Auf einmal wurde ihr klar, daß es mit den Verletzten überhaupt kein Ende nahm und mehr und mehr Menschen auf dem Boden lagen. Verwundert sah sie hoch und bemerkte, daß die Menschen in die Stube taumelten. Frauen halfen ihren Ehemännern. Ehemänner trugen ihre Frauen. Mütter hielten ihre sterbenden Kinder in den Armen.
»Was ist denn los?« fragte Tika eine Wache der Sucher, die hereinstolperte und sich krampfhaft den Arm hielt, der von einem Pfeil getroffen war. Andere schoben sich hinter ihm rein. »Was ist denn los? Warum kommen all diese Leute hierher?«
Der Mann sah sie mit teilnahmslosen, schmerzverzerrten Augen an- »Das ist das einzige Gebäude«, murmelte er. »Alles andere brennt. Alles…«
»Nein!« Tika war gelähmt vor Entsetzen, und ihre Knie zitterten. Im selben Moment fiel der Mann ohnmächtig in ihre Arme, und sie war gezwungen, sich zusammenzureißen. Das letzte, was sie sah, als sie ihn weiter in den Raum zog, war Hederick, der am Eingang stand und mit glasigen Augen auf die brennende Stadt starrte. Tränen liefen über sein rußverschmiertes Gesicht.
»Es ist ein Irrtum«, wimmerte er. »Irgendwie ist da ein Irrtum passiert.«
Das war vor einer Woche gewesen. Zwischenzeitlich hatte sich herausgestellt, daß das Wirtshaus nicht das einzige unzerstörte Gebäude war. Die Drakonier wußten genau, welche Gebäude sie schonen mußten; sie hatten nur jene zerstört, für die sie keine Verwendung hatten. Das Wirtshaus, Theros Eisenfelds Schmiede und der Lebensmittelladen waren unversehrt geblieben. Die Schmiede war wegen der Esse sowieso nicht in einen Baum gebaut worden, und die anderen Gebäude mußten heruntergelassen werden, weil die Drakonier es unbequem fanden, in die Bäume zu steigen.
Lord Verminaard befahl den Drachen, die Gebäude runterzuholen. Nachdem ein Zwischenraum ausgebrannt worden war, ergriff eines der riesigen roten Ungeheuer mit seinen Klauen das Wirtshaus und hob es hoch. Die Drakonier jubelten, als der Drache es nicht gerade sanft auf das versengte Gras setzte. Truppführer Toede, der für die Stadt verantwortlich war, befahl Otik, das Wirtshaus unverzüglich instandzusetzen. Die Drakonier harten eine große Schwäche – den Alkohol. Drei Tage nach der Eroberung von Solace öffnete das Gasthaus wieder.
»Es geht mir schon wieder gut«, sagte Tika zu Otik. Sie trocknete die Augen und putzte sich die Nase. »Seit jener Nacht habe ich nicht mehr geweint«, sagte sie mehr zu sich selbst. Ihre Lippen wurden zu einem dünnen Strich. »Und ich werde nie mehr weinen!« schwor sie sich.
Otik, der nichts verstand, aber erleichtert war, daß Tika sich wieder beruhigt hatte, bevor die Stammkunden kamen, eilte geschäftig hinter die Theke. »Wir öffnen bald«, sagte er und versuchte, fröhlich zu klingen. »Vielleicht haben wir heute gute Gäste.«
»Wie kannst du nur ihr Geld annehmen!« fuhr Tika ihn an.
Otik, der einen weiteren Ausbruch befürchtete, sah sie flehend an. »Ihr Geld ist genauso gut wie jedes andere. In diesen Zeiten sogar besser als das anderer.«
»Pah!« schnaufte Tika. Ihre üppigen roten Locken zitterten, als sie wütend auf ihn zuging. Otik, der ihren Zorn kannte, trat zurück. Aber es half nichts. Er kam nicht davon. Sie bohrte ihren Finger in seinen dicken Bauch. »Wie kannst du über ihre rohen Witze lachen und um sie herumspringen?« fauchte sie. »Ich hasse dieses Pack! Ich hasse ihre lüsternen Blicke und ihre kalten, schuppigen Klauen, die mich berühren! Irgendwann werde ich…«
»Tika, bitte!« bettelte Otik. »Nimm Rücksicht auf mich. Ich bin zu alt, um in den Sklavenminen zu arbeiten! Und du – sie bringen dich morgen weg, wenn du hier nicht arbeitest. Bitte reiß dich zusammen, und sei ein gutes Mädchen!«
Tika biß sich vor Wut und Enttäuschung auf die Lippen. Sie wußte, daß Otik recht hatte. Sie riskierte mehr, als zu den Sklavenkarawanen geschickt zu werden, die fast täglich durch die Stadt zogen – ein zorniger Drakonier tötete schnell und gnadenlos. Gerade als sie darüber nachdachte, wurde die Tür aufgeschlagen, und sechs Drakonierwachen stolzierten herein. Einer von ihnen riß das Schild GESCHLOSSEN von der Tür und warf es in eine Ecke.
