Der Schnee zerbarst und spie eine riesige graue Gestalt aus. Ein wuchtiger Keulenhieb zerschmetterte den Schädel des Hirsches. Eine Geweihgabel flog bis weit auf die Lichtung hinaus. Nandalee konnte das Bersten der Knochen so deutlich hören, als stünde sie dicht daneben. Der Hirsch wurde gegen die Kiefer geschleudert, unter deren ausladenden Ästen er sich hinweggeduckt hatte. Blutfontänen sprenkelten den Schnee. Auch als das Leben den Hirsch bereits verlassen hatte, zuckten seine Läufe, schien der Leib noch immer flüchten zu wollen. Die schlanken Läufe zerwühlten den verharschten Schnee.
Mit einem kehligen Triumphschrei reckte der Trollkrieger seine Keule dem grauen Winterhimmel entgegen. Der Hüne war mit schneeverkrusteten Mammutfellen behängt. Er hatte sich neben dem Wildwechsel einschneien lassen und gewartet, dachte Nandalee. Sicherlich viele Stunden lang.
Sie beobachtete, wie der Troll neben dem Hirsch niederkniete, den Kadaver mit einem Steinmesser aufschnitt und die Rippen mit einem weiteren Keulenhieb zerschmetterte. Seine riesigen Hände tauchten in das zerschundene Fleisch. Er brach den Brustkorb auf und riss das Herz heraus. Es dampfte in der kalten Luft.
Nandalee dachte an die anmutige Bewegung, mit der der Hirsch sich geduckt hatte. In den letzten Tagen hätte sie mehr als ein Dutzend Mal Gelegenheit gehabt, auf den Sechzehnender zu schießen, und es sich stets versagt. Sie schuldete ihm einen vollkommenen Schuss. Er hatte nicht verdient, so zerfetzt zu werden. Aber den Trollen waren solche Gedanken fremd.
Kalte Wut packte Nandalee. Sie hakte erneut den Pfeil mit den Eulenfedern ein und hob den Bogen. Nandalee wusste, dass man einen Troll nicht mit einem Pfeil töten konnte. Nicht auf diese Entfernung. Er war mehr als drei Schritt hoch, ein Ungeheuer aus Fleisch und Knochen. Auf diese Distanz würde der Pfeil zu viel Durchschlagskraft verlieren, um den Troll ernstlich zu verletzen. Selbst wenn sie ihn am Kopf traf, würde die dreikantige Bronzespitze wirkungslos am dicken Schädelknochen abprallen. Sie durfte gar nicht hier sein, so nah beim Königsstein, dachte sie. Trotzig hob sie den Bogen. Noch in der Bewegung spannte sie die Sehne. Ohne sich damit aufzuhalten zu zielen, ließ sie den Pfeil fliegen. Und mit ihm wich all ihr Zorn. Nur Trauer und Müdigkeit blieben.
Keine halbe Stunde
Galar hielt eine weitere Flasche an die klaffende Wunde und achtete sorgsam darauf, dass ihm das Blut nicht auf die Finger spritzte. Es hieß, Drachenblut könne jegliches Fleisch zersetzen. Allerdings gab es auch Geschichten, dass Drachenblut unverwundbar machen könne. Er würde herausfinden, was stimmte. Aber nicht jetzt!
»Mach schneller!«, drängte Hornbori. »Wir müssen hier verschwinden! «
»Der ist ja noch nicht mal kalt«, entgegnete Galar ruhig und bedauerte, Hornbori mitgenommen zu haben. »So schnell werden sie nicht kommen.«
»Aber wir haben kurze Beine. Wir sollten weit fort sein, wenn sie kommen. Jetzt mach schon!«
»Das ist nur eine Silberschwinge. Den wird so schnell schon niemand vermissen.« Galar verschloss die Phiole mit einem passend geschliffenen Kristall und schob sie vorsichtig in eine der Lederschlaufen im Inneren der mit breiten Eisenbändern beschlagenen Kiste. Kurz suchte er zwischen den Werkzeugen nach der Stahlsäge. »Hier, nimm das!«, sagte Galar, doch Hornbori glotzte ihn nur an. Er hätte ihn wirklich nicht mitnehmen sollen!
»Was soll ich damit?«
Galar musste sich beherrschen, um nicht ausfällig zu werden. »Sägen natürlich.« Er deutete auf die Drachenschnauze. »Hol so viele Zähne heraus, wie du kannst.«
»Aber …«
»Mach!«
Hornbori wandte sich ab. Er war ein Bild von einem Zwerg mit einem beneidenswert dichten Bart. Sogar aus seinen großen Nasenlöchern sprossen üppige Haarbüschel und fügten sich in seinen wulstigen schwarzen Schnauzbart. Die Locken des nachtfarbenen Haupthaars schimmerten leicht bläulich, der Bart reichte ihm bis zum breiten Gürtel hinab. Er war stark, hatte gute Zähne, konnte saufen wie ein Loch und hatte eine eiserne Verdauung. Kurz und gut, er war ein Bild von einem Zwerg und sah aus wie ein Held. Nur dass er leider kein Held war. Die Drachenjagd war entschieden zu viel für diesen ängstlichen Wicht.
