der Krieger an Artax’ Schulter. Warmes Blut durchtränkte die Tunika des Unsterblichen.
»Los, weiter!«, schrie Juba gegen den Sturmwind an. »Und werft die verdammten Schilde weg! Die zerren euch noch in den Abgrund.«
Die Männer gehorchten und ließen die breiten Lederschlaufen von den Armen gleiten. Augenblicklich packte der Sturm die Bronzeschilde. Wie Diskusscheiben sahen sie aus, als sie über das Deck davongetragen wurden.
»Los, glotzt nicht«, trieb Juba sie an. »Vorwärts! Zu dem Turm dort vorne.« Der Kriegsmeister schob Artax an sich vorbei. Er sollte als Erster gehen. Als Erster gerettet sein.
Zug um Zug kämpfte sich die kleine Gruppe am Seil entlang auf den vorderen Geschützturm zu. Der Verwundete hing wie leblos zwischen Artax’ Armen und behinderte ihn dabei, voranzukommen. Einen Moment war er versucht, den Mann einfach aufs Deck sinken zu lassen. Artax wusste, dass Aaron so gehandelt hätte, und der Egoismus des Unsterblichen stachelte ihn zu trotzigem Widerstand an. Aaron war tot! Und er würde anders handeln!
Wie nicht anders zu erwarten, war Aaron anderer Meinung.
Auch du bist bald tot, du Wurm. Du kannst gar nicht ermessen, was es heißt, unsterblich zu sein. Dein Leben ist nur ein Zwischenspiel. Der Devanthar selbst hat es gesagt. Sobald du ihn nicht mehr amüsierst, stirbst du. Lass doch einfach jetzt schon das Seil los! Quäl dich nicht. Komm schon, Bauer, lass alle Lasten und Zweifel hinter dir. Es hat doch keinen Sinn!
Artax starrte auf das raue Seil und fragte sich, ob der letzte Aaron eigentlich auch von seinen Stimmen ununterbrochen zu Selbstmord und Selbstaufgabe getrieben worden war.
Du kannst es wohl kaum erwarten, bis ich zu dir komme und wir uns den ganzen lieben langen Tag streiten können, was?, dachte er.
Aaron schwieg.
Na also, geht doch! Es war, wie einen störrischen Hund abzurichten. Man musste gelegentlich zeigen, wer lauter bellen konnte.
Du glaubst, du könntest mich dressieren? Siehst du nicht, dass du es bist, der nach meiner Flöte tanzt und verzweifelt versucht, von allen für mich gehalten zu werden?
Verdrossen, seinen Quälgeist nicht zum Schweigen gebracht zu haben, zog Artax sich weiter am Seil entlang. Es tat gut, den groben Hanf an den Händen zu spüren. Es erinnerte ihn an die Arbeit im Dorf. Er biss die Zähne zusammen und verschloss sich gegen Aarons Einflüsterungen. Hand um Hand kämpfte er sich voran, den halb ohnmächtigen Krieger noch immer vor der Brust. Seine Beine stemmten sich gegen das sandbestreute Deck. Einen Herzschlag lang erschien es ihm, als habe sich der Himmel Nangogs mit dem Flüsterer in seinem Kopf verbündet, um ihn in den Abgrund zu stürzen.
Mit letzter Kraft erreichte Artax schließlich den Turm. Das ganze riesige Schiff erbebte mittlerweile unter der Wucht der Böen und der Hagelschlag zerfetzte das Blätterwerk des verwunschenen Baumes. Ein Donnerschlag übertönte einen Herzschlag lang jeden anderen Laut. Gleißendes Licht, so hell, dass es alle Farben trank, bis es nur noch Schwarz und Weiß gab, überflutete das Wolkenschiff.