»Er hat nicht einmal eine Delle geschlagen«, meldete Sturm.
»Tanis«, stammelte Tika. Mehrere Drakonier waren nun nur noch wenige Meter von ihnen entfernt, zwar für einen Augenblick von den Elfenschützen abgelenkt, aber jede Hoffnung auf Rettung schien verloren.
Sestun traf wieder das Schloß.
»Er hat es nur angeschlagen«, sagte Sturm ärgerlich. »Bei dieser Geschwindigkeit werden wir ungefähr in drei Tagen hier raus sein! Was machen denn überhaupt die Elfen? Warum hören sie nicht auf, herumzuschleichen, und greifen endlich an!«
»Wir haben nicht genügend Männer, um diese Truppe anzugreifen!« entgegnete Gilthanas wütend und kroch zum Ritter.
»Sie kommen zu uns, wenn sie können! Sie sind weiter vorn. Sieh, andere flüchten schon.«
Der Elf zeigte auf die zwei Wagen vor ihnen. Die Elfen hatten die Schlösser aufgebrochen, und die Gefangenen rasten wie verrückt in die Wälder, während die Elfen ihnen von den Bäumen Deckung gaben. Aber sobald die Gefangenen in Sicherheit waren, zogen sich die Elfen in die Bäume zurück.
Die Drakonier hatten nicht die Absicht, ihnen in den Elfenwäldern nachzustürmen. Sie waren auf den letzten Gefangenenkäfig und den Wagen mit dem Eigentum der Gefangenen aus. Die Gefährten konnten die Rufe des Drakonierhauptmannes hören. Die Bedeutung war klar: »Tötet die Gefangenen. Teilt die Beute auf.«
Alle konnten erkennen, daß die Drakonier sie lange vor den Elfen erreichen würden. Tanis fluchte vor Enttäuschung. Es schien alles vergeblich zu sein. Er fühlte eine Bewegung neben sich. Der alte Magier Fizban erhob sich.
»Nein, Alter!« Raistlin zog an Fizbans Kleidern. »Bleib in Deckung!«
Ein Pfeil zischte durch die Luft und traf den zerbeulten Hut des alten Mannes. Fizban, der vor sich hin murmelte, schien es nicht zu bemerken. Er stellte im grauen Licht ein wundervolles Ziel dar. Drakonierpfeile surrten wie Wespen um ihn herum und schienen genausowenig Wirkung zu haben, obwohl Fizban leicht verärgert schien, als ein Pfeil den Beutel traf, in dem er gerade wühlte.
»Geh runter!« brüllte Caramon. »Du lenkst sie auf dich!«
Fizban kniete sich einen Moment hin, aber nur, um zu Raistlin zu sprechen. »Sag mal, mein Junge«, sagte er, als ein Pfeil genau da vorbeiflog, wo er gestanden hatte. »Hast du ein bißchen Fledermausguano dabei? Ich habe nichts mehr.«
»Nein, Alter«, flüsterte Raistlin hektisch. »Geh runter!«
»Nein? Schade. Nun, ich denke, dann muß ich’s anders versuchen.« Und er rollte die Ärmel seines Gewandes hoch. Er schloß die Augen, zeigte auf die Käfigtür und begann seltsame Worte zu murmeln.
»Welchen Zauber macht er denn?« fragte Tanis Raistlin. »Verstehst du ihn?«
Der junge Magier hörte aufmerksam zu, seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Plötzlich riß Raistlin seine Augen weit auf. »NEIN!« schrie er und versuchte, am Gewand des alten Magiers zu ziehen, um seine Konzentration zu stören. Aber es war zu spät. Fizban hatte gerade seinen Spruch beendet und zeigte mit dem Finger zum Schloß der hinteren Tür des Käfigs.
»Geht in Deckung!« Raistlin warf sich unter eine Bank. Sestun, der den alten Magier auf die Käfigtür zeigen gesehen hatte – und auf ihn auf der anderen Seite – , fiel flach aufs Gesicht. Drei Drakonier, die die Käfigtür erreicht hatten, konnten gerade noch abbremsen und starrten beunruhigt darauf.
»Was ist los!« schrie Tanis.
»Feuerkugel!« keuchte Raistlin, und in diesem Moment schoß eine gigantische Kugel mit einem gelborangefarbenen Feuer aus den Fingerspitzen des alten Magiers und schlug mit einem explosiven Knall gegen die Käfigtür. Tanis vergrub sein Gesicht in seinen Händen, als die Flammen um ihn zischten und sich bauschten. Eine Hitzewelle überspülte ihn und drang in seine Lungen. Er hörte die Drakonier vor Schmerzen aufschreien und roch verbranntes Reptilienfleisch. Dann strömte Rauch in seine Kehle.
»Die Tür steht in Flammen!« gellte Caramon.
Tanis öffnete die Augen und taumelte auf die Füße. Er erwartete, vom alten Magier nur noch einen Haufen schwarzer Asche zu sehen, so wie die Körper der Drakonier hinter dem Wagen. Aber Fizban stand da und starrte auf die Eisentür und strich voller Abscheu über seinen angesengten Bart. Die Tür war immer noch verschlossen.
