Am anderen Ufer erschienen Trolle, kaum mehr als drei Armlängen entfernt. Ihr blieb nur die zerbrechliche Eistreppe, sonst war ihre Flucht zu Ende.
Die Trolle am gegenüberliegenden Ufer trugen keine Felsbrocken oder andere Wurfgeschosse, aber zwei von ihnen hielten wuchtige, im Feuer gehärtete Holzspeere, beide so dick wie Elfenarme. Ein dritter deutete mit einer steinsplitterbesetzten Keule auf sie und stieß kehlige Laute aus.
Nandalee sprang auf das nächstgelegene Eisplateau. Es knackte und knirschte unter ihrem Gewicht. Mit einem weiten Schritt trat sie auf die tiefer liegende Eisstufe. Sprühwasser machte den Grund schlüpfrig. Sie streckte die Arme und balancierte zur nächsten Stufe. Jede ihrer Bewegungen wurde von drohendem Knirschen begleitet. Der tosende Bach verschlang die meisten Geräusche. Nandalee spürte durch die dünnen Ledersohlen ihrer Stiefel, wie das Eis unter jedem ihrer Schritte arbeitete.
Einer der Trolle rief etwas. Nandalee blickte zurück und sah, wie die Trolle mit den Speeren auf die Eisstufen einstachen. Sie machten gar nicht erst den Versuch, den Rand des Bachbetts zu betreten.
Die anderen Verfolger hatten den Bach nun ebenfalls erreicht. Lautes Geschrei erklang. Offenbar waren die Trolle untereinander in Streit geraten.
Nandalee rutschte in einer Pfütze aus und schlug hart gegen einen Stein. Stechender Schmerz fuhr durch ihr Knie. Ein Speer schlug dicht vor ihr auf das Eis, schlitterte davon und verschwand in den Gischtfontänen des Baches. Eiswasser drang durch die Nähte ihrer Wildlederhose und in die Stiefel. Ihr Knie brannte vor Schmerz, aber sie stemmte sich trotzdem hoch. Da hörte sie ein lautes Krachen über sich – das Eis brach! Erschrocken blickte sie auf und starrte auf die große Eisstufe, die sich von den Felsen löste, auf die darunterliegende Eisterrasse fiel und dort mit einem Getöse zerbarst, das selbst den Lärm des schäumenden Baches übertönte.
Eine Lawine aus splitterndem Eis ergoss sich auf die nächsttiefer gelegene Stufe.
Nandalee hinkte weiter, benutzte ihren Bogen als Krücke. Sie wusste, dass sie nicht entkommen konnte, aber sie würde Widerstand leisten. Bis zum Schluss.
Eisbrocken prasselten rings um sie hernieder. Mahlend und knirschend tanzten sie im dunklen Wasser des Sturzbachs. Die Luft war erfüllt von Eiskristallen. Nandalee fiel. Sie schlitterte dem Wasser entgegen, klammerte sich verzweifelt an eine Wurzel, die aus dem Eis ragte, schwang auf dem Eis liegend herum, rutschte in Deckung hinter einen Felsen und schmiegte sich wimmernd daran. Ihr ganzer Leib schmerzte. Das Eis unter ihr arbeitete. Wasser quoll aus Spalten.
Sie spähte um den Rand des Felsens und blickte zum Ufer. Die Trolle waren ein wenig herabgestiegen. Einer streckte ihr die Hand entgegen. Sie würde sie erreichen können. Und dann?
Es war die Natur, die ihr Antwort gab. Das Eis unter ihr zerbrach, Wasser umfing sie, und der Kälteschock nahm ihr den Atem. Sie wurde mitgerissen, schlug gegen einen Stein. Ihr Kopf wurde unter Wasser gedrückt. Die Kleider waren schwer. Nein, dachte sie. Nein! Aber der wilde Bach zog sie weiter hinab, dem Talgrund entgegen. Sie kämpfte, rang keuchend um Luft. Die scharfkantige Scholle, die auf sie zutrieb, sah sie erst, als sie ihr mit voller Wucht ins Gesicht stieß.
Am Anfang
Am Anfang waren die Alben und die Devanthar eins in ihrem Bestreben. Sie wollten dem Dunkel unzählige Wunder abtrotzen. Dunkelheit war der ursprüngliche Zustand allen Seins. Dann kam die Sprache, denn es waren die Worte der Macht, aus denen alles Weitere erwuchs. Gemeinsam riefen Alben und Devanthar das Licht herbei, in all seinen tausend sprühenden Farben. Und dann erschufen sie die Riesin Nangog. Sie war so gewaltig, dass ihre Faust den Mond umschließen konnte. Nangog war es bestimmt, die Welten zu formen. Ihr Tagwerk war es, Albenmark zu schaffen. Bei Nacht aber diente sie den Devanthar, und ihre Hände gruben die Meere Daias und türmten den Aushub zu himmelragenden Gebirgen. Ihr Schweiß füllte die Ozeane und ihr Atem wurde zum Himmel der Welten. Wie ein Kind mit einem Finger Bilder in den Sand malt, gruben ihre Finger den Lauf von Flüssen.
