»Der Zwerg sagt die Wahrheit«, fügte Gilthanas hinzu. »Vor langer Zeit brach Kith-Kanan das Herz seines Vaters und verließ die uralte Heimat Silvanesti. Er und seine Leute begaben sich zu den wunderschönen Wäldern, die ihnen vom Herrscher von Ergod gemäß der Schriftrolle der Schwertscheide nach Beendigung der Sippenmordkriege zugesprochen worden waren. Seit Kith-Kanans Tod sind schon viele Jahrhunderte vergangen, in denen die Elfen in Qualinost leben. Seine größte Leistung war der Bau von Pax Tarkas. Sie wurde im Geiste einer Freundschaft gebaut, die es auf Krynn nicht mehr gibt, seit es zwischen den Königreichen der Elfen und dem der Zwerge liegt. Es grämt mich, die Festung jetzt zu sehen als Teil einer mächtigen Kriegsmaschine.«
Während Gilthanas sprach, sahen die Gefährten, wie sich das riesige Tor an der Vorderseite von Pax Tarkas öffnete. Eine Armee – lange Reihen von Drakoniern, Hobgoblins und Goblins – marschierte in die Ebene hinaus. Hörnerklang hallte von dem Gipfel der Berge wider. Und von oben wurden sie von einem großen roten Drachen beobachtet. Die Gefährten kauerten sich ins Unterholz. Obwohl der Drache zu weit von ihnen entfernt war, um sie zu sehen, wurden sie doch von der Drachenangst berührt.
»Sie marschieren nach Qualinost«, sagte Gilthanas mit gebrochener Stimme. »Wir müssen in die Festung rein und die Gefangenen befreien. Dann wird Verminaard gezwungen sein, seine Armee zurückzurufen.«
»Du willst nach Pax Tarkas hineinkommen!« keuchte Eben.
»Ja«, antwortete Gilthanas zögernd, anscheinend bereute er, soviel gesagt zu haben.
»Hui!« Eben holte tief Luft. »Ihr habt ganz schön Mut, das muß ich euch lassen. Nun – wie kommen wir rein? Warten, bis die Armee weg ist? Höchstwahrscheinlich werden nur ein paar Wachen am Vordertor stehen. Mit denen werden wir doch schnell fertig, nicht wahr, großer Mann?« Er stieß Caramon an.
»Sicher«, grinste Caramon.
»Das gehört nicht zu unserem Plan«, sagte Gilthanas kühl. Der Elf zeigte auf ein enges, in die Berge führendes Tal, im schwindenden Licht kaum sichtbar. »Das ist unser Weg. Wir werden im Schutz der Dunkelheit eindringen.«
Er erhob sich und ging fort. Tanis eilte ihm nach und holte ihn ein. »Was weißt du über diesen Eben?« fragte der Halb-Elf in der Elfensprache und blickte zu dem Mann zurück, der sich gerade mit Tika unterhielt.
Gilthanas zuckte die Schulter. »Er gehörte zu der Gruppe von Menschen, die mit uns in der Schlucht gekämpft haben. Die Überlebenden wurden nach Solace verschleppt und starben dort. Er konnte wohl entfliehen. Ich ja auch«, sagte Gilthanas mit einem Seitenblick zu Tanis. »Er kommt aus Torweg, wo sein Vater und dessen Vater wiederum wohlhabende Kaufleute waren. Die anderen erzählten mir, wenn er nicht dabei war, daß seine Familie um ihr Vermögen gebracht wurde und er sich seitdem seinen Lebensunterhalt mit dem Schwert verdient.«
»Das dachte ich mir«, sagte Tanis. »Seine Kleider sehen wertvoll aus, obwohl sie mal bessere Tage erlebt haben. Du hast die richtige Entscheidung getroffen, ihn mitzunehmen.«
»Ich wagte nicht, ihn zurückzulassen«, antwortete Gilthanas grimmig. »Einer von uns sollte ein Auge auf ihn haben.«
»Ja.« Tanis fiel ins Schweigen.
»Und auch auf mich, denkst du«, sagte Gilthanas mit angespannter Stimme. »Ich weiß, was die anderen denken – besonders der Ritter. Aber ich schwöre dir, Tanis, ich bin kein Verräter! Ich will nur eines!« Die Augen des Elfen glühten fiebrig im schwindenden Licht. »Ich will diesen Verminaard vernichten. Wenn du ihn nur gesehen hättest, als sein Drache über mein Volk kam… Dafür opfere ich gern mein Leben…« Gilthanas brach abrupt ab.
»Und auch unser Leben?« fragte Tanis. Als Gilthanas ihm sein Gesicht zuwandte, betrachteten seine mandelförmigen Augen Tanis ohne jegliches Gefühl. »Du mußt wissen, Tanthalas, dein Leben bedeutet das…« Er schnippte mit seinen Fingern. »Aber das Leben meines Volkes bedeutet mir alles. Das ist das einzige, was für mich zählt.« Er ging voran, als Sturm sie einholte.