»Das hätte aber wirklich klappen müssen«, sagte er.
»Was ist mit dem Schloß?« schrie Tanis und versuchte, durch den Rauch etwas zu erkennen. Die Eisenstangen der Zellentür glühten bereits rot.
»Sie hat sich überhaupt nicht gerührt!« rief Sturm. Er versuchte, die Tür aufzutreten, aber die glühendheißen Stangen verhinderten kräftige Tritte. »Das Schloß ist wohl heiß genug, um es zu brechen!« Er würgte von dem Qualm.
»Sestun!« Tolpans schrille Stimme übertönte die knisternden Flammen. »Versuche es nochmal! Beeil dich!«
Der Gossenzwerg taumelte auf die Füße, schwang die Axt, verfehlte das Schloß, schwang sie wieder und traf dieses Mal. Das überhitzte Metall zersprang, das Schloß gab nach, und die Tür öffnete sich.
»Tanis, hilf uns!« schrie Goldmond, während sie und Flußwind versuchten, den verletzten Theros herauszuziehen.
»Sturm, die anderen!« gellte Tanis, im Rauch hustend. Er stolperte zum vorderen Teil des Wagens, während die anderen bereits aus dem Käfig sprangen. Sturm ergriff Fizban, der immer noch traurig die Tür anstarrte.
»Komm schon, Alter!« schrie er, sein sanftes Handeln stand im Widerspruch zu seinen barschen Worten, als er Fizbans Arm nahm. Caramon, Raistlin und Tika fingen Fizban auf, als er aus dem brennenden Wrack sprang. Tanis und Flußwind empfingen Theros an der Schulter und zogen ihn heraus, Goldmond stolperte hinterher. Sie und Sturm sprangen in dem Moment vom Wagen, als die Decke einstürzte.
»Caramon! Hol unsere Waffen aus dem Versorgungswagen!« schrie Tanis. »Sturm, geh mit ihm. Flint und Tolpan, holt unser Gepäck. Raistlin…«
»Ich werde… hole meine Sachen«, sagte der Magier, im Rauch würgend. »Und meinen Stab. Niemand soll sie berühren.«
»In Ordnung«, sagte Tanis. »Gilthanas…«
»Ich unterstehe nicht deinen Befehlen, Tanthalas«, unterbrach ihn der Elf und rannte in die Wälder, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Bevor Tanis antworten konnte, waren Sturm und Caramon zurück. Caramons Knöchel waren aufgerissen und bluteten. Zwei Drakonier hatten sich an dem Versorgungswagen zu schaffen gemacht.
»Wir müssen verschwinden!« schrie Sturm. »Es kommen immer mehr! Wo ist denn dein Elfenfreund?« fragte er Tanis argwöhnisch.
»Er ist in die Wälder vorausgelaufen«, antwortete Tanis. »Vergiß nicht, er und seine Leute haben uns gerettet.«
»Haben sie?« fragte Sturm, seine Augen verengten sich. »Davon habe ich nichts gemerkt!«
In diesem Moment traten sechs Drakonier aus dem Rauch hervor und hielten beim Anblick der Krieger inne.
»Lauft in die Wälder!« schrie Tanis und bückte sich, um Flußwind beim Tragen von Theros zu helfen. Sie trugen den Schmied, während Caramon und Sturm Seite an Seite ihren Rückzug sicherten. Beide bemerkten sofort, daß die ihnen gegenüberstehenden Kreaturen mit den Drakoniern, gegen die sie zuvor gekämpft hatten, nichts gemeinsam hatten. Ihre Rüstungen und ihre Gesichtsfarbe waren anders, und sie trugen Pfeile und Langschwerter, von denen eine merkwürdige Flüssigkeit tröpfelte. Beide dachten sofort an Geschichten über Drakonier, die sich in Säure verwandelten und deren Knochen explodierten.
Caramon stürmte nach vorn, sein Schwert schwingend und wie ein aufgebrachtes Tier bellend. Zwei der Kreaturen stürzten, bevor sie überhaupt begriffen, wer sie angriff. Sturm begrüßte die anderen vier mit seinem Schwert und schlug einer den Kopf ab. Er sprang auf die anderen zu, aber die hielten sich grinsend zurück; anscheinend warteten sie auf etwas.
Sturm und Caramon sahen sich unbehaglich an. Dann wußten sie Bescheid. Die Körper der erschlagenen Drakonier neben ihnen auf der Straße begannen zu schmelzen. Das Fleisch kochte und zerlief wie Schweinefett in einer Pfanne. Ein gelblicher Dampf bildete sich über ihnen und vermischte sich mit dem Qualm des brennenden Käfigs. Beide Männer würgten, als der gelbe Dampf zu ihnen hochstieg. Ihnen wurde schwindelig, und sie wußten, sie wurden vergiftet.