Wir würden hierbleiben. Wenn du anders sein willst, dann geh hinaus. Wir haben gewonnen, ganz gleich, was du tust. Bleibst du hier, verrätst du deine Ideale. Gehst du hinaus, stirbst du, und ein anderer wird uns seinen Körper schenken. Diesmal wird es gewiss kein Bauer sein, sondern ein Adeliger, der den Preis des Herrschens kennt.
Geh nur. Du bist edel und gut. Wir sehen deinem Scheitern mit Freude entgegen.
Alle in der Turmkammer starrten ihn an und Artax wünschte, er könnte diese Stimme aus seinem Kopf reißen, so wie man sich Blutegel vom Leib riss. Hinter jedem Wort dieses Quälgeistes standen Lug und Betrug. Sollte er sich davon beeinflussen lassen? Nein, es gab nur eine richtige Entscheidung. Er musste auf sein Herz hören. Vielleicht, so dachte er, war das sogar der Weg, die Stimme eines Tages endgültig zu besiegen. Einen neuen Aaron zu schaffen, der nicht nur feige daherredete, sondern stattdessen handelte. Ein Bauer in Gestalt eines Herrschers, der mit der Macht, die ihm gegeben war, vielleicht sein Reich zum Guten verändern konnte.
»Du hast recht, Wolkenschiffer. Sterblichen steht es nicht zu, die Wolkengeister herauszufordern«, entgegnete er mit fester Stimme, die doch kaum das Toben des Windes übertönte. »Doch mir steht es nicht zu, zu bleiben. Ihr alle seid meinem Willen gefolgt, als ihr nach Nangog kamt. Deshalb werde ich nicht tatenlos zusehen, wie mir ein Sturmgeist auch nur einen meiner Männer entreißt. Denn ich bin Aaron, der Unsterbliche.«
Der Schiffer sah ihn erschrocken an. Die anderen warfen sich auf die Knie. Sie hatten ihn bisher nicht erkannt, denn ohne den prächtigen Maskenhelm und die majestätische Rüstung sah er aus wie ein gewöhnlicher Deckoffizier.
»Haltet das Seil fest und zieht mich wieder herein, wenn ich euch ein Zeichen gebe!« Mit diesen Worten schob er den Riegel zurück und rammte die Tür auf. Obwohl es sich anfühlte, als würde sich auf der anderen Seite ein Wasserbüffel gegen das Holz stemmen, war sie von innen doch viel leichter zu öffnen.
So schneidend war der Wind, dass Artax den Kopf senken musste, um atmen zu können. Von den Männern, die zum Bug geeilt waren, um ihn zu holen, und die ihn mit ihren Schilden gegen den Hagelschlag geschützt hatten, war nur noch Juba geblieben. Die übrigen musste der Wind wie Herbstlaub mit sich gerissen haben. Der Kriegsmeister hielt sich noch immer an einem der Seile fest, die über Deck gespannt waren. Der raue Hanf hatte seine Handflächen aufgeschürft und eine Spur dunkler Flecken zeugte davon, wie der Wind ihn Zoll um Zoll dem Abgrund entgegenzerrte. Das Tau, an dem Artax sich zum Turm vorgekämpft hatte, war verschwunden; zerfetzte Seile, schlugen wie riesige Peitschenschnüre über das Deck.
Juba blickte zu ihm auf und schüttelte den Kopf, doch Artax war entschlossen, sich nicht von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Er ging auf die Knie, um der Gewalt des Sturms weniger Angriffsfläche zu bieten, und kroch dem Kriegsmeister entgegen. Es war offensichtlich, dass dieser am Ende seiner Kräfte war. Die Muskelstränge seiner Arme zitterten, als seien Aale unter seiner Haut gefangen.
Mit einem Knall zerbarst neben Artax ein Hagelkorn auf dem Deck. Selbst die Splitter waren noch so groß wie Saubohnen. Wenn ihn so eine Eiskugel … Nicht daran denken. Der Himmel spie nur noch vereinzelt Hagelkörner aus. Jedes hämmerte laut wie ein Paukenschlag auf Deck. Ihr Lärmen erinnerte an den langsamen Takt eines Totenmarsches, begleitet vom schaurigen Pfeifen des Sturms in der Takelage.
Artax kam mit einem Ruck zum Halt und fuhr augenblicklich herum zum Geschützturm. Das Seil war straff gespannt. Versuchten sie, ihn zurückzuziehen?
Der bärtige Wolkenschiffer winkte ihm zu und hieb dann mit der Handkante auf die offene Handfläche der Linken. Artax verstand nicht. Die Tür des Geschützturms stand nun sperrangelweit offen und wurde vom Sturm gegen die Wand gepresst.