Galar nahm den Löffel aus dem Kasten und die große Silberdose. Kurz begutachtete er Hornboris Arbeit. Er sägte schief! Trottel. Und dauernd blickte er zum Himmel hinauf.
Galar verkniff sich einen weiteren Tadel. Er stemmte seinen Löffel unter das Augenlid der Silberschwinge und hebelte den Griff zurück. Mit einem schmatzenden Geräusch quoll das Auge hervor. Galar durchtrennte das dünne rote Fädchen, an dem es herabhing, und fing das fallende Auge mit der Silberdose auf. In aller Ruhe kniete sich der Zwerg neben seine Kiste, füllte Branntwein in die Dose, bis das Auge ganz bedeckt war, und verstaute dann seinen Schatz. Jetzt brauchte er noch Schuppen und, wenn die Zeit blieb, ein paar Knochensplitter.
Galar begann mit einer Zange Schuppen zu zupfen. Die Mistdinger saßen ärgerlich fest. In diesem Punkt war er schlecht vorbereitet. Nein, nicht nur in diesem … Er hätte mehr Männer gebraucht. Immer wieder hatte er sich den Mund fusselig geredet. Über ein Jahr hatten sie diese Jagd vorbereitet und jetzt blieb nicht einmal eine halbe Stunde, um die Beute, so gut es ging, auszuschlachten. Er hätte viel mehr Männer gebraucht! Und nicht solche wie Hornbori.
»Hier!« Sein Gefährte warf ihm den schief abgesägten Zahn vor die Füße. »Das ist keine Arbeit für Helden. Ich sollte etwas anderes machen.«
»Nimm dir Hammer und Meißel und hack ein paar der Krallen ab.« Galar sagte das in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er geneigt war, etwas von Hornbori abzuhacken, falls der es riskierte zu widersprechen.
Galar war sich nicht ganz sicher, was er mit Drachenkrallen anfangen sollte. Im Zweifelsfall konnte man sie für extravagante Dolchgriffe verwenden.
»Drache! Drei Meilen Südsüdwest«, rief Nyr vom Steilhang über ihnen. » Wir sind hier oben fast fertig. Du solltest dich beeilen! «
»Ich bin auch fertig«, sagte Hornbori, ohne auch nur eine Drachenkralle anzurühren.
Galar fluchte. Nicht einmal die geplante halbe Stunde hatte er gehabt. »Hol die Äste. Wir müssen den Kadaver abdecken.«
Diesmal gehorchte Hornbori ohne Widerspruch. Hastig packte Galar seine Kiste, dann half er seinem Gefährten. Bald war der Drachenleib unter Kiefernästen und Farnwedeln verschwunden. Das würde für ein paar Stunden helfen. Wenn sie viel Glück hatten, vielleicht sogar für einen Tag. Bis der Kadaver zu stinken begann.
Die beiden Zwerge beeilten sich, in den Schutz der Bäume zu gelangen. Sie huschten von Schatten zu Schatten. Bald trafen sie auf Nyr und seine Geschützmannschaft. Sie hatten die riesige Armbrust, die Nyr liebevoll Drachenflitsche nannte, in ihre Einzelteile zerlegt. Acht Träger waren notwendig, um die Waffe verschwinden zu lassen. Und dabei hatten sie die größeren Holzteile sogar zurückgelassen. Die waren leicht zu ersetzen. Nicht so der Reflexbogen und das eiserne Räderwerk, mit dem die Waffe gespannt wurde.
»Und? Zufrieden?« Nyr hatte auf ihn gewartet und ging nun an seiner Seite.
Galar zuckte mit den Schultern. »Wir hatten zu wenig Zeit. Über ein Jahr haben wir den Abschuss vorbereitet, und jetzt hatten wir nicht einmal eine halbe Stunde.«
»Beim nächsten Mal werden wir mehr Männer haben. Du hast bewiesen, dass wir uns nicht unter den Bergen verkriechen müssen, sondern auch angreifen können.«
Galar überlegte kurz, ob er widersprechen sollte, ließ es dann aber lieber bleiben. Er war auf Nyr angewiesen. Auch wenn der nicht begriff, was seine eigentlichen Ziele waren. Die Drachen waren der Schlüssel zur Magie. Er wollte sie erforschen und nicht in den Krieg ziehen. Gut, man musste sie vom Himmel schießen, um sie studieren zu können, aber dabei trieben ihn keine Rachegedanken an.