»Kommt schon! Schnell!« schrie Tanis aus dem Wald.
Die zwei stolperten zurück, flüchteten vor einem Pfeilsturm, als vierzig oder fünfzig Drakonier kreischend vor Zorn um den Käfig herumstürmten. Die Drakonier machten Anstalten, die Verfolgung aufzunehmen, wichen aber zurück, als eine klare Stimme ertönte: »Hai! Ulsain!« und zehn von Gilthanas geführte Elfen aus dem Wald rannten.
»Quen talas uvenelei!« schrie Gilthanas. Caramon und Sturm stolperten an ihm vorbei, und die Elfen deckten ihren Rückzug; dann ergriffen auch sie die Flucht.
»Folgt mir«, sagte Gilthanas den Gefährten in der Umgangssprache. Auf ein Zeichen von Gilthanas hoben vier Elfenkrieger Theros hoch und trugen ihn in den Wald.
Tanis sah zum Käfig zurück. Die Drakonier waren nicht weitergegangen und beäugten argwöhnisch den Wald.
»Beeilt euch!« drängte Gilthanas. »Meine Männer decken euch.«
Elfenstimmen ertönten im Wald, verhöhnten die Drakonier und versuchten, sie in Reichweite der Pfeile zu locken. Die Gefährten sahen sich zögernd an.
»Ich werde den Elfenwald nicht betreten«, sagte Flußwind barsch.
»Es ist schon in Ordnung«, sagte Tanis und legte seine Hand auf Flußwinds Arm. »Du hast mein Versprechen.« Flußwind sah ihn einen Moment lang an, dann tauchte er in den Wald ein, die anderen gingen hinterher. Zuletzt kamen Caramon und Raistlin, die Fizban halfen. Der alte Mann blickte zum Käfig zurück, von dem nur noch ein Haufen Asche und verbogene Eisenstäbe übriggeblieben waren.
»Wunderbarer Zauber. Und hat irgendeiner ein Dankeschön gesagt?« fragte er wehmütig.
Die Elfen führten sie geschwind durch die Wildnis. Ohne ihre Führung wären die Gefährten hoffnungslos verloren gewesen. »Die Drakonier wissen genau, daß sie uns nicht in die Wälder folgen sollten«, sagte Gilthanas und lächelte grimmig. Tanis, der bewaffnete Elfenkrieger hinter den Bäumen verborgen sah, fürchtete kaum eine Verfolgung. Bald verloren sich alle Geräusche des Kampfes.
Ein dicker Laubteppich bedeckte den Boden. Kahle Baumäste knisterten im kalten Morgenwind. Nach der tagelangen Fahrt im Käfig bewegten sich die Gefährten langsam und steif. Gilthanas führte sie zu einer weiten Lichtung, als die Morgensonne den Wald mit ihrem blassen Licht durchbrach.
Auf der Lichtung hatten sich die befreiten Gefangenen versammelt. Tolpan blickte sich eifrig um, dann schüttelte er traurig den Kopf.
»Ich frage mich, was mit Sestun passiert ist«, sagte er zu Tanis. »Ich dachte, ich hätte ihn weglaufen gesehen.«
»Mach dir keine Sorgen.« Der Halb-Elf klopfte ihm auf die Schulter. »Er wird es schon schaffen. Die Elfen lieben zwar die Gossenzwerge nicht, aber sie würden ihn auch nicht töten.«
Tolpan schüttelte den Kopf. Es waren nicht die Elfen, derentwegen er sich sorgte.
Als sie die Lichtung betraten, sahen die Gefährten einen ungewöhnlich hochgewachsenen und breitgebauten Elfen zu den Flüchtlingen sprechen. Seine Stimme war kalt, sein Auftreten ernst.
»Ihr seid nun frei, um zu gehen, soweit man in diesem Land überhaupt frei sein kann. Wir haben Gerüchte gehört, daß das Land südlich von Pax Tarkas nicht unter der Kontrolle des Drachenfürsten steht. Ich schlage darum vor, daß ihr euch in südöstliche Richtung begebt. Marschiert heute so schnell und so weit, wie ihr könnt. Wir geben euch Proviant für eure Reise mit, soviel wir entbehren können. Ansonsten können wir wenig für euch tun.«
Die Flüchtlinge aus Solace, wie gelähmt durch ihre plötzliche Freiheit, sahen sich düster und hilflos um. Sie waren Bauern am Stadtrand von Solace gewesen, die mit ansehen mußten, wie ihre Häuser verbrannt und ihre Ernte von der Armee des Drachenfürsten geraubt wurde. Die meisten von ihnen waren von Solace nie weiter weg gekommen als bis nach Haven. Drachen und Elfen waren Legendenwesen. Jetzt hatten die Kindergeschichten sie eingeholt.