Es heißt, dass sie ihren Herren ohne Unterlass diente, bei Tag und bei Nacht, sieben Jahre und sieben Tage lang. Dann waren die beiden Welten vollkommen. Aber sie waren wüst und leer. Keine Pflanze wuchs auf den weiten Ebenen. Kein Fisch lebte in den Meeren.
Nun erst begann die Schöpfung von Alben und Devanthar.
Nangog aber, vor Erschöpfung dem Tode nahe, rollte sich zusammen, um zu schlafen. Und Alben und Devanthar sponnen ein Goldenes Netz um die Riesin und woben Zauber, die ihre Glieder banden und ihren Schlaf ewig währen lassen sollten. Dann entschieden sie, dass Nangog künftig keinem von ihnen mehr gehören solle. (…)«
Der blaue Stern
Nandalee beobachtete die Atemwolke über ihrem Mund. Bei jedem Ausatmen wurde sie ein wenig kleiner. Zumindest glaubte sie das.
Sie spürte keinen Schmerz mehr. Nur Kälte. Sie wusste, dass sie aus dem Wasser heraus musste. Sie musste ihre nassen Kleider ausziehen! Aber ihr Wille war gefroren wie das Eis und gehorchte ihr nicht mehr. Es hatte aufgehört zu schneien, doch an der Farbe des Himmels sah sie, dass die Winternacht nur Atem holte. Bald würde erneut Schnee aus dem endlosen Dunkel hinabblasen. Sehr viel Schnee. Wahrscheinlich war sie schon tot, wenn die sanften Flocken ihre Wangen streicheln würden, und mit ein wenig Glück würde der Schnee ihren Leichnam verbergen und die Trolle waren um ihre Beute gebracht. Der Gedanke ließ sie lächeln. Auf gewisse Weise würde sie dann doch noch entkommen. Und sei es nur dem Schicksal, verschlungen zu werden. Wie weit der Bach sie wohl getragen hatte? Irgendwo links von ihr war Licht. Sie sah seinen Widerschein auf dem Schnee, aber sie brachte weder Kraft noch Willen auf, den Kopf zu wenden. Eine einzelne Träne perlte über ihre Wange. Sie war angenehm warm. Im ersten Augenblick zumindest. Schon bevor sie ihren Mundwinkel erreichte, konnte Nandalee sie nicht mehr spüren. Würde sie ins Mondlicht gehen? Hatte sich hier an diesem eisigen Ufer das Schicksal ihrer Seele erfüllt?
Musik erklang irgendwo weit über ihr. Sie erkannte die Melodie. Jemand sang ohne Worte. Es war ein Lied, das ohne Umweg über den Verstand unmittelbar die Seele berührte. Der Blaue Stern. Nur ein einziges Mal hatte sie ihn über den Himmel ziehen sehen. Den Stern des Sängers. Auch damals hatte das Lied sie zu Tränen gerührt. Jetzt gab es ihr die Kraft, den Kopf zu drehen. Der Stern, so dachte sie, sollte das Letzte sein, was sie in ihrem Leben sah. Er erstrahlte in tiefem, dunklem Blau, schien mit dem Wind zu ziehen, dicht unterhalb der Schneewolken. Sieben Zacken von unterschiedlicher Größe fügten sich voller Harmonie zueinander. Von Anbeginn aller Zeiten zog dieser Stern bereits über den Himmel und selbst die Regenbogenschlangen huldigten ihm. Es hieß, einer der Alben wandere mit dem Stern. Einer der Weltenschöpfer. Er war der Sänger, dessen Lied sie nun hörte. Und alle hundert Jahre, so erzählte man sich, erwählte er einen Elfen, um als Krieger in seiner Leibwache zu dienen. Ny Rin aus der Sippe der Wolfszähne war die Erste, die er erwählte. Sie war tollkühn mit ihrem Eissegler über die Rücken der Regenbogenschlangen zum Blauen Stern den Himmel hinaufgestürmt. Ihr Mut und ihre Geschicklichkeit hatten den Sänger so sehr beeindruckt, dass sie bleiben durfte. Es hieß, wer auf seinem Eissegler bis an das Ende eines Regenbogens gelangen könnte, dort, wo die Schwänze der mächtigen Drachen das Eis berührten, der würde es ihr gleichtun.