»Tanis«, sagte er. »Der alte Mann hatte recht. Wir werden verfolgt.«
9
Der Verdacht verstärkt sich. Der Sla-Mori
Der enge Pfad verlief steil von den Ebenen nach oben in ein bewaldetes Tal an den Ausläufern des Gebirges. Die abendlichen Schatten wurden immer länger, als sie einem Strom ins Gebirge folgten. Sie waren jedoch erst eine kurze Strecke gewandert, als Gilthanas den Pfad verließ und im Gebüsch verschwand. Die Gefährten hielten und sahen sich fragend an.
»Das ist Wahnsinn«, flüsterte Eben Tanis zu. »In diesem Tal leben Trolle – wer, glaubst du wohl, hat diesen Pfad gemacht?« Der dunkelhaarige Mann nahm Tanis’ Arm mit einer Vertrautheit, die den Halb-Elf aus der Fassung brachte. »Zugegeben, ich bin neu in eurem Kreis, und du hast keinen Grund, mir zu trauen, aber wieviel weißt du über diesen Gilthanas?«
»Ich weiß…«, begann Tanis, aber Eben ignorierte ihn.
»Es gab einige unter uns, die nicht glaubten, daß die Drakonierarmee zufällig auf uns traf, wenn du verstehst, was ich meine. Meine Kameraden und ich hielten uns in den Bergen versteckt und bekämpften von dort aus die Drachenarmeen, nachdem sie Torweg überfallen hatten. In der letzten Woche gesellten sich diese Elfen wie aus dem Nichts zu uns. Sie sagten uns, sie wollten eine der Festungen des Drachenfürsten überfallen und ob wir mitkommen und sie unterstützen würden. Wir sagten, ja sicher, warum nicht!
Während des Marsches wurden wir wirklich nervös. Überall trafen wir auf Drakonierspuren! Aber die Elfen störte es nicht, Gilthanas behauptete sogar, die Spuren wären alt. In jener Nacht schlugen wir ein Lager auf und stellten Wachen auf. Es stellte sich heraus, daß uns das wenig brachte, denn wir wurden erst wenige Sekunden vor dem Angriff der Drakonier gewarnt. Und…« – Eben blickte sich um und trat näher – »während wir versuchten, wach zu werden, nach unseren Waffen zu greifen und diese stinkigen Kreaturen zu bekämpfen, hörte ich die Elfen rufen, als würde jemand vermißt. Und was glaubst du wohl, nach wem gerufen wurde?«
Eben beobachtete Tanis gespannt. Der Halb-Elf runzelte die Stirn und schüttelte irritiert den Kopf.
»Gilthanas!« zischte Eben. »Er war verschwunden! Sie schrien und schrien immer wieder nach ihm – ihrem Anführer!« Der Mann zuckte die Achseln. »Ich erlebte nicht mehr, ob er wieder auftauchte oder nicht. Ich wurde gefangengenommen. Sie brachten uns nach Solace, wo ich entfliehen konnte. Auf alle Fälle würde ich mir lieber zweimal über diesen Elfen Gedanken machen. Er könnte einen guten Grund gehabt haben zu verschwinden, als die Drakonier angriffen, aber…«
»Ich kenne Gilthanas seit langer Zeit«, unterbrach ihn Tanis schroff, aber auch verunsicherter, als er zugeben wollte.
»Dachte nur, du solltest das wissen«, lenkte Eben verständnisvoll lächelnd ein. Er klopfte Tanis auf die Schulter und begab sich wieder zu Tika.
Tanis brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß Caramon und Sturm jedes Wort mitgehört hatten. Beide sagten jedoch nichts, und bevor Tanis mit ihnen reden konnte, erschien Gilthanas plötzlich im Gehölz.
»Es ist nicht sehr weit«, sagte der Elf. »Das Gebüsch lichtet sich weiter vorn, und das Laufen wird einfacher.«
»Ich meine, wir sollten versuchen, durch das Vordertor reinzukommen«, ließ sich Eben hören.
»Ich denke auch so«, sagte Caramon. Der Krieger blickte auf seinen Bruder, der sich unter einem Baum niedergelassen hatte. Goldmond war völlig erschöpft. Und selbst Tolpan ließ müde den Kopf hängen.
»Wir könnten hier übernachten und in der Morgendämmerung durch das Vordertor gehen«, schlug Sturm vor.
»Wir halten uns an den ursprünglichen Plan«, sagte Tanis scharf. »Wir lagern erst, wenn wir den Sla-Mori erreicht haben.«
Dann ergriff Flint das Wort. »Wir könnten doch am Tor läuten und Lord Verminaard bitten, dich hineinzulassen, Sturm Feuerklinge. Ich bin sicher, er wird es liebend gern tun.« Der Zwerg stapfte auf dem Pfad weiter.