Goldmonds klare blaue Augen blitzten auf. Sie wußte, wie sie sich fühlten. »Schau dir diese Leute an. Ihr ganzes Leben haben sie Solace nie verlassen, und du erzählst ihnen ganz ruhig, sie sollen durch ein Land marschieren, das von feindlichen Armeen überzogen wird…«
»Was soll ich sonst tun, Mensch?« unterbrach der Elf sie. »Soll ich sie selber in den Süden führen? Es reicht, daß wir sie befreit haben. Mein Volk hat seine eigenen Probleme. Ich kann mich nicht auch noch mit den Problemen der Menschen beschäftigen.« Er richtete seine Augen auf die Flüchtlingsgruppe. »Ich warne euch. Die Zeit fließt. Macht euch auf den Weg!«
Goldmond wandte sich an Tanis, um Unterstützung zu suchen, aber er schüttelte nur den Kopf, sein Gesicht war dunkel und betrübt.
Einer der Männer warf den Elfen einen verängstigten Blick zu und stolperte auf den Pfad zu, der sich durch die Wildnis nach Süden schlängelte. Die anderen Männer schulterten grobe Waffen, die Frauen nahmen ihre Kinder, und die Familien wankten davon.
Goldmond ging auf den Elf zu. »Wie kannst du dich so wenig um…«
»Menschen kümmern?« Der Elf blickte sie kühl an. »Es waren Menschen, die die Umwälzung über uns brachten. Sie waren es, die die Götter aufsuchten und in ihrem Stolz die Macht verlangten, die Huma gewährt wurde. Es waren Menschen, die die Götter dazu brachten, sich von uns abzuwenden…«
»Das haben sie nicht!« rief Goldmond. »Die Götter sind unter uns!«
Porthios’ Augen funkelten vor Zorn auf. Er wollte sich gerade umdrehen, als Gilthanas zu seinem Bruder trat und auf ihn in der Elfensprache einredete.
»Was sagen sie?« fragte Flußwind Tanis argwöhnisch.
»Gilthanas erzählt, wie Goldmond Theros geheilt hat«, sagte Tanis langsam. Es war schon sehr viele Jahre her, daß er mehr als einige Worte in der Elfensprache gehört oder gesprochen hatte. Er hatte vergessen, wie schön diese Sprache war, so schön, daß sie ihm in die Seele schnitt und ihn verletzt und blutend zurückließ. Er beobachtete, wie sich Porthios’ Augen ungläubig weiteten.
Dann zeigte Gilthanas auf Tanis. Beide Brüder wandten sich ihm zu, ihre ausdrucksvollen Elfengesichter verhärteten sich. Flußwind warf Tanis einen Blick zu. Tanis hielt mit blassem, aber gefaßtem Blick der Prüfung stand.
»Du bist in das Land deiner Geburt zurückgekehrt, oder?« fragte Flußwind. »Es sieht aber nicht so aus, als wärst du willkommen.«
»Ja«, sagte Tanis bitter, da er verstand, was der Barbar dachte. Er wußte, daß Flußwind sich nicht aus Neugierde in seine persönlichen Angelegenheiten mischte. In vielerlei Hinsicht befanden sie sich nun in größerer Gefahr als bei dem Truppführer.
»Sie werden uns nach Qualinost bringen«, sagte Tanis langsam, die Worte schienen ihm offensichtlich tiefen Schmerz zu bereiten.
»Ich war schon viele Jahre nicht mehr dort. Wie Flint dir bestätigen wird, wurde ich nicht gezwungen wegzugehen, aber nur wenige waren traurig, als ich es dann schließlich tat. Wie ich dir schon einmal sagte, Flußwind – für die Menschen bin ich nur ein halber Elf. Für die Elfen war ich nur ein halber Mensch.«
»Dann laßt uns gehen und mit den anderen in den Süden marschieren«, sagte Flußwind.
»Hier würdest du nie lebend rauskommen«, murmelte Flint.
Tanis nickte. »Schau dich um«, sagte er.
Flußwind blickte um sich und sah Elfenkrieger sich wie Schatten um die Bäume bewegen, ihre braune Kleidung vermischte sich mit den Farben der Wildnis, die ihr Zuhause war. Als die zwei Elfen ihr Gespräch beendet hatten, wandte Porthios seinen Blick von Tanis zu Goldmond.
»Ich habe von meinem Bruder seltsame Geschichten gehört, von denen ich gern mehr wüßte. Darum gewähre ich nun, was die Elfen seit vielen Jahren den Menschen nicht mehr gewährt haben – unsere Gastfreundschaft. Ihr seid unsere geehrten Gäste. Bitte folgt mir.«
Porthios machte eine Geste. Fast zwei Dutzend Elfenkrieger traten aus dem Wald hervor und umzingelten die Gefährten.