»Mehr Seil!«, rief er dem Bärtigen zu. Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen, doch der Wolkenschiffer schien zu verstehen. Etwas ging im Halbdunkel des Turmes vor sich. Endlich gab das Seil ein wenig nach und Artax kroch ein Stück vorwärts. Ein Eisklumpen zerplatzte wenige Zoll neben seiner linken Hand auf dem Deck. Splitter spritzten ihm ins Gesicht. Er blinzelte. Juba würde sich nicht mehr lange halten können. Artax streckte sich, aber es war aussichtslos. Ihn trennte immer noch knapp ein Schritt von seinem Gefährten. Wieder stockte das Seil, und Artax fuhr erneut herum. Im Turm hatten sie einen der schweren Holzhebel, mit denen die Geschütze gespannt wurden, quer im Türrahmen verkeilt. Dort war keine Spanne Seil mehr zu gewinnen. Das war das Ende!
Verzweifelt blickte Artax zu Juba. Nur noch ein Schritt, und es wäre geschafft. Das konnte er nicht zulassen! In einer fließenden Bewegung griff er nach dem Knoten an seiner Hüfte. Seine Finger waren taub vor Kälte. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Seil zu lösen und es sich um das Handgelenk zu schlingen. Das musste genügen.
Der Sturmwind schien den Atem anzuhalten und das Getöse verstummte. Artax streckte sich. Endlich! Es gelang ihm, Jubas Hand zu packen. Er zog den Feldherrn zu sich heran. Lachend und weinend zugleich fielen sie einander in die Arme.
Eine Bö fegte über sie hinweg, und das Schiff stieg senkrecht in die Höhe.
Ein Hagelkorn schlug auf Artax’ Hand, traf mit der Wucht eines Keulenhiebs. Seine Finger öffneten sich in einem kurzen Reflex. Voller Panik versuchte er die Hand wieder zu schließen, aber sie war wie taub und gehorchte seinem Willen nicht mehr. Als wollte es ihn verspotten, entwand das Seil sich in quälender Langsamkeit seiner Hand – der verfluchten Hand, die ihm nicht mehr gehorchen wollte.
So fühlt es sich an, wenn man von einem Augenblick zum anderen nicht mehr Herr seines Körpers ist.
Aber Artax achtete nicht darauf. Das Seil fiel zu Boden und schlingerte im Wind hin und her. Juba hatte noch gar nicht bemerkt, was geschehen war. Eine neuerliche Bö drückte sie auf das Deck. Das große Schiff hatte nun eine leichte Neigung nach Backbord, als sei es in der Vertäuung, die es an den Wolkensammler fesselte, ein wenig verrutscht. Es waren nur wenige Grad, aber es war genug, dass sie beide auf dem nassen Holz zu rutschen begannen. Verdammt! Artax’ Hand war immer noch gefühllos. Hilflos glitt er über das Deck. Der Geschützturm verschwand hinter Dunstschleiern und die Welt um ihn herum schrumpfte auf fünf Schritt, begrenzt von wogenden Wolkenschleiern.
Juba hielt sich immer noch an ihn geklammert. »Wird der Devanthar uns beide retten?«, schrie er. In seiner Stimme lag Todesangst, aber Artax war nicht bereit, aufzugeben. »Wir werden uns retten«, entgegnete er trotzig.
Eine neue Bö ergriff das Schiff, das Deck neigte sich noch ein wenig mehr. Raureif und Eis überzogen die Planken. Es war unmöglich, Halt zu finden. Sie rutschten weiter. Als ritten launische Geister mit den Böen, blieb jedes der über das Deck peitschenden Seile gerade außerhalb ihrer Reichweite.
Das sind keine Geister, Bauer. Das ist der Devanthar. Du hättest besser im Turm bleiben sollen. Wer sein Schicksal herausfordert, findet früh den Tod.
Genau, dachte Artax. Muht die Kuh nachts im Getreide, war ein Loch im Zaun der Weide. Etwas anderes als platte Sprüche fiel ihm auch nicht ein, dem verblichenen Unsterblichen. Ein dunkler Schemen schälte sich aus dem Wolkendunst. Die Reling! Weite Löcher klafften dort, wo der zersplitterte Mast wie ein Rammbock gegen den Schiffsrumpf geschmettert war. Verzweifelt warf Artax den Kopf hin und her, während sie immer weiter rutschten. Ihre letzte Hoffnung war, eines der zerfetzten Seile aus der Takelage zu packen zu bekommen, die gewiss jenseits der zerschmetterten Reling im Wind tanzten.
Eine Bö trieb sie über den Rand des Decks hinaus. Als er fiel, dachte Artax an die Sturmgeister, von denen der bärtige Wolkenschiffer gesprochen hatte. Da waren keine Takelagenreste oder Seile mehr. Es gab nur noch den grauen Dunst der Wolken. Juba schrie, Artax aber blieb ruhig. Einmal mehr fühlte er sich, als würde er all das aus weiter Distanz betrachten. Er war nur ein Bauer. Das war nicht seine Welt gewesen. Gleich würde er aus seinem Alptraum erwachen.