»Es ist geöffnet«, sagte die Kreatur und ließ sich in einen Stuhl fallen.
»Ja, natürlich.« Otik grinste schwach. »Tika…«
»Ich gehe schon«, sagte Tika resigniert.
2
Der Fremde. Gefangen
An diesem Abend war das Wirtshaus nicht gut besucht. Die Stammgäste waren jetzt Drakonier, nur gelegentlich kehrten auch Bürger von Solace ein. Normalerweise blieben sie nicht lange, empfanden die Gesellschaft als unangenehm, deren Anblick die schrecklichen Erinnerungen wieder heraufbeschwor.
Eine Gruppe von Hobgoblins, mit wachsamen Blicken auf die Drakonier, und drei einfach gekleidete Menschen aus dem Norden saßen im Schankraum. Ursprünglich stolz, in Lord Verminaards Diensten zu stehen, kämpften sie jetzt nur noch aus reiner Lust am Töten und Plündern. Einige Ortsansässige hatten sich in einer Ecke verkrochen. Hederick, der Theokrat, saß nicht an seinem Stammplatz. Lord Verminaard hatte die Dienste des Obersten Theokraten belohnt, indem er ihn als ersten in die Sklavenminen geschickt hatte.
Vor Einbruch der Dämmerung betrat ein Fremder das Wirtshaus und setzte sich an einen Tisch in einer dunklen Ecke nahe der Tür. Tika konnte nicht viel über ihn sagen – er war in einen Mantel gehüllt und trug eine weit ins Gesicht gezogene Kapuze. Er schien müde und erschöpft zu sein und sank in den Stuhl, als würden seine Beine ihn nicht länger tragen.
»Was möchtet Ihr trinken?« fragte Tika.
Der Mann senkte den Kopf und zog mit einer schlanken Hand die Kapuze an einer Seite etwas tiefer. »Nichts, danke«, sagte er mit einer weichen, akzentuierten Stimme. »Ist es erlaubt, hier zu sitzen und sich auszuruhen? Ich soll hier jemanden treffen.«
»Wie wäre es mit einem Glas Bier, während Ihr wartet?« Tika lächelte.
Der Mann sah hoch, und seine braunen Augen blitzten aus der Kapuze hervor. »Sehr schön«, sagte der Fremde. »Ich habe Durst. Bring mir ein Bier.«
Tika steuerte auf die Theke zu. Als sie das Bier zapfte, hörte sie weitere Gäste das Lokal betreten.
»Ich komme gleich«, rief sie. »Setzt euch irgendwo hin. Ich komme so schnell wie möglich!« Sie blickte über die Schulter zu den Neuankömmlingen und ließ fast den Krug fallen. Tika keuchte, dann riß sie sich zusammen. Laß dir nichts anmerken!
»Setzt euch, Fremde«, sagte sie laut.
Einer von ihnen, ein großer Bursche, wollte gerade etwas sagen. Tika sah ihn düster an und schüttelte den Kopf. Ihre Augen bewegten sich zu den Drakoniern, die mitten im Raum saßen. Ein bärtiger Mann führte die Gruppe an den Drakoniern vorbei, die die Fremden neugierig musterten.
Es waren vier Männer und eine Frau, ein Zwerg und ein Kender. Die Gewänder und Stiefel der Männer waren schlammbedeckt. Einer war ungewöhnlich groß, ein anderer ungewöhnlich breit. Die Frau trug Felle und hatte sich bei dem großen Mann eingehakt. Alle schienen niedergeschlagen und müde zu sein. Einer der Männer hustete und stützte sich schwer auf einen seltsam aussehenden Stab. Sie durchquerten den Raum und setzten sich an einen Tisch am äußersten Ende.
»Noch mehr Flüchtlingsabschaum«, höhnte einer der Drakonier. »Aber sie sehen gesund aus, und Zwerge sollen ja gute Arbeiter sein… Ich frage mich, warum sie noch nicht in den Minen sind?«
»Das werden sie schon, sobald der Truppführer sie gesehen hat.«
»Vielleicht sollten wir jetzt gleich diese Angelegenheit regeln«, sagte ein dritter und blickte finster zu den acht Fremden hinüber.
»Na, ich bin jetzt nicht im Dienst. Sie werden sowieso nicht weit kommen.«
Die anderen lachten und wandten sich wieder ihren Getränken zu.
Tika brachte dem braunäugigen Fremden das Bier, stellte es eilig vor ihm ab und eilte zu den neuen Gästen.
»Was möchtet ihr?« fragte sie kühl.
Der große Bärtige antwortete mit heiserer Stimme. »Bier und etwas zu essen und Wein für ihn.« Dabei nickte er dem Mann zu, der fast ununterbrochen hustete.